Humanität

Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts, er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein; denn eine Angelität im Menschen kennen wir nicht; und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Göttliche in unserem Geschlecht ist also Bildung zur Humanität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.

Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung, aber in einem höheren Sinne geben, als man es gewähnet hat? Siehst du diesen Strom fortschwimmen, wie er aus einer kleinen Quelle entsprang, wächst, dort abreißt, hier ansetzt, sich immer schlängelt und weiter und tiefer bohrt — bleibt aber immer Wasser! Strom! Tropfe! immer nur Tropfe, bis er ins Meer stürzt wenn es so mit dem menschlichen Geschlechte wäre? Oder siehst du jenen wachsenden Baum? jenen emporstrebenden Menschen? er muss durch verschiedene Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben aufeinander in Kontinuität! Zwischen jedem sind scheinbare Ruheplätze, Revolutionen, Veränderungen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst! Der Jüngling ist nicht glücklicher, als das unschuldige zufriedene Kind; noch der ruhige Greis unglücklicher, als der heftig strebende Mann; der Pendul schlägt immer mit gleicher Kraft, wenn er am weitesten ausholt und desto schneller strebt, oder wenn er am langsamsten schwanket und sich der Ruhe nähert. Indessen ist es doch ein ewiges Streben! Niemand ist in seinem Alter allein, er bauet auf das Vorige, dieses wird nichts als Grundlage der Zukunft, will nichts als solche sein — so spricht die Analogie in der Natur, das redende Vorbild Gottes in allen Werken! Offenbar so im Menschengeschlechte! Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientalen sein, der Grieche baute auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt — wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwickelung, wenn auch kein einzelnes dabei gewänne! Es geht in das Große! es wird, womit die Hülsengeschichte so sehr prahlt, und wovon sie so wenig zeigt Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! Wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenn gleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Szenen.


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Auch die Fehler der Menschen und der Gesellschaft sind nicht ohne Grund; ihre Wurzeln erstrecken sich sehr weit und verschlingen sich ins Ganze. Wer Fehler nur ohne ihre Gründe sieht, bemerkt nur bald; siehst er sie aber in ihrem Grunde, so verwandelt sich sein Ärger ins zarteste Mitleid. Mitgefühl also ist die größte Arznei jener ätzenden Rauche, die uns zuletzt die Menschheit selbst verleiden möchte. Wie schwach und fehlerhaft diese auch sein möge; wir sind einmal Menschen, vorderhand nichts anderes. Außer ihr kennen wir kein Glück, geschweige dass wir's genießen könnten. All ihr Fehlerhaftes, zur höchsten Summe getrieben, kann uns nichts anderes als Hoffnung und Ergebung (Resignation) lehren oder diese Karikatur der Menschheit macht — wahnsinnig.

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Was in Sitten auf die Gesellschaft am meisten wirkt, ist nicht Lehre und Befehl, sondern Vorbild, Beispiel, Gewohnheit, Mode. Manche Dinge hielt man für unmöglich, bis man sie sah; jede autonomische Gesellschaft war zuerst eine Erscheinung, bis sie ihr Dasein bewährte. So auch die Sitten jeder dieser Gesellschaften; das Schwerste ward ihnen leicht, das Unangenehme zur Lust, das Unmögliche möglich — wodurch? Durch Nacheiferung, durch Gewöhnung. ,,Guter Sitten Stifter!“ ein edler Name! Schweigend durch sie auf die Nachwelt fortwirken, ein hohes Verdienst! Wie Laster und Unarten zur Mode werden können, warum sollte es nicht auch Fleiß, Wohlanständigkeit, Zucht, Urbanität werden? zumal ihre Ausübung selbst sich empfiehlt und fortwährend lohnet. Gute oder schlechte Sitten sind wie die reine oder verpestete Luft; in dieser erstickt man, in jener atmet man frei. Angenehme Sitten kommen entgegen; widrige stoßen sich in jeder Gesellschaft.

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Misslingt das Werk der Vernunft und Tugend von außen, so hat nicht sie, sondern das Zeitalter davon den Schaden. Es wird gelingen, wenn seine Zeit kommt.

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Grenzen- und gesetzlose Gewalt ist die furchtbarste Schwäche.

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Ist die Menschheit überhaupt in einem jetzigen Zustande reiner Vollkommenheit fähig? Gipfel grenzt an Tal. Um edle Spartaner wohnen unmenschlich behandelte Heloten. Der römische Triumphator mit Götterröte gefärbt, ist unsichtbar auch mit Blute getüncht; Raub, Frevel und Wolllüste sind um seinen Wagen; vor ihm her Unterdrückung; Elend und Armut zieht ihm nach. Mangel und Tugend wohnen also auch in diesem Verstände in einer menschlichen Hütte immer beisammen.

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Je weniger Vernunft, desto mehr hat und liebt man Willkür. Ich wollte den Mann kennen lernen, der, welches kleine Geschäft des Lebens es auch sei, solches auf unzählige Arten gleich gut verrichten könnte, und es seiner blinden Wahl überlassen glaubte, welche von diesen Arten er vorziehen wolle. Der schönste und schwerste Zweck des männlichen Lebens ist, von Jugend auf Pflicht zu lernen: solche aber, als ob es nicht Pflicht sei, in jedem Augenblick des Lebens auf die leichteste, beste Weise zu üben und also jedesmal den höchsten Punkt der Kunst, das Gesetz des einzigen Besten, der holden und schönen Notwendigkeit zu erreichen. Diese ist nicht Zwang, nicht Notdurft von innen oder von außen; ob sie gleich einem trägen unerfahrnen, mutwilligen Menschen also dünkt: ihr Joch ist sanft, ihre Last ist leicht, wenn man derselben einmal gewohnt. Wehe dem Manne, der in üblen Gewohnheiten hart ward; wohl aber jedem vernünftigen, tätigen Wesen, dem seine Pflicht und die schönste Art, sie zu üben zur Natur, d. i. zur Notwendigkeit ward. Er hat den Lohn der guten Engel in sich, von denen die Religion sagt, dass sie, im Guten bestätigt, nicht mehr fallen können, noch fallen wollen, weil ihre Pflicht ihnen Natur, weil ihre Tugend ihnen Himmel und Seligkeit ist. Wir wollen uns auch bestreben, meine Freunde, den Innern Lohn dieser seligen Wesen zu genießen: ja warum dürften wir bei ihnen stehen bleiben, da uns allenthalben in der Natur das Vorbild unseres Vaters selbst vorleuchtet, der im Kleinsten und Größten ohne alle schwache Willkür mit der ganzen Schönheit und Güte einer selbständigen Vernunft, Wahrheit und Notwendigkeit handelt.

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Nicht nur was ausgerichtet ward, sondern auch wie es ausgerichtet wurde; die Erweckung des Geistes es auszurichten, ist der Zweck lebendiger Institute.

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Mäßigkeit des sinnlichen Genusses ist ohne Zweifel eine kräftigere Methode zur Philosophie der Humanität, als tausend gelernte künstliche Abstraktionen.

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Unglücklich ist ein künftiger Regent, dem in seiner Jugend der Quell verschlossen oder trübe gemacht wird, der ihm in seiner künftigen, ewig zerstreuenden und ermüdenden Laufbahn doch allein die schönste Erquickung geben kann und muss. Nur durch die Wissenschaften gewinnt ein Regent das Maß seiner selbst, eine Sammlung seiner Gedanken, ein geistiges Organ, die Dinge anzusehen und zu genießen. Ohne Liebe zur Wissenschaft bleibt er ein sinnlicher Mensch, dem bei aller seiner Tätigkeit von außen in entscheidenden Fällen dennoch das innere Auge, das wärmste Herz zu fehlen scheint.

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Mit jedem Jahr des Lebens fällt uns ein beträchtlicher Teil des Flitterstaats nieder, mit dem uns von Kindheit auf, so wie in Handlungen, so auch in Wissenschaften, in Zeitvertreib und Künsten, die Phantasie schmückte. Unglücklich ist, wer lauter falsche Federn und falsche Edelsteine an sich trug, glücklich und dreimal glücklich, wem nur die Wahrheit Schmuck ist und der Quell einer teilnehmenden Empfindung im Herzen quillt. Er fühlt sich erquickt, wenn andere, bloß Menschen von außen, rings um ihn winseln und darben; im allgemeinen Gut, im Fortgange der Menschheit findet er sich gestärkt, seine Brust breiter, sein Dasein größer und freier.

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Wie weit wären wir gelangt, wenn über alle Fehler und Tugenden der Menschen, in Beziehung auf ihre Folgen, nur so klar und unbewunden gesprochen werden könnte, als wir bei uns gedenken. Was die falsche Bescheidenheit oder gar eine demütige Heuchelei hier verschweigt, das entdeckt und übertreibt dort eine kecke Lästerzunge desto ärger. So wird endlich der Sinn der Menschheit verrückt und das moralische Auge geblendet. Alles scheint uns natürlich, nur die Natur des Menschen nicht, deren Weisheit und Torheit mit ihren klaren Folgen unanschaubare Dinge, unaussprechliche Rätsel bleiben sollen. Und doch, welche Natur von außen und innen läge uns näher als die Natur des Menschen?

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Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgeteilt; auf unterschiedlichen Stämmen, nach Klima und Pflege wachsen verschiedene Früchte. Wer vergliche diese untereinander? oder erkennete einem Holzapfel vor der Traube den Preis zu?

Vielmehr wollen wir uns wie der Sultan Soliman freuen, dass auf der bunten Wiese des Erdbodens es so mancherlei Blumen und Völker gibt, dass diesseits und jenseits der Alpen so verschiedene Blüten blühen, so mancherlei Früchte reifen!

Wir wollen uns freuen, dass die große Mutter der Dinge, die Zeit, jetzt diese, jetzt andere Gaben aus ihrem Füllhorn wirft und allmählig die Menschheit von allen Seiten bearbeitet.

Denn es scheint sowohl geistige als physische Notwendigkeit zu sein, dass aus der Menschennatur mit der immer veränderten Zeitfolge alles hervorgelockt werde, was sich aus ihr hervorlocken lässt. Mithin müssen mit der Zeit Kontrarietäten ans Licht kommen, die sich endlich doch auch in Harmonie auflösen.

Offenbar ist's die Anlage der Natur, dass wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lektion gefasst haben: ,,Kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde ; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Besten von allen gebaut werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken“.

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Ausrotten lassen sich die Kriege nicht oder schwerlich; vermindert aber werden sie unwidertreiblich, wenn mein die Ursachen zu ihnen vermindert. Nicht anders als durch Gesetze, durch Statuten der Vernunft, durch anerkannte Verträge zum gesamten Wohl aller Nationen kann dies geschehen; wer sie aufheben oder durchlöchern wollte, würde als ein Gesamtfeind nicht nur der europäischen Republik, sondern der Menschenvernunft behandelt. Denn wer zu unseren Zeiten vor oder nach erhaltenem Rechtsspruch einem Tribunal das Boxen als die beste Auskunft, als das solideste Rechtsmittel antrüge, wie würde er angesehen werden?

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Der Strom der Zeiten fließt sonderbar zwischen seinen Ufern; er schlängelt sich wie alle Ströme, und selbst das große Weltmeer, hie und dort hin in entgegenstehenden Winkeln. Bald ist der Boden für Erkenntnis, bald für Empfindung, und allemal blühen sodann die Pflanzen am besten, die aus dem Naturboden dieses Volkes dieser Zeit sprossen. Zu einer Zeit gaffen die Weisen alle empor, sehen gen Himmel und zählen die Sterne, übrigens nirgends weniger als in ihrem Vaterlande, in ihrer Stadt zu Hause. Bald tut man Kreuzzüge nach dem güldenen Vließ der Toleranz, allgemeinen Religion und Menschenliebe vielleicht eben so abenteuerlich als die Kreuzzieher des heiligen Grabes und des Systems fremder Welten. Dieser arbeitet, das Menschengeschlecht zu jenem Bilde mit goldenem Haupte zu machen, das aber auf Füßen von Ton ruhet: einem andern soll's Ungeheuer, Greif und Sphinx werden. Die Gottheit lässt sie arbeiten und weiß eine Wagschale durch die andere zu lenken: Empfindung durch bessere Kenntnisse, Kenntnis durch Empfindung.

Über wie viele Vorurteile sind wir wirklich hinweg, vor denen eine andere Zeit die Knie beugte! Einige milde Lichtstrahlen aus der edlen Seele göttlicher Menschen zeigte sie zuerst mit Schimmer in Morgendämmerung. Die Finsternis wappnete sich und stritt lange; aber da ging die herrliche Sonne auf, und die dunkle Nacht mußte hinwegrollen. Verzage nicht, lieber Morgenstern, oder ihr schönen einzelnen Strahlen der Morgenröte, ihr macht noch nicht Mittag; aber hinter euch ist die Fackel der Allmacht; unwiderstehlich wird sie ihren Lauf anfangen und enden.

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Wie alles unter dem Monde, so gehet auch der Drang und die Not der Zeiten vorüber, mithin das, was Geistern Bedürfnis und Form gab, was sie in Kampf, Gefahr, Arbeit verflocht, was ihre Verdienste und Taten weckte. Da kommt uns nun so oft federleicht vor, was jenen Schweiß verursachte : was sie als Chaos vorfanden, ist uns entwickelt; warum sie kämpften, darum mögen oder dürfen wir keinen Finger regen und statt, dass wir ihnen nun danken sollten, uns in die Behaglichkeit gesetzt zu haben, verkennen wir ihr Verdienst, und beurteilen sie nach der Leichtigkeit, die wir jetzt haben, ihnen nachzusprechen, nachzulallen, nachzugaukeln.

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Wo Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Je tiefer, reiner, göttlicher unser Erkennen ist, desto reiner, göttlicher und allgemeiner ist auch unser Wirken, mithin desto freier unsere Freiheit. Leuchtet uns aus allem nur Licht Gottes an, wallet uns allenthalben nur Flamme des Schöpfers, so werden wir, im Bilde seiner, Könige aus Sklaven und bekommen, was jener Philosoph suchte, in uns einen Punkt, sie mit allem, was sie hat, zu bewegen. Wir stehen auf höherem Grunde, und mit jedem Dinge auf seinem Grunde, wandeln im großen Sensorium der Schöpfung Gottes, der Flamme alles Denkens und Empfindens, der Liebe.