Zehnter Abschnitt. - Den beiden jungen Mädchen zu Gefallen, deren Phantasie sich aus Romanen und Beschreibungen ein himmlisch schönes Bild von den Freuden des Badelebens zusammengesetzt hatte, war der Umweg über Karlsbad beschlossen worden. ...

Den beiden jungen Mädchen zu Gefallen, deren Phantasie sich aus Romanen und Beschreibungen ein himmlisch schönes Bild von den Freuden des Badelebens zusammengesetzt hatte, war der Umweg über Karlsbad beschlossen worden. Mit dem Gefühle des frommen Wallfahrers an heiliger Stätte, sah Gabriele sich zum zweitenmal auf diesem Wege, der sie vor sieben Jahren zu dem Wendepunkte ihres Lebens geführt hatte, von welchen die lange Reihe der strengen Entsagungen und den schwersten Opfern geweihter Tage ausging, die sie seitdem verlebt hatte.

In Karlsbad selbst knüpfte sich eine oder die andere frohe oder bittere Erinnerung an jeden ihrer Schritte; in stiller Wehmut suchte sie jedes Plätzchen auf, das irgendein ihr merkwürdiges Ereignis bezeichnete; vor allem aber versäumte sie es nicht, in einer stillen feierlichen Abendstunde zur kleinen Marienkapelle im Walde einsam zu wallfahrten, während ihre Begleiterinnen unter Moritzens Schutze sich im sächsischen Saal im lustigen Wirbeltanz drehten.


Es war am Vorabend eines heiligen Festes. Die Betstühle waren leer, nur ein Kind lag in einem Winkel der Kapelle auf den Knien, während der Sakristan den Altar abstäubte, den morgenden Festputz des Muttergottes-Bildes zurecht legte und die welken Blumen und Kränze wegnahm, um sie durch neue zu ersetzen.

Gabriele sah dem einfältig-frommen Treiben eine Weile zu, ehe sie ihrer Stimme Festigkeit genug zutraute, um nach der armen alten Frau zu fragen, die sonst um diese Stunde hier zu beten pflegte, und die sie jetzt mit trübem Vorahnen vermißte.

„Die ist bei Gott“, erwiderte der Sakristan; „ich kannte sie wohl, sie war eine fromme Frau dort unten aus dem Dorfe; sie hatte ein Gelübde getan und hielt es redlich, bei Frost und Hitze, im Sonnenschein und Regen. Und so ist sie zum Lohne hier an heiliger Stätte vor drei Monaten sanft und selig entschlafen. Wir wollten sie wecken, da es dunkel ward und sie noch immer auf den Knien wie betend lag, aber sie erwachte nimmermehr auf Erden.“

Gabriele zerfloß in Tränen der innigsten Rührung, während der Sakristan so sprach. Ottokars Bild stand vor ihr und jedes entschlummerte Gefühl in ihrem Herzen regte sich mächtig und laut; ihr war, als seien die Jahre zwischen jetzt und jenem Abend, wo sie an dieser nämlichen Stelle gestanden hatte, ganz aus der Reihe der Zeiten getilgt, als sei alles noch wie damals.

Indessen hatte das Kind sich ihnen genähert und wollte mit schüchternem Gruße vorüber, als der Sakristan es anhielt. „Das ist ein Urenkelchen der alten frommen Mutter, Ihro Gnaden“, sprach er und klopfte freundlich die vollen blühenden Wangen des Mädchens. „Nun schäme dich nicht“, fuhr er fort, „du bist ein frommes Kind, Gott und die Heiligen werden deinen Vater und deine Mutter dafür segnen, denn das Gebet frommer Kinder dringt durch die Wolken.“

„Ich habe nicht für Vater und Mutter gebetet“, sprach das Kind.

„Nicht für Vater und Mutter? Für wen denn?“ fragte der Sakristan.

„Weiß nicht“, war die Antwort, „aber die heilige Jungfrau wird schon verstehen, wem es angeht, sprach Eltermutter selige, und weil Mutter es ihr einmal versprochen hat, da sie krank war, so geht immer eins von uns zur Vesperzeit hierher und betet wie Eltermutter sonst, da sie noch lebte.“

Gabriele sank auf der Stelle, wo das Kind gebetet hatte in stiller Rührung hin, der Sakristan und das Kind, reichlich von ihr beschenkt, entfernten sich schweigend und ehrfurchtsvoll. Ihr Auge schwamm in süßen Tränen, ihr Herz in seliger Wehmut. War es Gebet, war es Erinnerung, war es Hoffnung, was ihren Busen in lange nicht gefühlter Wonne hob, sie wußte es nicht zu unterscheiden, aber sie lag da auf den Knien, in Andacht und Freude verloren, bis die fast zur Dunkelheit gewordene Dämmerung sie erweckte. Langsam erhob sie sich und sah dicht hinter sich Hippoliten in ihrem Anblick versunken. Sie wickelte sich, als sie ihn gewahrte, fester in ihren großen Shawl, den sie wie einen Schleier über den Kopf nahm, als solle er gegen die Abendkühle sie schützen.

Hippolit verstand diese Bewegung, stumm und ehrfurchtsvoll zog er sich zurück, während sie an ihm vorüberging und wagte es nicht, ihr den Arm zu bieten. Er drückte nur die zurückflatternde Ecke ihres Shawls demütig an seine Lippen, ohne daß sie dieses bemerkte, und folgte dann von ferne, um sie auf dem Wege nach ihrer Wohnung zu beschützen.

Wenige Tage darauf verließen sie Karlsbad.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele