Zweiter Abschnitt. - Das bequeme heitere Schloß des Generals, die schönen Umgebungen im bunten herbstlichen Schmuck, vor allem aber des Eigentümers ungezwungene edle Gastfreundlichkeit ...

Das bequeme heitere Schloß des Generals, die schönen Umgebungen im bunten herbstlichen Schmuck, vor allem aber des Eigentümers ungezwungene edle Gastfreundlichkeit verfehlten nicht, am Ziel der Reise auf die Ankommenden den angenehmsten Eindruck zu machen. Ein möglichst freier Lebensplan, der jedermann zufriedenstellen sollte, kam bald zur Sprache und ward förmlich angenommen. Die Männer beschlossen, den Morgen den Freuden der Jagd zu weihen, während es den Frauen überlassen blieb, sich einzeln in ihren Zimmern oder versammelt im gemeinschaftlichen Gesellschaftssaal nach eigner Wahl zu beschäftigen, bis die späte Stunde der Mittagstafel Damen und Jäger vereinte. Gesellige Freuden, Spiel, Tanz, Musik, gemeinschaftliches Lesen sollten die Abendstunden ausfüllen und geladene Gäste aus der nächsten Umgegend zuweilen Mannigfaltigkeit und Abwechslung in die Gesellschaft bringen.

Unter Allwills und des Kapellmeisters Leitung vergingen die ersten Tage größtenteils in Anordnungen geselliger Feste und in Proben kleiner theatralischer Kunstleistungen, die gewöhnlich mehr Freude gewähren als die Aufführung selbst. Letztere ward bis zu Gabrielens Ankunft verschoben, denn der General wünschte Herrn von Aarheim glauben zu lassen, daß alles einzig zu Gabrielens und ihres Gemahls Empfang veranstaltet worden sei. Herrn von Aarheims dadurch geschmeichelte Eitelkeit, hoffte er, würde ihn dann freundlicher stimmen und ihn bewegen, Gabrielen recht lange im Kreise ihrer Freunde zu lassen.


Weder die Gemütsstimmung noch die Gesundheit Adelberts erlaubte diesem, an dem edlen Waidwerk teilzunehmen, welchem die Herren den Morgen über, alles andre ausschließend, oblagen. Angezogen von Frau von Willnangens Güte und Augustens traulicher Freundlichkeit, gewöhnte er sich daher gar bald, die Stunden des Vormittags größtenteils im Zimmer dieser Damen mit ihnen allein zu verleben. Oft war Gabriele der Gegenstand ihres Gesprächs, und Adelbert konnte dann nie aufhören, den Unstern anzuklagen, welcher ihn, wenngleich schuldlos, zur ersten Veranlassung ihres traurigen Geschicks gemacht hatte.

„Mutter!“ sprach eines Morgens Auguste, da er eben niedergeschlagener als gewöhnlich sich bezeigte, „liebe Mutter! Der Rittmeister verdient unser ganzes Vertrauen, ich kann es nicht länger tragen ihn so sich quälen zu sehen. Ich bitte dich, erlaube, daß ich ihm alles sage, was wir aus Ernestos Briefe von den Umständen wissen, die Gabrielens Vermählung begleiteten. Was du allen andern mit Recht verhehlst, darf er erfahren, denn gewiß er ist jeder Unbesonnenheit unfähig, die Gabrielens Ruhe gefährden könnte.“

Adelbert blickte verwundert auf Augusten, wie sie mit blitzenden Augen und glühenden Wangen bei ihrer Mutter für ihn sich verwendete. „Fräulein!“ sprach er endlich, halb lächelnd, halb gerührt, „Sie wünschen mir Trost zu geben, Sie nehmen teil an meinem Kummer, o hüten Sie sich! Auch Sie sind liebenswürdig, jung, ein Engel an Güte wie ihre Freundin; auch Sie ergreift das Verderben, wenn Sie mit Wohlwollen sich mir nahen.“

„Ich wage es darauf“, erwiderte lächelnd Auguste, „denn Sie retteten meiner Gabriele das Leben. Ja, das taten Sie, Herr Rittmeister! und eben so unbewußt, als Sie dem unseligen Moritz sie auslieferten. Wollen Sie über das letzte verzweifeln, so müssen Sie auch des erstern sich rühmen. Sagen Sie mir nicht, daß es vielleicht besser sei, Gabriele wäre gestorben; im ersten Schmerz dachte ich das auch, aber eigentlich halte ich doch viel vom Leben. Im Leben ist Hoffnung, wer weiß, welche Freuden es Gabrielen noch aufbewahrt, die sie alle dann Ihnen verdanken muß.“

Frau von Willnangen hatte indessen Ernestos Brief hervorgesucht. „Ich wage es auf Augustens Verantwortung“, sprach sie, indem sie ein Blatt desselben Adelberten hinreichte. „Ja, ich will Ihnen vertrauen, was aus tausend Gründen jedem andern ein Geheimnis bleiben muß. Der Anteil, den Sie an meiner Gabriele nehmen, ist zu innig, als daß ich nicht wünschen sollte, Sie von der unverschuldeten Qual zu erlösen. Wissen Sie denn, der eigene Vater hatte Gabrielen dem Tode geweiht; gekränkter Hochmut brachte den wahnsinnig Verzweiflenden zu dem entsetzlichen Entschlusse, sie, der er keine ihrer Geburt gemäße Existenz zu sichern wußte, mit sich hinabzuziehen in das Grab. Darum ließ er so plötzlich sie zu sich entbieten, und nur durch Moritzens unerwartete Ankunft ward sie gerettet, ohne selbst die entsetzliche Gefahr zu ahnen, in welcher sie geschwebt hatte. Der Baron fand in der Vermählung des letzten Zweigs des Hauptstammes seines Geschlechts mit dem Erben der Vorrechte desselben den einzig möglichen ehrenvollen Ausweg. Gabriele wurde dem Leben erhalten, während der verfinsterte Geist ihres Vaters allein, freiwillig, hinabstieg ins Reich der Schatten. Lesen Sie hier die Bestätigung des Unglaublichen.“

Adelbert las; das lebhafteste Entsetzen malte sich während dessen in seinen Zügen.

„Sind Sie nun überzeugt?“ fragte Auguste, als er schweigend das Blatt zurückgab, „oder werden Sie noch ferner fortfahren, sich selbst mit fruchtloser Reue zu peinigen?“

„Das sollten wir überhaupt nie“, sprach Frau von Willnangen, „denn wie wenig wissen wir, was wir tun, wenn es auf den Erfolg unsrer Taten ankommt! Wie selten hilft uns unsre Klugheit! Was half es denn, daß Ernesto Gabrielen begleitete? Vermochte er es, sie zu beschützen? Das Leben geht mit uns seinen gemessenen Gang; wir werden mitgezogen; unsre besten, überdachtesten Plane scheitern heute am Zufall, unsre Unbesonnenheiten schlagen morgen uns und andern zum Glück aus. Was hilft es, darüber zu klügeln? Laßt uns nur immer das Gute ernstlich wollen und üben und uns darein ergeben, wenn es anders wird als wir dachten oder wenn aus unseren an sich gleichgültigen Handlungen ein unvorhergesehenes Übel entspringt. Der Zukunft vorgreifen wollen, ist vermessen. Nicht umsonst bietet uns die Vorzeit so manches Beispiel von Orakeln, die gerade das angedrohte Unheil herbeiführten, weil die Menschen zu ängstlich strebten, ihm auszuweichen.“

Der Eilbote, welchen der General nach Schloß Aarheim gesandt hatte, kehrte zur rechten Zeit zurück und zwar mit einem Danksagungsschreiben des Herrn von Aarheim, sehr zierlich auf goldnem Papier mit himmelblauer Tinte geschrieben, in welchem dieser bedauerte, daß Geschäfte, tiefe Familientrauer und die noch immer schwankende Gesundheit seiner jungen Gemahlin es ihm unmöglich machten, die an ihn ergangene Einladung anzunehmen.

Alle fühlten sich durch diese abschlägige Antwort verstimmt, und da unbefriedigte Neugier keinen kleinen Anteil an dieser Verstimmung haben mochte, so sah man sich wenige Tage später durch die ganz unerwartete Ankunft Ernestos um so freudiger überrascht.

Die ganze Gesellschaft eilte ihm entgegen, drängte sich an ihn mit tausend Fragen und Erkundigungen nach allem, was Gabrielen betraf, und es bedurfte seiner ganzen bekannten Geistesgewandtheit, um dem überlästigen Forschen schicklich auszuweichen, nicht bald hier zu viel, bald dort zu wenig zu sagen. Mit Not und Mühe gelang es ihm endlich, eine ruhige Stunde zu erringen, in welcher er vor seinen und Gabrielens innigsten Freundinnen sein volles Herz ungestört ausschütten konnte. Der Schmerz über alles, was vorgegangen war, seit sie sich zum letzten Mal sahen, erneute sich auf das lebhafteste in dieser traulichen Zusammenkunft, und es währte ziemlich lange, ehe Ernesto dazu kommen konnte, von Gabrielens jetziger Lage Bericht zu geben.

„Das Unerträglichste bei Gabrielens Geschick, dünkt mir, ist dessen Farblosigkeit“, sprach Ernesto. „Ihr Leben gleicht einem jener grauen Tage, wo es weder friert noch regnet, sondern alles in einem dicken handgreiflichen Nebel eingehüllt ist, der erkältend jedes Leben erstarren läßt, ohne es eben zu töten. Blumen und Blätter sind nicht erfroren, nicht verwelkt, nicht erstorben, aber sie sehen aus, als wären sie das alles. Ein rechtschaffner Orkan, in welchem die Welt zittert und splittert, wäre mir tausendmal lieber.“

„Moritz ist gut“, fuhr er im Laufe des Gesprächs fort, „aber es ist nicht die rechte, warme, menschliche Güte, die ihn beseelt; nicht jene Güte, die zum Herzen geht, weil sie recht aus dem Grunde des Herzens kommt und bei der jedermann wohl wird. Er ist gut, weil er nicht böse ist, er ist nicht böse, weil es sich nicht schicken will, weil nichts dabei herauskommt, weil – ich weiß, Sie werden mich nicht mißverstehen, wenn ich es ausspreche – weil er nicht den Mut dazu hat, wenngleich wohl zuweilen die Neigung. Er ist feig, wie alle Narren seiner Art, obwohl ihn dann und wann der Moment hinreißt, wie damals als er dem Baron das Fläschchen mit Kirschlorbeergeist entwinden wollte. Dies scheint indessen die größte Heldentat seines Lebens gewesen zu sein, denn er hörte nicht auf, davon zu sprechen, wenn er mit mir allein war. Ich halte diese Feigheit Moritzens für dessen gefährlichste Eigenschaft, denn in ihr ruht der Keim zu tausend andern, als da sind: Mißtrauen, Eifersucht, Unwahrheit, Kleinlichkeit, Eigensinn.“ –

„O genug, genug von ihm“, rief Auguste, „sprechen Sie uns von unsrer Gabriele.“

„Die ist ein Engel, von dem sich eben nichts weiter sagen läßt, wenn man den Erdenklumpen nicht erwähnen darf, an den diese Psyche leider gefesselt ist“, war Ernestos Antwort. „Woher das junge Kind den Mut, die Geduld, ja sogar die Lebensklugheit hernimmt, die sie bei jeder Gelegenheit an den Tag legt, ist mir unbegreiflich. Wahrlich ja, ich fange an, in ihren kindlichen Glauben einzugehen, daß der Mutter verklärter Geist unsichtbar sie umschwebe und sie leite. Sie erinnern sich, wie nach der Trennung von Ottokar sich ihr ganzes Wesen so gewaltsam emporrang, daß nach überstandner Lebensgefahr die Genesene, obgleich immer dieselbe, uns damals wie in einem verklärten erhöhten Zustande erschien. Jetzt ist sie von jeder Hoffnung auf eine glückliche Zukunft geschieden wie damals von dem Gegenstande ihrer stillen Liebe, und zum zweiten Mal hat die nämliche Veränderung mit ihr sich zugetragen, denn zum zweiten Mal fühlt sie sich erhoben und gekräftigt durch das Bewußtsein des schweren Sieges über sich selbst. So hoch die Gabriele, welche in Karlsbad von Ihnen schied, über dem furchtsamen, blassen, zitternden Kinde steht, das bei den Tableaux der Gräfin Rosenberg zuerst erschien, so hoch erhebt sich die jetzige Gabriele über jene, die Sie verlassen mußte. Auch im Äußern ist sie verändert. Sie ist größer, lieblicher, schöner als je. Bescheiden, demütig sogar, vereint sie mit dem Ausdruck sichrer stiller Ruhe im Gemüt eine Würde, einen edlen Anstand, der sogar mir imponiert und den armen Moritz oft dahin bringt, daß er ärger als je alle Sprachen durcheinander jagt, um das rechte Wort zu finden; besonders wenn er ihr etwas anzukündigen hat, von dem er ahnet, daß es ihren Wünschen nicht zusagen möchte, wie zum Beispiel das Ablehnen der Einladung des Generals.“

„War es denn nicht möglich ihn zu bewegen, diese anzunehmen?“ fragte Auguste.

„Ich glaube, es wäre Gabrielen möglich gewesen, aber sie scheint sich Verhaltungsregeln vorgeschrieben zu haben, denen ich nicht einzureden wage“, war die Antwort. „Ihre ersten Schritte auf der neuen Lebensbahn sind so bestimmt, so sicher, dabei so eigen, daß es Pflicht ist, sie ungestört gehen zu lassen. Ihr eignes Vergnügen, jeden Genuß opfert sie Moritzen auf, sobald er den Wunsch davon nur äußert, ohne es der Mühe wert zu achten, ihm merken zu lassen, daß sie ihm ein Opfer bringt. Im Gegenteil, sie ist gerade in solchen Momenten noch freundlicher gegen ihn als sonst. Zu Bitten erniedrigt sie sich nie, denn wen man nicht liebt oder wenigstens achtet, von dem kann ein edler Sinn nichts für sich erbitten wollen. Gilt es aber ihrem Gefühle von Recht und Unrecht, dann erklärt sie ihre Meinung, ruhig und bescheiden, und hält sie fest und läßt sich nicht irren, ohne sich weiter mit ihm darüber zu streiten. Freilich habe ich dieses nur einmal erlebt, aber sie ist ja auch noch nicht viel über einen Monat mit ihm vermählt. Herr von Aarheim machte Anstalt, sie von Annetten zu trennen, die er bei Frau Dalling in Schloß Aarheim lassen wollte. Er war im Begriffe, für Gabrielen eine Pariser und eine Londoner Kammerfrau zu verschreiben, und kündigte ihr dieses mit großem Triumph als einen Beweis seiner ungemeinen Sorgfalt für sie an. Gabriele erklärte ihm mit wenigen Worten, daß Annette ihr zu große Beweise der liebevollsten Treue gegeben habe, als daß sie je sie von sich lassen könnte. Die fremde Bedienung verbat sie sich gänzlich, weil dergleichen zu einem deutschen Haushalt nicht passe. Moritz redete sich stundenlang außer Atem, um die Kunstfertigkeit und Vortrefflichkeit der ausländischen Kammerfrauen zu beweisen, Gabriele gab alles zu, behauptete aber ganz gelassen, nichts von diesen Talenten nötig zu haben, und Annette bleibt bei ihr nach wie vor.“

„Raubt er ihr denn alle Zeit zum Briefwechsel mit ihren Freunden? Zur Übung ihrer Talente? Zum Genuß ihrer selbst?“ fragte Frau von Willnangen.

„Gottlob nein“, sprach Ernesto, „wenigstens nicht für jetzt, solange die Marotte vorhält, die er sich in den Kopf gesetzt hat, seinen Ehestand auf englische Weise zu führen. Gabriele gewinnt dadurch unendlich an Freiheit und fühlt sich obendrein sehr glücklich, daß diese Art zu leben sie einer Menge lästiger Vertraulichkeiten überhebt. So fällt es ihnen zum Beispiel gar nicht ein, einander mit Du anzureden. Er nennt sie Madame oder Frau von Aarheim, sie ihn Herr von Aarheim. Da er wie alle Nachahmer die englische Sitte karikiert, so würde er es höchst unschicklich finden, wenn ein Fremder an ihrer Art miteinander umzugehen merken könnte, daß sie ein verheiratetes Paar sind, und er beeifert sich deshalb, besonders vor Leuten, einer oft höchst lächerlichen formellen Höflichkeit gegen sie, die ihn immer drei Schritte von ihr entfernt hält. Bei Tische steht sie nach englischem Gebrauch früher auf als er, um sich in ihr Zimmer zu begeben. Er bleibt dann noch ein Stündchen allein sitzen, knackt Nüsse auf, und da er kein Trinker ist, so läßt er seinen Wein vor sich stehen und verrauchen; dabei langweilt er sich fürchterlich, ohne es zu achten, denn es geschieht à l'angloise. Durch diese Lebensweise gewinnt Gabriele den größten Teil des Tages für sich, den sie in ihrem Zimmer bei gewohnten Beschäftigungen zubringt, ohne daß es Herrn von Aarheim oft einfiele, sie durch seine Gegenwart zu unterbrechen. Er ist zufrieden, wenn sie nur bei den Mahlzeiten die Honneurs macht, mehr fordert man ja auch in England von keiner Lady. Leider aber hat diese Nachahmung englischer Sitte uns auch um ihre Gegenwart hier im Schlosse gebracht. Moritz behauptet, ein neuvermähltes Paar dürfe wohl gleich nach der Hochzeit auf Reisen gehen, was leider Gabrielens Gesundheit nicht erlaubt hat, aber während der Flitterwochen sich in Gesellschaft zu zeigen, wäre unschicklich, undelikat und gemein, und eigentlich müsse er sich wundern, wie man ihm nur habe so etwas zumuten können. Ich glaube aber der Ursache seiner Weigerung besser auf den Grund zu sehen, sie heißt Eifersucht, Eifersucht ohne bestimmten Gegenstand und deshalb um so gefährlicher. Herr von Aarheim möchte alle Welt von Gabrielen entfernt halten, eigentlich mehr aus Mißtrauen in sich als in sie. Seine englischen Grundsätze, welche dem Mädchen jede, der Frau keine gesellige Freiheit erlauben, kommen ihm dabei trefflich zustatten. Vor jetzt schwebt indessen obendrein Adelberts Bild, trotz der Narben und des lahmen Fußes, ihm als das eines höchst gefährlichen Nebenbuhlers vor. Unaufhörlich suchte er mich und Gabrielen auf das ängstlichste über ihn auszuforschen, nannte ihn alle Augenblicke und beobachtete dabei Gabrielens Mienen auf eine wirklich lächerliche Art. Übrigens aber, glaube ich, tut er auch mir die Ehre an, mich für gefährlich zu halten, da er mit Gabrielen nach seinen Gütern am Rheine gegangen ist, wo er den Winter zubringen will, ohne mich einzuladen, sie zu begleiten oder auch nur späterhin zu besuchen. Im Gegenteil nahm er es als ganz bekannt an, daß ich hieher gehen müßte.“

Die Abende wurden immer länger. Graue Nebel verhüllten tagelang die Sonne und trieben die eifrigsten Waidmänner bei ungewohnt früher Zeit dem warmen kerzenhellen Versammlungssaale zu, wo die gesellige Freude in steter Abwechslung an jedem Abende lebendiger sich regte.

Seit es entschieden war, daß die zur Königin der Feste bestimmte Gabriele nicht erscheinen würde, hatte alles einen raschen lebendigen Gang genommen. Zwar war sie weder vergessen, noch war der Anteil gesunken, welchen Freunde und Bekannte an ihrem Geschick nahmen, aber man hatte sich darüber ausgesprochen und wandte nun gerne seine Aufmerksamkeit andern Gegenständen zu.

Jeder Eindruck verlischt, der nicht täglich erneut wird, vergebens sucht man ihn festzuhalten, vergebens strebt man, sich länger zu freuen oder zu betrüben, sobald die Zeit ihre Rechte geltend zu machen beginnt. Selbst Auguste ließ oft vom fröhlichen Taumel sich hinreißen, obschon sie gleich darauf sich leichtsinnig schalt, so fröhlich gewesen zu sein, während ihre freudenarme Gabriele einsam-traurige Stunden verlebte.

„Sie versündigen sich an der Natur und an sich selbst“, erwiderte ihr einst Ernesto auf eine ähnliche Äußerung, welche sie über ihre jugendliche Fröhlichkeit tat. „Wie könnten wir nicht nur den Schmerz, sondern auch die Freude tragen, bliebe ihr Empfinden immer sich gleich? Glauben Sie mir, niemand von uns verlebte das zwanzigste Jahr, wenn uns nicht die alles ebnende, alles erleichternde Gewöhnung zur tröstenden Begleiterin auf dem Lebenswege gegeben wäre; lebenssatt oder mit gebrochnem Herzen sänken wir alle lange vor der Zeit in das Grab.“

Im übrigen Schlosse ging es unterdessen gar fröhlich her, und je bunter und lauter das Leben von den aus der ganzen Umgegend herbeiströmenden Gästen betrieben wurde, je zufriedener bezeigte sich der General. Mit der zuvorkommendsten Gastfreiheit bot er zu allem die Hand, munterte zur Ausführung jedes Einfalls auf, den irgendeiner seiner Gäste zum allgemeinen Vergnügen angab, und ward dabei selbst mit jedem Tage heitrer. Auch die Freude über Adelberts sichtbares Genesen verjüngte augenscheinlich den liebenswürdigen Greis, der mit mehr als väterlicher Liebe an diesem hing. Seine Augen glänzten, wenn sie auf der Gestalt des geliebten Pflegesohns ruhten, dessen Wange in der Farbe der Gesundheit wieder zu erblühen begann und dessen ganzes Wesen von neuem in frischer lebendiger Teilnahme an der Außenwelt erwachte.

Adelberts Wunden heilten wie durch ein Wunder, der Arm blieb freilich steif, obgleich fast unmerklich, aber der gelähmte Fuß erlaubte ihm schon an Augustens Seite im Polonaisen-Takte den Saal zu durchwandern, und sei es nun die oft belobte Nachwirkung der Brunnenkur oder die Wirkung des gegenwärtigen heitren Lebens, Adelbert behielt bald nicht mehr vom Ansehen eines Kranken als er bedurfte, um von allen Fräuleins drei Meilen in der Runde für höchst interessant erklärt zu werden.

Die Zeit, welche man ursprünglich im Schlosse des Generals zu verweilen beschlossen hatte, war unbemerkt längst vorübergezogen und der mit starken Schritten herannahende Winter bestimmte jetzt die Gesellschaft, sehr ernstlich an den Abschied von ihrem freundlichen Wirte zu denken, sich zur Heimreise zu rüsten.

Die Ungewißheit der Frau von Willnangen in Hinsicht auf Leo und Augusten machte dieser indessen manche Sorge. Vergebens hatte sie fortwährend beide mit der größten Aufmerksamkeit beobachtet; Leos Benehmen und Augustens Herz wurden ihr mit jedem Tage rätselhafter und sie selbst immer unentschiedener, ob es nicht die Pflicht der Mutter heische, Augusten um ihr Verhältnis zu dem jungen Manne zu befragen, dessen auffallende Weise, sie allen andern vorzuziehen, von der ganzen Gesellschaft als ein Beweis gegenseitigen Verstehens angesehen wurde.

„Wecken Sie keinen Nachtwandler, indem Sie ihn beim Namen rufen“, sprach Ernesto, den sie deshalb zu Rate zog. „Sie geraten in Gefahr, ihn eben dadurch in den Abgrund zu stürzen, wodurch Sie ihn warnen wollten. Leo ist ein ganz guter Mensch, aber leider gehört er zu jener Legion von Kurmachern, die in der Mädchenwelt so viel Unheil stiften. Zum Glück ist Auguste mit ihrer gegenwärtigen Lage zufrieden genug, um keine Veränderung ihres Zustandes herbeizusehnen. Ich bin überzeugt, daß Leo keinen tiefen Eindruck auf sie gemacht haben kann, obgleich sie seine Huldigungen sich recht gern gefallen läßt. Bei allen dem wäre es aber dennoch möglich, daß sie eine Zeitlang sich einbildete, ihn zu lieben, wenn man durch unnütze Fragen sie auf diese Gedanken brächte; sie könnte in diesem Glauben sogar dahin kommen, ihm ihre Hand zu reichen, wenn er sich erklärte, und sich für unglücklich zu halten, wenn er es unterließe, was aus Furcht vor dem gnädigen Papa und der gnädigen Mama wahrscheinlich geschehen wird.“

„Glauben Sie in der Tat nicht, daß Leo Augusten genug liebt, um wenigstens einen Versuch zu wagen, die Beistimmung seiner Eltern zu einer Verbindung mit ihr zu erhalten?“ fragte Frau von Willnangen.

„Ich glaube es nicht“, erwiderte Ernesto; „denn was konnte ihn bestimmen, fast bis zum Abschiedstage damit zu zögern? Mir scheint es, er gehört zu der Zahl junger Leute, welche wie im Traume umherwandeln, ohne eigentlich zu wissen, was sie wollen. Sie seufzen, sie werfen mit zärtlichen Blicken um sich, sie tun bedeutend, alles ohne Plan und Zweck. Dabei sind sie wetterwendisch wie eine Kokette aus dem vorigen Jahrhundert. Heute glühend, morgen kalt wie Eis, scheinen sie die gestern zur Huldgöttin Erhobene kaum noch zu kennen und sehen gelassen und eigentlich nicht ohne heimliches Behagen drein, wenn es ihnen gelingt, ein helles Auge zu trüben, eine jugendliche Wange erbleichen oder erröten zu machen und ein unerfahrnes junges Herz in schmerzliche Unruhe zu versetzen.“

„Welch ein Bild!“ rief Frau von Willnangen. „Ist es möglich, daß Sie Leo von Wallburg dadurch bezeichnen wollen, der noch vor wenigen Wochen in Karlsbad so viel bei Ihnen galt?“

„Was er mir galt, gilt er noch bis auf einen gewissen Punkt“, erwiderte Ernesto. „Seit ich hier bin, habe ich um Augusten willen ihn genauer beobachtet und ihn auf mancher der Ungleichheiten betroffen, welche ich eben rügte. Ich hätte deren wahrscheinlich noch mehrere an ihm erlebt, wenn Augusten von dieser Seite nur etwas anzuhaben gewesen wäre; sie blieb aber in vollkommner Ruhe, wenigstens äußerlich, und da mußte er das Spiel freilich aufgeben. Übrigens streite ich ihm keine der vorzüglichen Eigenschaften ab, um derentwillen ich ihn sonst schätzte. Er ist hübsch, artig, gewandt, unterrichtet, als Sohn und Bruder lobenswert, wahrscheinlich wird er auch einmal ein Ehemann, mit dem eine Frau, die mit ihrer Glückseligkeit nicht gar zu hoch hinaus will, ein zufriednes Leben führen kann. Aber sein Betragen gegen Augusten erkläre ich deshalb doch für unmännlich und unwürdig. Es kann ihm nicht verborgen sein, daß der Ahnenstolz seiner Eltern sich einer Verbindung mit ihr stets auf das ernstlichste entgegenstellen wird; er fühlt, daß es ihm an Mut, Kraft und Liebe gebricht, dieses Hindernis zu bekämpfen; er wagt nicht einmal einen Versuch dazu, und dennoch strebt er Augustens Herz zu gewinnen und sogar indirekt der Welt weiszumachen, es sei gewonnen, ohne doch sich selbst auf irgendeine Weise verbindlich zu machen. Das ist es, was mich an ihm empört, denn solche Künste sind verächtlich. Gilt das einfach gegebene Wort dem rechtlichen Manne so viel als ein Eid, so sollte ihm auch jede absichtlich erregte Erwartung soviel gelten als ein Versprechen.“

„Das, was Sie über den jungen Wallburg jetzt aussprachen, habe ich mir immer dunkel gedacht“, erwiderte Frau von Willnangen, „aber dabei blieb ich stets in der Ungewißheit, was ich tun könne. Oft glaubte ich den General bitten zu müssen, daß er den jungen Mann geradezu über sein Verhältnis zu Augusten zur Rede stellen möge, denn als Mutter dies selbst zu übernehmen, dazu fehlt es mir an Mut oder an Demut.“

„An beiden wahrscheinlich, und das ist ein rechtes Glück“, erwiderte Ernesto. „Aus solchem Einmischen dritter Personen kommt selten etwas Gescheites heraus, wenngleich zuweilen eine Heirat, die mich denn immer an Molières › mariage forcé‹ erinnert und bei welcher beide Teile sich gewöhnlich sehr schlecht befinden.“

„Aber wie meinen Sie, daß ich mich jetzt benehme, sowohl gegen Leo als Augusten?“ fragte Frau von Willnangen.

„Am besten, Sie benehmen sich gar nicht, sondern lassen alles gehen, wie es geht“, war die Antwort. „Gönnen Sie Augusten noch die paar Tage hindurch die Freude, sich von Leo adorieren zu lassen, die Trennung kann wohl einen halb erstickten Seufzer kosten, vielleicht wird auch beim Abschied ein Tränchen mit den Augenwimpern zerdrückt werden müssen, aber dabei bleibt es gewiß. In vier Wochen gedenkt sie Leos nur noch als eines vortrefflichen Partners bei Tanz und Spiel und vermißt ihn höchstens, wenn sie auf der Promenade ihren Shawl selbst tragen muß. Auguste steht zu hoch über den gewöhnlichen Mädchen, als daß Leos Koketterie wirklich hätte Eindruck auf ihr Herz machen können, und schon ihre ungetrübte Heiterkeit muß Sie hievon überzeugen. Aber wäre dies auch wider Vermuten geschehen, so wird dieser Eindruck nur um so leichter schwinden, wenn sie niemanden hat, mit dem sie darüber sprechen kann. Glauben Sie mir, die Vertrauten sind oft der Ruhe gefährlicher als die Liebhaber selbst. Eine ermahnende Mutter ist auch eine Art von Vertraute, sie nennt doch wenigstens den teuern Namen, und der süße Klang verfehlt selten, die Töchter über das Tadeln der Mutter zu trösten.“

„Wenn ich Sie nicht kännte wie ich Sie kenne, Freund Ernesto“, sprach Frau von Willnangen, „so müßte ich Sie nach diesen Äußerungen nicht nur für höchst frivol, sondern auch für herzlos und gemütlos halten. Sind das Ihre Ansichten der Liebe?“

„Der Liebelei,“ erwiderte Ernesto, „des kalten chinesischen Feuerwerks von ausgeschnittenem Papier, hinter denen man Lämpchen stellt, womit die Jugend so großtut. Glauben Sie mir, nur wenige sind berufen, den göttlichen Funken in reiner Brust zu hegen, welcher der Ursprung der heiligsten Gefühle und alles Großen und Herrlichen ist. Wem dieser einmal sich entzündet, dem verlischt er nie, auch nicht im Sturme des Lebens, auch nicht im Grabesdunkel der Trennung, auch nicht unter dem Schnee des Alters. Aber es gibt auch luftige Irrlichter für die Menge, welche ihnen nachjagt. Man läuft, man fällt, man verirrt sich, verlockt andre, aber am Ende kommt doch alles in eine Art von Ordnung, und wenigstens stirbt die Welt dabei nicht aus.“

Am vorletzten Abend des Abschiedstages sollte die schon längst angekündigte Aufführung eines Lustspiels sein. Allwill war dessen Verfasser und das Stück bestimmt, die lange Reihe der in dem gastlichen Schlosse des Generals genossenen Freuden würdig zu beschließen. Zuschauer und Schauspieler sahen dieser Darstellung mit der gespanntesten Erwartung entgegen, welche freilich die vielen Proben und andre Vorkehrungen erregen mußten, mit denen Allwill die ganze Zeit über gestrebt hatte, die Erscheinung seines Stücks so vollkommen als möglich vorzubereiten.

Zum ersten Mal in seinem Leben, wenngleich nur auf einem Privattheater, sollte dem Dichter die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches werden; er sollte die Schöpfung seiner Phantasie auf den magischen Brettern ins plastische Leben gerufen sehn. Mit welchem Enthusiasm er daher bei der Anordnung dieses Festes zu Werke ging, ist leicht zu erachten. Jahrelang hatte er gestrebt bis zur lampenhellen Bühne durchzudringen, ohne daß es ihm, trotz der Klagen über Mangel an guten neuen Komödien, gelungen wäre. Ein Schicksal, welches fast alle Dichter mit ihm teilen, die ihre theatralischen Arbeiten nicht eher schwarz auf weiß dem Urteil der Welt ausliefern mögen, als bis sie sich von der Wirkung überzeugt haben, welche dieselben an dem Platze machen, für welchen sie bestimmt wurden.

Das Ausland ist in dieser Hinsicht billiger als wir, selten erscheint dort ein Schauspiel gedruckt, das nicht vorher auf der Bühne die große Probe überstand. Aber unsre Theaterdirektionen bedenken nicht, daß es ebenso unmöglich ist, vor der Aufführung über den theatralischen Wert eines Stücks ein ganz genügendes Urteil zu fällen als ohne gehörige Beleuchtung über den Effekt eines Gemäldes zu entscheiden. Schwerlich wird ein Dichter zur möglichsten Ausbildung seines Talents gelangen können, dem diese praktische Erfahrung versagt ward, und der heutige Mangel an guten, für das Theater passenden neuen Schauspielen ist vielleicht größtenteils nur den Schwierigkeiten zuzuschreiben, die sich zu diesem Zweck dem Dichter überall entgegenstellen.

Bei Privatbühnen sind die Proben bei weitem das Ergötzlichste für die Mitspielenden, das weiß jedermann. Auch Allwill erfuhr es, denn er wollte oft über die gute Laune seiner Schauspieler verzweifeln. Dafür erklärten ihn diese für den wunderlichsten, krittlichsten, herrschsüchtigsten aller Theaterdirektoren, und zuletzt galt es für ausgemacht, daß zwei Allwills im Schlosse hausen, feindliche Zwillingsbrüder, die nie zusammen erschienen; der eine, der Dichter, die Liebenswürdigkeit selbst, der andre aber, der Theaterkönig, ein Despot ohnegleichen, ein heftiger mürrischer Kauz, mit dem eben kein Auskommen sei.

Des armen Allwills gute Laune war indessen schon bei der Austeilung der Rollen auf fürchterliche Proben gesetzt worden. Es gab dabei unendliche, zum Teil sehr lächerliche Schwierigkeiten, die er aber sich nur zu sehr zu Herzen nahm. Wenigstens dreimal so viel Schauspieler und Schauspielerinnen als man bedurfte, hatten anfangs sich mit großem Eifer gemeldet, und zuletzt kostete es dennoch nicht geringe Mühe, nur so viele zusammenzubringen, als man notwendig brauchte, um alle Rollen des Stücks gehörig zu besetzen. An ersten Liebhabern und Liebhaberinnen fehlte es freilich nicht, aber ein redseliges altes Fräulein und einen etwas rauhen invaliden Papa wollte niemand übernehmen. Einer der besten Freunde des Generals, welcher schon vor dreißig Jahren den Major Tellheim mit dem größten Beifall gespielt hatte, fuhr im Zorn auf und davon, weil Allwill durchaus den ersten Liebhaber von niemand anders als Leo von Wallburg spielen lassen wollte. Andre, die ebenfalls mit den ihnen zugeteilten Rollen nicht zufrieden waren, folgten dem ehemaligen Tellheim, indem sie sich ganz in der Stille fortschlichen, und Allwill war wirklich in Gefahr, die Aufführung seines Stücks hier ebensogut, als wäre es ein öffentliches Theater, an Rollenneid scheitern zu sehen.

Endlich ließ Frau von Grünborn, die Nichte jenes Tellheims, sich durch unablässiges Bitten und Zureden der übrigen Gesellschaft bewegen, die alte Tante zu übernehmen; ihrem Beispiele folgten andre, und so kam das Ganze zur allgemeinen Freude allmählich in anscheinende Ordnung. Frau von Grünborn brütete indessen ganz im stillen noch über einen großen Plan, denn so ganz gutwillig konnte sie sich doch nicht entschließen, in einer, ihrer Meinung nach, undankbaren Rolle aufzutreten, und bei dem ersten einsamen Spaziergang mit Augusten, den sie herbeizuführen wußte, nahm sie Gelegenheit, zu versuchen, ob es ihr nicht gelingen könne, diese ihren Wünschen günstig zu stimmen.

„Sie dauern mich unbeschreiblich, liebes Fräulein von Willnangen“, wendete sie das Gespräch nach unendlichen Liebkosungen gegen Augusten, sobald sie weit genug vom Hause entfernt waren, um keine Lauscher fürchten zu müssen. „Sie dauern mich, Allwills Eigensinn zwingt Sie, die Elise zu spielen, und ich fühle recht gut, wie entsetzlich es Ihnen sein muß, vor aller Welt mit Leo von Wallburg zärtlich zu tun. Gewiß der Gedanke an die Aufführung des Stücks ist Ihnen deshalb recht peinlich, es kann nicht anders sein, und ich habe es Ihnen schon lange angesehen. Sie wissen nicht, sie sehr ich Sie liebe, teure Auguste, um Ihnen einen Beweis davon zu geben, habe ich ganz in der Stille Ihre Rolle neben der meinen gelernt, und bin nun imstande, Ihnen einen Tausch anzubieten. Das hätten Sie wohl von Ihrer Nanny nicht erwartet?“ setzte sie hinzu, indem sie Augusten feurig umarmte.

Mit dem allergrößten Erstaunen hörte Auguste den absurdesten Vorschlag von der Welt aus dem Munde einer Frau, die alt genug war, um ihre Mutter zu sein, und die nun, schalkhaft lächelnd, in jugendlicher Verschämtheit vor ihr stand. Die Anspielung auf ein näheres Verhältnis zum jungen Wallburg war ihr freilich so unangenehm als unerwartet, und eine leichte zornige Regung rötete dabei ihre Wangen, bald aber siegte das unbeschreiblich Lächerliche in der ganzen Zumutung ihrer neuen Freundin, und lächelnd gab sie ihr Gehör, als diese mit der selbstzufriedensten Redseligkeit fortfuhr, ihren Plan weiter auseinander zu setzen.

„Vor allen Dingen“, sprach Frau von Grünborn, „müssen wir unsern Rollentausch aller Welt verschweigen, bis zur Stunde der Aufführung, sonst gibt ihn Allwill nimmermehr zu; er hat es sich zu fest in den Kopf gesetzt, daß wir alle seinen Befehlen folgen müssen; steckt er aber erst in seinem Souffleurkasten, so muß er sich schon alles gefallen lassen, was über seinem Haupte auf der Oberwelt vorgeht. Ich habe mir in den Proben Ihr Spiel genau gemerkt, wenn Sie die Rolle noch ein paar Mal mit mir durchgehen, so wird Herr von Wallburg keinen Unterschied finden, und des Beifalls der Gesellschaft können wir gewiß sein.“ Auguste war dem Vorschlage immer geneigter, je länger sie ihm zuhörte. Der Gedanke, wie komisch Leos Verwunderung und Allwills zorniger Schrecken sich ausnehmen müßten, gewann immer mehr Lockendes, so daß sie, zuletzt in einem Anfall von Übermut, sich wirklich entschloß, in den Tausch zu willigen, und nun, nicht minder eifrig als Frau von Grünborn, selbst sich bemühte, alles darauf vorzubereiten.

Der lustige Erfolg übertraf bei weitem Augustens Erwartung. Beide Damen fanden mit leichter Mühe einen Vorwand bis zum Aufrollen des Vorhangs in ihrem Ankleidezimmer allein zu bleiben.

Leo, der mit einem Monolog zuerst die Bühne betrat, erstarrte über den Anblick der Frau von Grünborn wie Hamlet, indem er den Geist seines Vaters erblickt. Allwill reckte sich lang aus seinem Souffleurkasten empor und machte Miene, ganz auf das Theater heraufsteigen zu wollen, um wegen des Rollenwechsels Rechenschaft zu fordern, ja selbst die Zuschauer begannen sehr lebhaft zu werden. Frau von Grünborn ließ sich indessen von allem, was vorging, nicht im mindesten anfechten. Sie hatte ihre Rolle zu gut gelernt, um der Eingebungen des Souffleurs zu bedürfen und besaß auch überdem ziemliche Gewandtheit und theatralische Übung. An Schminke und jugendlichem Putz hatte sie ebenfalls nichts gespart; man sah deutlich, wie sie in großer Herzensfreudigkeit sich selbst Illusion machte, und so war denn die Gesellschaft endlich gutmütig genug, sich diese ebenfalls gefallen zu lassen und dem Wagestück ward von allen Seiten applaudiert.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele