Natur

Siehe die ganze Natur, betrachte die große Analogie der Schöpfung: Alles fühlt sich und seinesgleichen, Leben wallet zu Leben. Jede Saite bebt ihren Ton; jede Fiber verwebt sich mit ihrer Gespielin, Tier fühlt mit Tier, warum sollte nicht Mensch mit Menschen fühlen? Nur er ist Bild Gottes, ein Auszug und Verwalter der Schöpfung: also schlafen in ihm tausend Kräfte, Reize und Gefühle; es muss also in ihnen Ordnung herrschen; dass alle aufwachen und angewandt werden können, dass er Sensorium seines Gottes in allem Lebenden der Schöpfung, nach dem Maße es ihm verwandt ist, werde, — Dies edle allgemeine Gefühl wird also eben durch das, was es ist, Erkenntnis, die edelste Kenntnis Gottes und seiner Nebengeschöpfe durch Wirksamkeit und Liebe. Selbstgefühl soll nur die Conditio sine qua non, der Klumpe bleiben, der uns auf der Stelle festhält, nicht Zweck, sondern Mittel. Aber notwendiges Mittel, denn es ist und bleibt wahr, dass wir unsern Nächsten nur wie uns selbst lieben. Sind wir uns untreu, wie werden wir andern treu sein? Im Grad der Tiefe unseres Selbstgefühls liegt auch der Grad des Mitgefühls mit andern; denn nur uns selbst können wir in andere gleichsam hineinfühlen.

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Die Materie ist eine ewige Lüge, d.h. ein Phänomenon von lauter Kräften, geistigen wirksamen Kräften, die in ihrer Existenz bezirkt gehindert sind, und durch positive Kräfte und Bahnen, deren Ursachen außer ihnen liegen, bestimmt werden. Wer weiß, was die Kraft der Schwere, der Union Eins ist? von welchem Grade geistiger Kraft sie für uns das Phänomen sei? Wir sehen indes immer, dass sie nach Stolz, d. i. ewig fortgesetztem Streben und Drücken ihrer Kraft in gerader Linie wirke, und dass der Schöpfer ihr nur nach positiven Regeln eines höhern Plans, eines Ganzen, von dem sie nichts weiß, gewisse äußere Mittelpunkte des Anziehens gesetzt habe, die die Kraft ihres Stolzes, jener geradfortlaufenden Bewegung schwächen, und eben damit einen Sonnenplan voll höherer Weisheit und Güte, Körpern und Substanzen voll tieferen Lebens und Genusses bilden müssen. Die Kontrarietät des Menschen, scheint mir also, in dem ganzen Weltbau verbreitet überall zwei Kräfte, die sich einander entgegengesetzt doch zusammen wirken müssen, und wo nur aus der Kombination und gemäßigten Wirkung beider das höhere Resultat einer weisen Güte, Ordnung, Bildung, Organisation, Leben wird. Alles Leben entspringt auf solche Weise aus Tod, aus dem Tode niedriger Leben, alle Organisation aus Zerstörung und Verwandlung geringerer Kräfte, alles Ganze der Ordnung und des Plans aus Licht und Schatten, aus divergenten, sich einander entgegengesetzten Kräften, wo das höhere positive Gesetz, das beide einschränkt und aufhebt, eben allein Welt, Plan, Ganzes, höheres Wohl, gemeinschaftliche Glückseligkeit beginnet und anstimmt. Mathematik, Physik, Chemie, Physiologie lebender Wesen sind, dünkt mich, hier überall Zeugen.

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Siehe das ganze Weltall von Himmel zu Erde was ist Mittel? was ist Zweck? nicht alles Mittel zu Millionen Zwecken? nicht alles Zweck von Millionen Mitteln? Tausendfach die Kette der allmächtigen allweisen Güte, in- und durcheinander geschlungen; aber jedes Glied in der Kette an seinem Ort Glied hängt an der Kette, und sieht nicht, wo endlich die Kette hange. Jedes fühlt sich im Wahne als Mittelpunkt, fühlt alles im Wahne um sich nur so fern, als es Strahlen auf diesen Punkt, oder Wellen geußt, schöner Wahn! Die große Kreislinie aber aller dieser Wellen, Strahlen und scheinbaren Mittelpunkte wo? wer? wozu?

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Abgrund, worin ich von allen Seiten verloren stehe! sehe ein großes Werk ohne Namen, und überall voll Namen! voll Stimmen und Kräfte! Ich fühle mich nicht an dem Orte, wo die Harmonie aller dieser Stimmen in ein Ohr tönt, aber was ich hier an meinem Orte von verkürztem, verwirrenden Schalle höre, so viel weiß und höre ich gewiss, hat auch etwas Harmonisches! tönt auch zu Lobgesang im Ohre dessen, für den Raum und Zeit nichts sind. Menschenohr, weilet wenige Augenblicke, höret auch nur wenige Töne, oft nur ein verdrießliches Stimmen von Mißtönen; denn es kam dieses Ohr eben zur Zeit des Stimmens und traf unglücklicherweise vielleicht in den Wirbelwind eines Winkels. Der aufgeklärte Mensch der späteren Zeit, Allhörer nicht bloß will er sein, sondern selbst der letzte Summenton aller Töne. Spiegel der Allvergangenheit, und Repräsentant des Zweckes der Komposition in allen Szenen! das altkluge Kind lästert; ei, wenn es vielleicht gar nur Nachhall des letzten übriggebliebenen Sterbelautes wäre, oder ein Teil des Stimmens.

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Protagoras schon nannte den Menschen das Maß des Universums; außer uns haben wir kein anderes uns denkbar. Mit diesem Maße sind wir aber auch reich versehen; das Universum stimmt zu uns, wir stimmen zum Universum. Und was wir in ihm zu empfinden, zu tun, zu leisten haben, ist von der Natur mittelst unserer Natur, wo diese recht angewandt wird, so bestimmt, dass wir fast nicht fehlen können, indem uns nur die Vernachlässigung des Soviels, tantum! irre macht und zu Torheiten oder Tollheiten verleitet. Eine genaue Bemerkung dessen, wie viel weißt du? wie viel kannst, darfst, musst du wissen, haben und anwenden, um dies zu tun, um jenes zu sein oder zu erreichen? Ist der alte Sokratische Unterricht, den nach Jahrhunderten Baco auf die gesamten Wissenschaften anwandte, den im Einzelnen und Stillen jeder bescheidene Liebhaber der Natur befolgte, dem aber desto lauter der ganze Schwärm tönender Worthelden, überspannter Enthusiasten und Bilderkrämer, endlich sämtlicher Transzendentalisten in Abstraktionen, Wünschen und Leidenschaften entgegentrat. Worin kann menschliche Bildung bestehen? worauf muss sie notwendig zurückkommen? Auf Maß. Auf ihm beruhen alle Gesetze der Natur, so wie alle unsere klaren und richtigen Begriffe, unsere Empfindungen des Schönen und Edlen, die Anwendung unserer Kräfte zum Guten, unsere Seligkeit, unser Genuss: Maß allein zieht und erzieht uns; Maß macht, erhält und bildet die Schöpfung.