Das Niederlegen des Kindes

Entbindung auf der Erde. Knien bei der Entbindung. Anfassen der Erde bei der Entbindung

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I. Nach römischem Brauche wurde das neugeborene Kind auf die Erde gelegt, von wo es der Vater aufhob1), um es dadurch anzuerkennen. Betrachtet man den römischen Brauch für sich, so könnte man zunächst glauben, dass diese Anerkennung seitens des Vaters der eigentliche und einzige Zweck der Zeremonie sei. Die Vergleichung mit verwandten Bräuchen bei andern Völkern, bei denen das Niederlegen am Herd, dem Mittelpunkte des häuslichen Kultes, stattfindet, führt darauf, dass es noch eine andere Bewandtnis mit dieser Sitte hatte, und in meinen „Familienfesten der Griechen und Römer“ glaube ich gezeigt zu haben, dass das Kind dadurch unter den Schutz der Hausgötter gestellt wird.2) Albrecht Dieterich, der in seinem trefflichen Buche „Mutter Erde“ (S. 6 ff.) diesen Brauch aufs neue behandelt hat, hält diese Erklärung für richtig, er fügt aber hinzu, sie erschöpfe noch nicht das Verständnis der einzelnen Elemente eines Brauches, der wie die meisten Riten derart nicht aus einem einzigen Momente entstanden zu sein und darum auch nicht aus einem Punkte erklärt zu werden brauche.3) Dieser Satz Dieterichs verdient zunächst prinzipiell Zustimmung, eine Kreuzung von Motiven bei der Entstehung religiöser Riten ist außerordentlich häufig4), und auch in diesem Einzelfalle muss ich Dieterich zustimmen; es ist sehr wahrscheinlich, dass die von ihm angenommene Vorstellung hier hineinspielt.

1) Preller, Röm. Mythologie II, 210. Der technische Ausdruck für das Aufheben durch den Vater war tollere oder suscipere. Samter, Familienfeste der Griechen und Römer S. 62.

2) Samter, Antiker u. moderner Volksbrauch, Beilage der Münchener Allg. Zeitg. 1903, Nr. 116; Familienfeste S. 62 ff. Besonders wichtig sind für die Vergleichung die griechischen Amphidromien (a. a. O. Seite 60).

3) a. a. O. S. 9, 1.

4) Vgl. Samter, Hochzeitsbräuche, Neue Jahrb. XIX (1907), 135.


Dieterich weist darauf hin, dass Augustinus von der Göttin Levana, der Schutzgöttin dieses Aufhebens der Kinder, den Ausdruck braucht, sie hebe die Kinder von der Erde1), er schließt daraus, dass gerade das Legen auf die Erde, nicht bloß auf den Boden, von wesentlicher Bedeutung in dem Brauche sei. Als Beleg für die Richtigkeit dieser Annahme lassen sich vielleicht noch zwei andere Stellen verwerten, die Dieterich nicht erwähnt hat. Sueton erzählt im Leben Neros, dieser sei bei Sonnenaufgang geboren, so dass er fast eher von den Sonnenstrahlen als von der Erde berührt wurde2), und Ovid sagt, wenn er in der Heimat gestorben wäre, so würde die Erde seinen Körper empfangen haben, die von ihm bei der Geburt berührt sei.3) Dieterich führt für die Sitte, gerade auf die Erde zu legen, noch von verschiedenen Völkern Analogien an4), aus denen ebenso wie aus den erwähnten römischen Zeugnissen hervorzugehen scheint, dass in der Tat das Legen auf die Erde bei der Zeremonie wesentlich ist. Zwei deutsche Bräuche seien als besonders bedeutsam und beweiskräftig hier wiedergegeben. In Brieg in Schlesien legt man das neugeborene Kind zuerst auf die bloße Erde5), „damit es stark werde“.6) Besonders interessant sind die Mitteilungen, die eine Marburger Dame Dieterich machte.

1) August, de civitate Dei IV, 11. levat de terra.

2) Sueton. Nero 6. Nero natus est exoriente sole paene ut radiis prius quam terra contingerctur.

3) Ovid. Trist. IV 3, 46.

Et cinis in tumulo positus iacuisset avita
Tactaque nascenti corpus haheret humus.

4) a. a. O. S. 7 S. Vgl. auch die amerikanische Sitte, die Friederici im Globus LXXXIX (1906) S. 60 u. 61 mitteilt: bei den Tupi in Südamerika wird das Neugeborene von der Erde aufgehoben, bei den Azteken wird das neugeborene Kind dreimal auf die Erde gelegt und von da aufgenommen.

5) Drechsler, Sitte, Brauch und Volksglauben in Schlesien I, S. 183, vgl. 197 und II, S. 204.

6) Erklärungen wie die obige begegnen uns häufig bei derartigen Bräuchen, sie haben natürlich keinerlei Gewähr, sondern sind erst zu einer Zeit aufgekommen, als man den wirklichen Sinn des Brauches nicht mehr verstand.


Sie war als Kind kränklich gewesen, und dies hatte man dem Umstand zugeschrieben, dass man sie nach der Geburt nicht auf die Erde niedergelegt habe. Deshalb mußte sie nachträglich unter allerlei magischen Formalitäten auf herbeigeschaffte frische Erde gelegt werden. Über einen in Amerika emporgekommenen und sehr intelligenten Verwandten äußerte eine Marburger Frau: „Ja, der ist auch gleich auf gute Erde gelegt worden.“ Auf die Frage, was das für Erde gewesen sei, erwiderte sie: „Schwarze Walderde vom Ortenberg.“ 1) Ebenso nun wie durch das Niederlegen am Herde eine Weihung an die dort verehrten Hausgötter stattfindet2), sieht Dieterich wohl mit Recht in dem Niederlegen auf die Erde eine Weihung an die Mutter Erde, aus der nach vielfach verbreiteten, von Dieterich zusammengestellten Vorstellungen die Seele des Menschen stammt.3)

1) Dieterich a. a. O. S. 10. Vgl. auch den von H. v. Wlislocki, Aus dem Volksleben der Magyaren S. 4 angeführten Brauch: im Kalotaszeger Bezirk pflegen die Eltern, denen die Kinder rasch weggestorben sind, das neugeborene Kind auf die Erde zu legen und dann die Fläche, wo das Kind gelegen, fingerdick auszugraben und diese Erdschicht in fließendes Wasser zu werfen, damit das Kind am Leben bleibe. In Armenien werden die Kinder häufig aus der Wiege herausgenommen und auf die bloße Erde schlafen gelegt, damit sie Kraft bekommen (Dan, Glaube und Gebräuche der Armenier bei Geburt, Hochzeit und Beerdigung, Zeitschr. f. österr. Volkskunde X [1904] S. 99).

2) Da mit den griechischen Amphidromien, bei denen das Kind am Herde niedergelegt wurde, sich häufig die Namengebung verband, in Rom aber diese am dies lustricus, dem 9., bei Mädchen am 8. Tage nach der Geburt stattfand (Marquardt, Privatleben der Römer** S. 83), so hatte ich in meinen „Familienfesten der Griechen und Römer“ S. 62 es für möglich gehalten, dass in Rom das Niederlegen des Kindes am dies lustricus statttfand. Ich muß diese Vermutung hier berichtigen. Dass das Niederlegen in Rom gleich nach der Geburt geschah, zeigt Sueton, Aug. 5: esse se possessorem ac velut aedituum soli, quod primum D. Augustus nascens attigisset. Das gleiche würde aus der Darstellung des Sarkophages Ann. d. ist. 1868, Tf. Q R hervorgehen, wenn dieser wirklich sicher die Zeremonie des Niederlegens darstellte, wie Konrad Wernicke (Arch. Zeitg. XLIII [1885] S. 221) annahm. Nach der Kopfhaltung des Knaben indes, worauf Eugen Petersen mich hinweist, scheint dieser nicht hingelegt, sondern hingefallen zu sein.

3) Dass die in Ungarn übliche Sitte, das getaufte Kind auf die Erde niederzulegen, „damit es kein Schreihals werde“, eine Weihung an die Mutter Erde darstelle, betont schon Kühlbeck, Der Mythos und Kult der alten Ungarn, Archiv für Religionswissenschaft II, S. 355.


Dieterich hat den Ritus des Niederlegens (oder genauer die eine Wurzel dieses Brauches) richtig gedeutet, er stellt ihn aber in Parallele mit der Sitte, den Sterbenden auf die Erde zu legen, in bezug auf die er die von mir früher gegebene Erklärung annimmt: ich hatte gezeigt, dass der Sterbende auf die Erde gelegt wird, damit seine Seele ohne Verzug in das Totenreich unter der Erde eingehen kann.1) Dazu aber ist doch das Niederlegen des Kindes nach der Geburt keine wirkliche Parallele. Die Seele des Sterbenden geht unter die Erde, eine wirkliche Übereinstimmung bestände, wenn nicht das schon geborene Kind der Erde geweiht würde, sondern aus der Erde die Seele bei der Geburt in das Kind einginge, wenn also wie der Tod, so auch die Geburt auf der Erde vor sich ginge.

1) Zu römischen Bestattungsbräuchen, Festschrift für O. Hirschfeld S. 249 ff.; Antike und moderne Totengebräuche, Neue Jahrbücher XV (1905) S. 36 ff. Ich füge hier noch einige Beispiele der Sitte hinzu, die mir früher entgangen waren. Auch die Wenden und Serben nehmen jeden Sterbenden aus dem Bette und legen ihn auf Stroh (Rochholz, Deutscher Glaube und Brauch I S. 169). Bei den Letten und Esten wird der Sterbende auf den Boden gelegt, damit man ihm so „zum Tode verhelfe“ (ebda). Ebenso pflegten die Magyaren Sterbende auf die Erde zu legen, um ihnen das Sterben zu erleichtern (v. Wlislocki, Aus dem Volksleben der Magyaren S. 4). Vgl. auch Zachariae, Archiv für Religionswissenschaft IX (1906) S. 538 ff. In Scaer (Finistere) nimmt man den Sterbenden vom Bette herab und lässt ihn die nackten Füße auf den Boden stellen. Sobald er ihn berührt hat, sind die Einflüsse, die sein Leben noch festhielten, gebrochen (Sebillot, Le paganisme contemporaiu chez les pcuples celtolatins p. 169). Als Analogie zu der a. a. O. von mir erörterten thüringischen Sitte, dem Sterbenden Erde auf die Brust zu legen, ist der magyarische und rumänische Brauch anzuführen, den Toten, die unverhofft und ohne Beichte gestorben sind, etwas Erde in den Mund zu legen, damit sie die Erde nicht drücke und sie Ruhe im Jenseits finden (v. Wlislocki a. a. O. S. 5).

Nach der ersten Veröffentlichung des Anfangs seiner „Mutter Erde“wurde Dieterich von einem Kopenhagener Leser darauf hingewiesen, dass altnordisch „im Kindbett sein“ liggja â golfi, d. h. auf dem Boden liegen, heiße, weil im Norden die Geburt auf der Erde vor sich gegangen sei, was übrigens auch schon Weinhold in seinem „Altnordischen Leben“ S. 260 mitgeteilt hatte.1) Dieterich fügte den Hinweis auf diese nordische Sitte in einer Anmerkung hinzu, ohne einen weiteren Schluß daraus zu ziehen.2) Seine Darlegungen bedürfen daher der Ergänzung. Die als altnordischer Brauch erwähnte Sitte steht nicht vereinzelt da, sondern ist weit verbreitet. Auch in Deutschland fand in der ältesten Zeit die Niederkunft meist auf dem Fußboden des Hauses statt.3) In Island war es noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gebräuchlich, dass die Frauen auf der Erde liegend niederkamen.4) Ebenso ging auch in Ungarn die Geburt mitten im Zimmer auf der Erde vor sich (über etwas mit einem Leintuch zugedecktem Stroh, „weil auch Christus auf Stroh geboren ward“).5) In Japan ist das Geburtslager unmittelbar auf der Erde.6) In einem ägyptischen Papyrus ist der Ausdruck „auf die Erde legen“ für „gebären“ gebraucht.7) Auch in Sumatra wird die Kreißende auf den Fußboden gelegt8), und die gleiche Sitte besteht in ganz Nordindien, weil man an die Heiligkeit der Erde glaubt.9) Schon letztere Vorstellung weist auf die Bedeutung des Brauches hin. Vielleicht könnte trotzdem jemand noch glauben — ebenso wie dies bei dem Niederlegen des Sterbenden geschehen ist10) — , die Sitte habe einen praktischen Zweck, man verspreche sich von der niedrigen Lage eine Erleichterung der Entbindung. Dass dies aber nicht der wirkliche Grund ist, läßt sich sicher aus folgendem entnehmen. Die Gurier im Kaukasus und ebenso die Chinesen legen die Gebärende auf den mit Heu bestreuten Fußboden eines Zimmers ohne Diele11), d. h. also, sie wählen ein Zimmer, dessen Fußboden mit dem Erdboden identisch ist, und bei manchen Indianerstämmen wird auf den Fußboden eine 3 — 4 Zoll dicke Schicht Erde aufgeschüttet.12) Es ist hiernach vollkommen klar, dass es nicht auf die niedrige Lage ankommt, sondern die Gebärende mit der Erde in Verbindung gebracht werden soll. Was aber dies zu bedeuten hat, kann, namentlich nach der Analogie des Sterbebrauchs, nicht zweifelhaft sein: unter die Erde geht im Tode die Seele, aus der Erde kommt sie bei der Geburt in das Kind.13)

1) Vgl. auch Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer I S. 627.

2) Mutter Erde S. 8, 1.

3) Weinhold, Die deutschen Frauen im Mittelalter I S. 83.

4) Bartels, Isländischer Brauch und Volksglaube in bezug auf die Nachkommenschaft, Zeitschr. für Ethnologie, Bd. 32 (1900) S. 67.

5) Ploß, Das Weib II S. 42.

6) Floß a. a. O. H S. 13.

7) Spiegelberg, Archiv für Keligionswissenschaft IX (1906) S. 144.

8) Ploß a. a. O. II S. 42.

9) Crooke, The populär religion and folk-lore of Northern India I p.27.

10) Weinhold, Zeitschr. des Vereins für Volkskunde IX (1901) S. 221.

11) Ploß a. a. O. II S. 42.

12) Ploß a. a. O.

13) Anstatt dass der Sterbende auf die Erde gelegt wird, besteht, wie oben erwähnt, in Thüringen die Sitte, ihm etwas Erde auf die Brust zu legen (Samter, Antike und moderne Totengebräuche, Neue Jb. XV, 1905, 37). Vielleicht ist es ein Gegenstück hierzu, wenn in der Türkei bei schwachen Wehen Mohammedaner ein Säckchen mit Erde aus Mekka, Juden und Christen ein Säckchen mit Erde aus Jerusalem der Gebärenden auf den Rücken binden. Zuweilen wird gar solche Erde als innerliches Medikament in einem Glase Wasser genommen (B. Stern, Medizin, Aberglaube uud Geschlechtsleben in der Türkei S. 297). Ich erwähne dies aber nur nebenbei, da sich nicht feststellen lässt, ob die Vorschrift, dass heilige Erde genommen wird, sekundär ist.


In Griechenland und Rom finden wir die Sitte nicht, die Gebärende auf die Erde zu legen. Nachdem wir aber durch die Vergleichung der Bräuche anderer Völker unseren Blick für das, was möglich ist, geschärft haben (einen anderen Zweck kann und soll die Vergleichung nicht haben), müssen wir uns doch umsehen, ob sich vielleicht verwandte Vorstellungen bei den Griechen und Römern nachweisen lassen.

Welcker hat in seinem Aufsatze über die Entbindung bei den Griechen zuerst darauf hingewiesen, dass die Griechinnen des Altertums bei der Entbindung niederknieten, und das Beweismaterial dafür schon zum großen Teile zusammengestellt. Im Homerischen Hymnus auf Apollo wird von Leto erzählt, sie habe, als ihr in Delos die Stunde der Entbindung nahte, mit ihren Armen eine Palme umschlungen und sei auf die Erde niedergekniet.1) Ein weiterer Beweis liegt in der Tatsache, dass in mehreren Orten Griechenlands Statuen von Geburtsgöttinnen in knieender Haltung bezeugt sind. In Tegea gab es eine knieende Eileithyia2), und ebenso existierten in Aegina kniende Figuren der Damia und Auxesia.3) Dass auch dies Geburtsgöttinnen waren, hat schon Welcker richtig betont.4)

1) Hymn. auf Apoll. 116.

2) Paus. VIII, 48, 5. Sie wurde auch als Auge bezeichnet, eine Erzählung, nach der Auge hier auf Befehl des Vaters ins Meer gestürzt werden sollte, dabei auf die Knie fiel und in diesem Augenblick den Telephos gebar, sollte das Knieen erklären. Ob Auge ursprünglich der Name der tegeatischen Geburtsgöttin war, wie Marx, Athen. Mitt. X (1885), S. 185 annimmt, oder ob, wie Immmerwahr (Kulte Arkadiens S. 228) meint, die Vermischung erst in einer Zeit entstand, wo das Bildwerk nicht mehr verstanden wurde, ist für die hier in Betracht kommende Frage ohne Bedeutung, denn dass das Bild eine Geburtsgöttin darstellt, geht in jedem Falle aus der Bezeichnung als Eileithyia hervor. Marx Annahme ist aber doch wohl wahrscheinlicher. Vgl. auch Wernicke in Pauly-Wissowas Realenzyklopädie II, 2300 ff.

3) Herodot, V, 82.

4) a. a. O. S. 187. Vgl. auch Dümmler in Pauly-Wissowas Realenzyklop. II, 3617; Kern, ebenda IV, 2054. Wenn Marx (a. a. 0. S. 185) meint, dass Welcker damit zu weit gegangen sei, dass Damia und Auxesia nach der Überlieferung nur Göttinnen der Fruchtbarkeit und des Gedeihens der Feldfrüchte waren, welche die Symbolik uralter Kunstübung als Gebärerinnen auf den Knien darstellt, so hat Welcker hier sicher richtiger geurteilt. Das ist zum mindesten jetzt durch die Inschrift aus Thera klargestellt, in der Lochaia an Stelle der Auxesia steht (Hiller von Gärtringen, Die Insel Thera in Altertum und Gegenwart 1, 150). Denn wenn Xoxuiu auch, worauf v. Wilamowitz Hiller v. Gärtringen hinwies (a. a. O.), in der Bedeutung ,,üppiges Getreidefeld“ vorkommt, so ist eine Göttin doch schwerlich von der Geburtshelferin Artemis (vgl. Wernicke in Pauly-Wissowas Realenzykl. II, 1347) zu trennen, und Hiller v. Gärtringen denkt daher mit Recht bei der Inschrift in erster Linie an die Geburtsgöttin. Wenn er richtig hinzufügt, dass Fruchtbarkeit der Felder und der Menschen für die Griechen eng verbunden war, so ist dazu noch zu bemerken, dass dies nicht nur für die Griechen gilt. Vgl. Dieterich, Mutter Erde S. 92 ff.


Eine Hindeutung auf die Sitte des Knieens bei der Geburt sieht Welcker mit Recht wohl auch in den beiden folgenden Dichterstellen. Bei Hesiod heißt es von den Kindern des Kronos, dieser habe jedes verschlungen, das aus dem Leibe zu den Knieen der Mutter gelangt sei, und ein ganz ähnlicher Ausdruck wird von der Geburt in der Ilias gebraucht. Dass die Sitte lange Dauer gehabt hat, zeigt die Tatsache, dass sie auch im modernen Griechenland noch besteht oder wenigstens noch in neuerer Zeit bestanden hat.1) Aus Rom ist die knieende Stelluns der Gebärenden zwar nicht direkt überliefert, sie ist aber sicher zu erschließen aus der Nachricht über die Nixi Dii. Als Nixi Dii wurden drei aus Griechenland nach Rom gebrachte kniende Figuren bezeichnet, die vor der Cella der Minerva auf dem Kapitol aufgestellt waren. Wissowa bestreitet die Existenz dieser Gottheiten, er hält die Erklärung der Figuren als Geburtsgötter für Ciceronenweisheit. Ich glaube, diese Auffassung Wissowas wird sich als irrig erweisen lassen, aber auch wenn sie richtig wäre, d. h. auch wenn die Auffassung der kapitolinischen Bildwerke als Geburtsgötter eine willkürliche Erfindung wäre, so würde eben diese Erfindung doch wenigstens als ein Zeugnis für die Sitte des Knieens bei der Geburt gelten können. Denn es konnte natürlich kein römischer Cicerone auf den Gedanken kommen, knieende Figuren gerade für Geburtsgötter zu erklären, wenn ihm nicht das Gebären in knieender Stellung bekannt und vertraut gewesen wäre.

[i]1) Ploß, Lage und Stellung der Frau während der Geburt S. 41; Das Weib II S. 175. Marx a. a. O. S. 186. (/i]

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geburt, Hochzeit und Tod