Neunter Abschnitt. - Augusten nach Lichtenfels zu begleiten, wäre Gabrielens sehnlichster Wunsch gewesen, als endlich der Tag der Trennung herbeikam; doch ...

Augusten nach Lichtenfels zu begleiten, wäre Gabrielens sehnlichster Wunsch gewesen, als endlich der Tag der Trennung herbeikam; doch Herrn von Aarheims fortdauernde Kränklichkeit erforderte ihre stete Gegenwart. Seit jener auf der Sternwarte töricht durchwachten Nacht plagten ihn Rheumatism und alle Übel, welche diesen Unhold in tausendfacher Gestalt zu begleiten pflegen. Gabrielens mitleidige Geduld vermochte es kaum, alle die mannichfaltigen Wunderlichkeiten und Launen zu ertragen, mit denen der grämlichste und unleidlichste aller Kranken, zu jeder Stunde des Tages, zuweilen auch der Nacht, sie quälte. Die Besuche, welche anfangs über manche lange Schmerzensstunde ihr hinüberhalfen, blieben nach und nach aus, denn sein böser Humor verscheuchte alle, die nicht, wie Gabriele, durch Pflichtgefühl gebunden, bei ihm ausharren mußten. Hippolit, der einzige, der die Langeweile, von der Moritz sich hauptsächlich geplagt fühlte, hätte verscheuchen können, befand sich selbst noch leidend. Mehrere Wochen waren seit dem Vorgange zwischen ihm und Adelberten vergangen und noch immer durfte er das Zimmer nicht verlassen. Gabriele hatte noch in keiner Lage ihres Lebens sich so ganz auf sich selbst zurückgewiesen gefühlt, selbst nicht am Rhein, wo frische lebendige Tätigkeit ihre tiefe Einsamkeit erheiterte. Sogar die Tante hatte sie verlassen; um der Marquise auszuweichen, war sie am Tage nach der Konzertszene nach einem nicht weit entfernten Badeorte gereist, obgleich noch vor der eigentlichen glänzenden Kurzeit. Ein kaltes höfliches Billet hatte einstweilen Herminien deren Anteil an der gemeinschaftlichen Wohnung aufgekündigt, denn diese war nur im Namen der Gräfin Rosenberg dem Eigner abgemietet worden.

Die Marquise aber eilte eben nicht, von dieser Aufkündigung Notiz zu nehmen, sondern verweilte noch mehrere Wochen als einzige Bewohnerin des Hauses in anscheinend vollkommner Ruhe. Sie zeigte während dieser Zeit sich weit öftrer als sonst im Theater und bei andern öffentlichen Vergnügungen, auch suchte sie auf andere Weise, durch vielfältig ausgesendete Einladungen zu glänzenden Festen, die öffentliche Meinung irre zu leiten, oder auch zu bravieren , doch gelang ihr dieses nur bei sehr wenigen Mitgliedern der Gesellschaft. Obendrein gehörten diese wenigen nicht zu denen, deren Beispiel auf die übrigen Einfluß haben konnte. Nie hatte es so viel Migränen und Katarrhe in der Residenz gegeben, als an den Abenden, wo die Marquise einen recht glänzenden Kreis um sich her zu versammeln gedachte. So mußte sie es bald müde werden, in ihren hellerleuchteten, aber spärlich bevölkerten Sälen ihre kleinen Koketterien zu üben, und Unmut und Überdruß bewogen sie endlich, Paris, den einzigen Schauplatz wieder aufzusuchen, auf dem ihre glänzende Erscheinung gehörig gewürdigt werden konnte. Kein sehnender Blick folgte ihr dorthin, wo sie wie ein strahlendes Meteor wieder in den Strudel versank, dem sie, weder sich noch andern zum Heil, auf kurze Zeit entstiegen war.


Müde und erschöpft von einer zum größten Teil am Schmerzenslager ihres Gemahls durchwachten Nacht, saß Gabriele nach kurzem unerfreulichen Schlummer in der Jelängerjelieber-Laube des kleinen Gartens am Hause, dem einzigen Orte, wo es ihr jetzt vergönnt war, des im höchsten Schmucke prangenden Frühlings sich zu erfreuen. Alles um sie her funkelte und blitzte im Sonnenstrahl von Diamanten, die ein warmer Frühregen verschwenderisch gestreut hatte; ihre Rosen flammten in höchster Blütenpracht, fast sichtbar stieg der Opferduft von den Lilien und tausend andern Blumen, die in üppiger Fülle ihre Beete schmückten, zum Himmel auf und mischte sich in den noch berauschendern Wohlgeruch der hohen Orangenbäume, die auf dem Rasenplatz vor der Laube lichte Schatten streuten. Endlich einmal entronnen der ängstlich beklommenen Atmosphäre des dunkeln Zimmers, in der sie jetzt den größten Teil des Tages unter dem ungeduldigen Klagen ihres Kranken verleben mußte, atmete hier die arme Gabriele mit vollen Zügen neues Leben und Erquickung. Allmählich überschlich sie jene stille Sehnsucht, jener wonnige Frühlingsschmerz, der das Auge mit süßen Tränen füllt und das Herz rascher pulsieren macht. Sie gedachte ihrer ersten Jugend, ferne Gestalten gingen an ihr vorüber und sie versank in immer lieberes Träumen, von ihrer Mutter, von Ernesto, von Ottokar. Dann gedachte sie auch des jungen Freundes, der so keck das Leben daran gesetzt hatte und alle Vorurteile seiner Jugend, seines Standes, ja der sogar das eigne Gemüt mit eigensinniger Entsagung überwand, nur um einen ihm fast fremden Mann aus einem gefährlichen Traume zu erwecken. Diese Tat Hippolits war ihr immer im romantischen Licht eines Heldenmuts erschienen, den sie sehr geneigt war übertrieben zu nennen und dessen Äußerung gerade auf diese Weise in dem feurigen, sonst alle Schranken so gern durchbrechenden Jüngling, ihr unerklärlich blieb, sooft sie auch schon darüber nachgedacht haben mochte. Seit seiner Verwundung hatte sie ihn nicht wieder gesehen, doch ließ sie täglich mehre Male Nachricht von ihm einziehen, denn Moritz sehnte sich stündlich nach seiner erheiternden Gegenwart, und auch sie vermißte oft ihren Edelknaben.

Ein leichtes Geräusch weckte endlich die Träumerin aus ihrem fast wortlosen Sinnen; sie blickte auf und an einer großen Zypresse gelehnt stand dicht vor der Laube Hippolit selbst, die dunkeln blitzenden Augen auf sie geheftet. Das selige Lächeln eines Verklärten umspielte die bleichen Lippen und der Ausdruck langer körperlicher Leiden gaben der sonst so lebenskräftigen jugendlichen Gestalt etwas unbeschreiblich Rührendes. Ihn erblicken und mit einem hellen freudigen Ausruf ihm entgegentreten, war das Werk des ersten Moments, während er, wie überwältigt von der Seligkeit desselben, vor ihr auf das Knie sank und die Hand, welche sie ihm bewillkommnend gereicht hatte, mit Feuerküssen bedeckte.

„So! So! Begrüße ich das neue Leben! Hier begrüße ich die Sonne, die ich so lange entbehrte!“ rief Hippolit, wie außer sich vor Entzücken.

„Unvorsichtiger!“ schalt freundlich und bewegt Gabriele, „Sie sind noch krank, Ihre Lippen brennen heiß; wie konnten Sie in diesem Zustande sich auswagen? Wahrlich, Sie sind im Fieber, Ihr ganzes Wesen ist so unnatürlich gereizt, ruhen Sie, ich bitte, ruhen Sie aus“, sprach sie beinahe ängstlich werdend und bemühte sich, ihm aufzuhelfen.

„Mir ist wohl, mir ist unnennbar wohl, freilich meinem Arzt entsprungen, und – mir ist unaussprechlich wohl“, stammelte Hippolit, ward immer bleicher und sank endlich mit geschloßnen Augen in den Sessel, aus welchem Gabriele bei seinem Eintritt aufgesprungen war. Sie wollte fort, sie wollte Hülfe herbeirufen, doch er hielt mit übernatürlicher Kraft ihre Hand fest umschlossen; auch öffnete er nach wenigen Sekunden die Augen wieder und atmete hoch auf, sichtbar sich erholend.

„Zürnen Sie nicht, schelten Sie nicht“, bat er, „daß ich die schöne warme Sonne, den blauen Himmel nicht länger nur aus dem Fenster ansehen mochte. Ihre Pappeln dort am Bassin sind Schuld. Ganz in der Ferne sehe ich von meinem Zimmer aus ihre Wipfel, das einzige Grün weit umher. Stundenlang habe ich während meiner Krankheit sie betrachtet, sie allein verkündeten mir den Sommer und wenn der Wind in den schlanken Zweigen spielte, war mir, als ob sie von Ihnen mir erzählen wollten. Heute, heute regten sie sich und nickten und winkten so sehr und die Nachtigall vor meinem Fenster sang so schmerzliche Sehnsucht, es war nicht länger zu ertragen; ich öffnete ihr den Käfig und sie und ich, wir flogen beide auf und davon. Hier werde ich genesen, glauben Sie mir es nur, hier atme ich Lebensluft.“

Gabriele waltete emsig und arglos geschäftig um ihn her, während er so sich zu entschuldigen suchte, recht wie ein sorgliches Mütterchen um ihr liebes krankes Kind. Sie breitete ihren Shawl an den Zweigen der Laube aus, um ihn gegen das Sommerlüftchen zu schützen, das draußen sanft und linde die Blumen und Blüten umspielte; aus einem Körbchen mit Orangen, welches zufällig neben ihr stand, wählte und bereitete sie zu seiner Erquickung die süßeste Frucht, dann brachte sie ihm die schönsten Rosen herbei, es war, als wolle sie ihn in diesem Moment für alle Entbehrungen der schönen Tage entschädigen, die der Arme, im dumpfen Zimmer eingekerkert, hatte verleben müssen. Nach Frauenart vergaß sie in ihrer Geschäftigkeit beinahe, wer der Gegenstand ihrer sorgsamen Pflege eigentlich sei und Hippolit saß still und selig da, ließ sich alles gefallen und hütete sich wohl, diese schönen Augenblicke durch ein unbedachtes Wort sich zu verkümmern.

Inzwischen war unter ihnen beiden doch eine Art von zusammenhängendem Gespräch aufgekommen. Gabriele erzählte von Augustens jetzigem Leben und wie alle Hoffnung da sei, daß Adelbert in Liebe und Tätigkeit wieder genesen und zu sich selbst kommen werde.

„Das alles danken wir Ihnen, Ihrem uns allen unbegreiflichen Heldenmute. Sie sind ein kronenwerter Sieger“, sprach sie und blickte mit unbeschreiblicher Freundlichkeit ihn an. „Den schwersten aller Siege, den über sich selbst, haben Sie errungen. Doch gestehen Sie mir, was konnte Sie bewegen, des Mannes, der mit so unerträglichem Trotz Sie zu beleidigen suchte, mit so fast eigensinnigem Unbedacht zu schonen und Ihr eignes Leben einem Rasenden wehrlos in die Hände zu geben? Adelbert war Ihnen kaum ein Bekannter und für einen solchen wagten und ertrugen Sie das Unglaubliche, das fast Unmögliche, um ihn sich und den Seinen, die Sie noch weniger kannten als ihn, am Rande des Unterganges zu retten! Die Welt wird diese Tat ebensowenig zu würdigen wissen, als wir, Ihre Freunde, sie verstehen, obgleich wir sie bewundern, wär's auch nur der Seltenheit wegen. Gestehen Sie es mir im Vertrauen, lieber Hippolit, was bewog Sie zu diesem ungeheuern, unglaublichen Opfer?“

„Sie fragen im Ernst?“ erwiderte gelassen Hippolit. „Konnte ich denn anders? Sie selbst schwebten ja immer zwischen ihm und mir, da mußte er ja wohl sicher sein. Wie hätte ich nach dem Leben des Gemahls einer Frau zielen können, die Gabrielen so wert ist, deren Leiden und Freuden sie wie die eigenen empfindet! Wäre er gefallen, hätte ich ja Sie betrübt.“

Eine schöne Perle stieg bei dieser unerwarteten Erklärung in Gabrielens helles Auge. Sie wollte sprechen, aber der Atem versagte ihrer bewegten Brust. Lächelnd durch Tränen wie ein seliger Engel, trat sie endlich ganz nah vor Hippoliten hin, strich mit sanfter Hand ihm die dunklen Locken zurück und hauchte einen leisen, kaum fühlbaren Kuß ihm auf die Stirne. Ihre Lippen bewegten sich, im Begriffe ihm etwas recht Freundliches zu sagen, aber sie bebte erschrocken zurück, da sie ihn ansah. Sein eben noch so bleiches Gesicht flammte in dunkler Purpurröte, seine Augen blitzten wie verzehrendes Feuer, er machte eine Bewegung, als wolle er sie umfassen, sie an seine ungestüm wogende Brust drücken und riß sich im nämlichen Moment mit sichtbarer Gewalt von ihr los und floh bis in die fernste Ecke der Laube. Dort warf er sich auf die Knie nieder; sich selbst unbewußt, hatte er den verwundeten Arm aus der ihn stützenden Binde gezogen und hob nun in flehender Stellung beide Hände zu ihr auf.

„Nein, nein“, rief er wie außer sich, „dies Übermaß von Wonne und Schmerz erträgt keine menschliche Brust!“ Und nun ergoß sich sein übervolles Herz im glühendsten Ausbruch einer Leidenschaft, die in diesem Moment der seligsten Pein in wütenden verzehrenden Flammen hell aufloderte und sich nicht mehr bändigen lassen wollte.

Zitternd vor Schrecken blickte ihn Gabriele eine Weile an, ehe sie Fassung genug gewann, ihm zu antworten. „Stehen Sie auf, Graf Hippolit“, sprach sie endlich sehr ernst, „vergessen Sie den kranken Arm nicht; wahrlich, ich sehe immer mehr, wie unrecht Sie taten, schon heute das Haus zu verlassen. Kehren Sie heim, armer Kranker!“ setzte sie nach einer kleinen Pause etwas milder hinzu, „ich will es nicht verbergen, Sie haben mich erschreckt, doch das ist schon vorüber; die Ruhe wird Ihnen wohltun, es soll sogleich eine Sänfte geholt werden.“

„Gabriele, Gabriele! Wenn Sie jetzt mich fortschicken, werde ich Sie nie wieder sehen dürfen, ich ahne es“, rief Hippolit; „ich verdiene Ihren Zorn; lange, lange habe ich geschwiegen, weil ich ihn fürchtete. Glauben Sie mir, ich habe mich bekämpft, ich wollte ewig schweigen, kein Hauch, kein Wink sollte das Geheimnis meines Lebens verraten, damit Sie nur ferner mich um sich dulden möchten, damit ich nur ferner Ihre süße Stimme hören, im Strahl Ihrer lieben Augen den Himmel erblicken könne, ich erlaubte mir ja keinen größeren Wunsch. Ich wollte ja nichts hoffen, nichts erflehen; das wilde Toben hier sollte sich Ihnen nie zeigen. Ein einziger unbewachter Augenblick hat mich verraten, und nun darf ich nie wieder vor Ihnen erscheinen, ich weiß es wohl, ich bin verbannt!“

Gabriele sprach in milden Worten zu ihm; er hörte sie wohl, doch er verstand sie nicht, er konnte nur den Gedanken fassen, sie beleidigt, ihren Zorn erregt zu haben.

„Wie werde ich künftig leben können!“ rief er. „Entfernung von Gabrielen ist Tod, ist Hölle, das fühlte ich jeden Abend in meiner Einsamkeit, wenn ich ihre Schwelle verlassen hatte. Und nun gehe ich ganz hoffnungslos, kein Morgen kommt, wo ich mir sagen kann, ich werde Sie wieder sehen. O Gabriele! O gnädige Frau! Muß es denn sein? Ich will ja ewig schweigen, ich will ja nichts, als was Sie dem Würmchen dort auf dem Grashalm, der Mücke hier in der Luft auch gewähren, nur sehen, nur dulden sollen Sie mich und, wenngleich nicht freundlich wie sonst, nur ohne Zorn.“

Endlich gewann Gabriele einen Augenblick, sich verständlich zu machen. „Graf Hippolit“, sprach sie sehr ruhig gefaßt. „Sie verkennen sich und mich und Ihr eignes Gefühl. Daß Sie dieses bald selbst einsehen werden, weiß ich gewiß. Für jetzt bitte ich Sie ernstlich, beruhigen Sie sich, ich zürne nicht, ich vergesse von heute an die wilden Ausbrüche, zu welchen gereizte Phantasie den Kranken verleitete; ich wünsche, daß auch Sie dieses tun mögen; nur so allein kann unser ruhiges, freundliches Verstehen ungetrübt bleiben. Kehren Sie jetzt heim und lassen Sie Ihre völlige Wiederherstellung einstweilen Ihre erste größte Sorge sein. Leben Sie wohl.“

„Sagen Sie nur, daß ich Sie wiedersehen werde“, flehte Hippolit in demütiger Entfernung.

„Darf ich denn mit meinem jungen Freunde so streng ins Gericht gehen? Kann ich es denn vergessen, daß Sie für das Glück meiner Auguste Ihr Leben wagten?“ erwiderte ihm Gabriele.

Ein Bedienter unterbrach sie, er kam, um Hippoliten zu Herrn von Aarheim zu rufen. Dieser hatte bei seinem Erwachen dessen Anwesenheit im Garten erfahren und drang nun mit kränklicher Hast darauf, ihn augenblicklich bei sich zu sehen.

„Jetzt? Jetzt? in dieser Minute? Nimmermehr! Jetzt nicht, jetzt kann ich nicht zu ihm“, rief Hippolit, bald erglühend, bald erbleichend.

„Nein, Sie können und dürfen es auch Ihrer Gesundheit wegen nicht, und ich selbst will dieses ihm erklären“, erwiderte Gabriele, gab dann schnell dem Bedienten Befehl, den Grafen in einer Sänfte nach Hause zu geleiten und ergriff die Gelegenheit, mit leichtem Gruß an ihm vorüberzueilen, um Moritzen über sein Nichterscheinen zu beruhigen.

Sie verschwand bald unter den Säulen der Vorhalle und Hippolit starrte noch immer ihr nach. Er fühlte nicht, daß die Binde wieder um den verwundeten Arm gelegt ward, er merkte kaum, daß man dem Ausgange des Gartens ihn zuführte. Nur als er zu Hause in seinem eignen Zimmer, aus den Fenstern desselben, Gabrielens Pappeln wieder ganz in der Ferne erblickte, nur da kam ein lichter Gedanke an die zunächstvergangene Stunde in ihm auf. Ein schnell aufsteigendes Wetter türmte sich schwarz und drohend hinter Gabrielens Garten am Himmel empor, schon fielen einzelne große Regentropfen schwer herab und die schlanken Wipfel der Pappeln beugten sich tief vor dem plötzlich sich erhebenden Gewittersturm. Mit bangem vorahnenden Herzen starrte Hippolit in den Aufruhr der Natur, der über Gabrielens Wohnung hereinbrechen zu wollen schien, als die Sonne die Wolken zerriß. Die Regentropfen wandelten sich in glänzend flüssiges Silber, und hoch über den Pappeln wölbte sich prächtig der leichte Farbenbogen des Friedens und der Hoffnung.

Mit so anscheinender Kälte Gabriele auch immer die unerwartete Erklärung ihres jungen Freundes aufgenommen haben mochte, in ihrem Innern fühlte sie sich doch dabei von Mitleid, Schrecken und zürnendem Erstaunen bewegt. Vergebens versuchte sie das ganze unangenehme Ereignis zu vergessen, sie konnte sich nicht enthalten, in der Einsamkeit darüber nachzudenken. Seit Jahren hatte nichts ihre Ruhe in dem Grade erschüttert, es war ihr, als laste seit jener Minute ein innerer Vorwurf auf ihrem Gemüte, und doch war es ihr unmöglich, zu entdecken, wo und wie sie gefehlt habe.

Mißmutig über dieses beängstigende Empfinden ergriff sie endlich die Feder, um sich gegen Frau von Willnangen über den Vorgang auszusprechen, der es veranlaßte, und so vielleicht auch mit sich selbst darüber ins reine zu kommen. Doch kaum hatte sie einige Zeilen geschrieben, als sie mit unwilligem Lächeln alles von sich schob und ihren Schreibtisch wieder zuschloß.

„Bin ich nicht töricht!“ sprach sie bei sich selbst. „Müßte Frau von Willnangen nicht laut auflachen, wenn sie läse, wie ich eifrig ernsthaft, gleich einem sechzehnjährigen Mädchen, ihr in großer Herzensangst die Liebeserklärung eines kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglings mitteile und sie bitte, in dieser entsetzlichen Not mir zu raten? Nein! Wahrlich nein! So großen Lärmen wollen wir über ein solches Flackerfeuer nicht anstellen!“ Ihre Wangen erglühten in tiefer Beschämung. ›Wie war es mir möglich, die brausenden Ausbrüche eines exaltierten jugendlichen Sinnes so zu mißverstehen?‹ dachte sie, während sie den angefangenen Brief wieder aus dem Schreibtisch nahm und vernichtete. ›Weichheit des eben Genesenden, Frühlingsfreude nach langem Entbehren ließen ihn sich selbst verkennen; warum denn nicht auch mich? Er wird froh sein, wenn ich zu vergessen scheine, was ich nur vergessend verzeihen kann und was er gewiß nie wieder wagen wird, in Anregung zu bringen. Höchstens könnte nur durch Widerspruch erregter Eigensinn ihn zur Beharrlichkeit bewegen, und das muß vermieden werden.‹

Herrn von Aarheims Arzt erschien am folgenden Morgen, um Hippoliten die Erlaubnis zu erbitten, ihn am Abend besuchen zu dürfen. Moritz suchte seinen Jubel darüber in allen Sprachen, deren er mächtig war, auszudrücken und versicherte, nun ebenfalls in den nächsten Tagen wieder ausgehen zu können.

„Wir wollen uns damit denn doch nicht übereilen“, erwiderte der Arzt, zu Gabrielen gewendet. „Auch dem jungen Grafen wäre es sehr gesund, wenn er noch einige Tage daheim bleiben wollte, aber er läßt sich nicht halten und so ist es geratener, wenn wir ihm das Ausgehen mit gehöriger Sorgfalt erlauben, als daß er uns, wie gestern geschah, entspringt, und unnützerweise in Angst versetzt. Ich fand ihn nachmittags in heftiger fieberhafter Bewegung; auch seine Wunde schien sich wieder entzünden zu wollen, und doch war er augenscheinlich mehr exaltiert als krank. Ich wußte nicht, was ich aus dem wunderbaren Zustand machen sollte und war schon im Begriff, ihn im Verdacht eines bedeutenden Vergehens gegen die ihm vorgeschriebene Diät zu halten, als ich erfuhr, daß er in der Sonnenhitze von einem Ende der Stadt bis zum andern gelaufen sei.“

Hippolit erschien gegen Abend. Gabriele war absichtlich bei seiner Ankunft in Moritzens Zimmer zugegen. Er errötete, erbleichte und kam bei ihrem Anblick sichtbar außer Fassung, doch Moritzens ausgelassene Freude über das Wiedersehen seines Lieblings überstimmte alles und verbarg auch die kleine Verlegenheit, deren Gabriele im ersten Augenblick sich doch nicht gänzlich erwehren konnte. Moritz war an diesem Abend, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, die Seele des kleinen Vereins; er scherzte, lachte über seine eigenen Einfälle und ließ übrigens niemanden zum Worte kommen. Hippolit bemühte sich zwar, wie sonst munter und unterhaltend zu erscheinen, aber der Zwang, den er sich dabei antat, konnte nur einem Beobachter, wie Moritz war, entgehen. Gabriele ward dessen wohl gewahr, sie nahm ihn als Beweis des beschämenden Gefühls, mit dem er des gestrigen Morgens gedenken mochte und strebte nur, durch möglichste Unbefangenheit das Andenken einer Szene zu vernichten, die sie am liebsten ganz in Vergessenheit begraben hätte.

Vierzehn Tage vergingen, während welchen Hippolit Gabrielen täglich, doch nie allein sah. Er selbst schien dieses zu vermeiden und hütete seine Blicke wie seine Worte, so daß sie wiederum gegen ihn, sie wußte selbst kaum wie, in ihren gewohnten zutraulichen Ton geraten konnte. Seine Genesung vollendete sich in dieser Zeit und auch Moritz erholte sich genugsam, um tagelang mit Planen für den Rest des Sommers sich zu beschäftigen. Jeden Tag wurde eine andere Reise in Vorschlag gebracht, alle Beschreibungen großer und kleiner Bäder, in der Nähe und Ferne, wurden herbeigeschafft, aber es fanden sich immer am Morgen triftige Gründe, das gestern abend Gewählte wieder zu verwerfen.

Gabriele hatte allen diesen Beratschlagungen immer sehr gelassen und gleichgültig beigewohnt, bis Moritz eines Morgens mit ganz ungewohnt adeligen und ritterlichen Gesinnungen aufstand, sich zum Frühstück bei ihr melden ließ und ihr dabei sehr feierlich erklärte, daß er jeden Edelmann für einen Toren achte, der ohne Not, ferne von dem Sitz seiner Ahnen, im bunten Gewühl der Menge sich herumstoßen lasse, und daß er deshalb gesonnen sei, sich mit ihr innerhalb zweier Tage nach Schloß Aarheim zu begeben, um dort wenigstens bis zum nächsten Winter zu residieren.

Schloß Aarheim wiederzusehen! Tausend widersprechende Gefühle wechselten in Gabrielens Gemüt bei diesem Gedanken. Es war ihr, als harre ihrer in den heiligen Mauern irgend etwas Unerwartetes, etwas Unerhörtes. Nicht um die Welt hätte sie eine Silbe gesprochen und Moritzens Entschluß wankend gemacht, aber sie bebte in ängstlicher Freude vor dessen Ausführung.

Mit den altritterlichen Gesinnungen überkam den Baron auch ein Anflug von altritterlicher Gastfreiheit. Rechts und links lud er nun Freunde und Bekannte ein, wochen-, ja monatelang in der Burg seiner Ahnen bei ihm zu weilen. Auch Gabriele mußte an Frau von Willnangen schreiben und sie bitten, mit Augusten und den Kindern, die noch übrige Zeit bis zur Heimkehr Adelberts und des Generals bei ihr zuzubringen. Während sie mit diesem Briefe sich beschäftigte, trat Hippolit in ihr Zimmer und zum ersten Mal seit dem Morgen in der Laube sah sie sich mit ihm allein.

Niemand hätte in dem bange und beklommen in augenscheinlicher Verlegenheit Dastehenden, die vorlaute Zierde der elegantesten Zirkel, den dreisten Liebling der glänzendsten Damen wiederzuerkennen vermocht. Er hatte recht ehrlich mit sich gekämpft, ob er nicht die Reise nach Aarheim als Anlaß ergreifen solle, um sich wenigstens auf einige Zeit von dem Gegenstand einer Leidenschaft zu entfernen, deren Hoffnungslosigkeit sowohl als Unbezwingbarkeit ihm mit jedem Tage fühlbarer wurde. Schon glaubte er sich Sieger, als Moritzens Einladung ihn von der geträumten Stufe herunterriß. Solange er noch an der Möglichkeit zweifeln konnte, in Gabrielens Nähe, unter ihrem Dache, in der glücklichen Zwanglosigkeit eines ländlichen Aufenthalts selige Tage zu verleben, solange schien es ihm, als könne er entsagen; doch jetzt, da dieses Glück ihm wirklich so nahe geboten ward, daß er es beinahe ohne Unschicklichkeit nicht von sich weisen durfte, jetzt mußte er es ergreifen und sollte er darüber zugrunde gehen. Er dachte gar nicht mehr daran, freiwillig darauf resignieren zu können, und nur der Zweifel marterte ihn, ob Gabriele ihm erlauben werde, die Einladung anzunehmen.

„Herr von Aarheim hatte die Güte, mich einzuladen“, flüsterte er ängstlich und kaum vernehmbar. –

„Und Sie fürchten die Burggeister? Und möchten uns lieber nicht begleiten?“ unterbrach ihn Gabriele mit etwas erzwungener guter Laune, denn Hippolits Verlegenheit steckte auch sie an. „Wenn ich Ihnen raten darf“, fuhr sie lächelnd weiter fort, „so überwinden Sie Ihre Geisterfurcht und begleiten uns; finden Sie dort nicht das Gewohnte, so finden Sie dafür das Ihnen Neue. Die ehrwürdige Burg, das wilde, schöne Tal, die Felsen und Höhlen, ja selbst die tiefe Einsamkeit, Ähnliches ist Ihnen vielleicht im Leben noch nicht vorgekommen. An geselliger Abwechselung wird es uns ebenfalls nicht gänzlich fehlen; viele unserer hiesigen Freunde versprachen auf ihrer Rückkehr aus den böhmischen Bädern einige Tage bei uns zuzubringen und den kurzen Umweg weniger Meilen nicht zu scheuen. Und um Sie nicht ganz mit der Zukunft vertrösten zu müssen, so habe ich auch Hoffnung, mir Ida und Bella von Schöneck von ihrer Mutter zur Begleitung zu erbitten. Die kaum zwei Tagereisen entfernte große Stadt, wo ich bei meiner Tante zuerst in der Welt erschien, wird uns hoffentlich ebenfalls manchen angenehmen Besuch früherer Bekannten zusenden“, setzte sie hinzu, da Hippolit noch immer schwieg.

„Wie über allen Ausdruck gütig ist es, daß Sie sich das Ansehen geben wollen, als wünschten Sie mich zum Mitgehen zu bereden, während ich in Demut Ihrer Entscheidung harre, ob ich Sie begleiten darf“, sprach er endlich, sichtbar erleichtert. „Doch darf ich es gestehen? Daß die Aussicht, von so viel gleichgültigen Besuchern umschwärmt –“

„Es wird damit so gar arg nicht werden, als Sie es sich denken“, unterbrach ihn Gabriele; „wir werden genug der Tage, vielleicht sogar der Wochen frei behalten, um unsere alten Übungen wieder vorzunehmen; ich wette, es tut damit not, denn Sie sind gewiß während Ihrer Krankheit nicht fleißig gewesen; ebensowenig als ich bei der meines Gemahls es sein konnte. Das müssen wir wieder einbringen. Für Ihr Landschaftszeichnen bietet mein Tal Ihnen bei jedem Schritt die herrlichsten Punkte. Auch unsere musikalischen Übungen und vor allem unser Studium der Kunstgeschichte wollen wir mit Eifer wieder vornehmen. Sowie wir uns in Schloß Aarheim nur ein wenig eingerichtet haben, sollen Winckelmann und der alte Vasari wieder an die Reihe kommen. Ida und Bella werden gern an alle diesem tätigen Anteil nehmen.“

Ziemlich gegen ihre sonstige Art hatte Gabriele rasch hintereinander weg gesprochen, als ob sie eine Indiskretion von Hippoliten befürchtete und ihn deshalb lieber gar nicht zu Worte kommen lassen wollte. Er selbst hingegen war während der Zeit seiner innern Bewegung Meister geworden und so nahm von nun an das Gespräch eine ruhigere Wendung, währenddessen beide vereint eine Auswahl unter Büchern, Musikalien und allerlei Kunstgerät trafen, die sie mit nach Schloß Aarheim nehmen wollten. Hippolit schwamm dabei in einem Meer von Wonne, doch hütete er sich gar sehr vor jeder, auch der unmerklichsten Äußerung seines Empfindens.

Gabriele hatte sich bis jetzt täglich unzähligemal wiederholt, daß nichts lächerlicher sein könne, als wenn sie jene Erklärung Hippolits für etwas mehr nehmen wolle als für jugendliche Übereilung, in einem durch Zufälligkeiten bis zur Überspannung gereizten Zustande. Auch war sie von der Wahrheit dieser Ansicht fest überzeugt, vielleicht weil sie es sein wollte, denn wer vermag zu unterscheiden, was ihr selbst immer dunkel blieb? Eine Art ängstlicher Übereilung im Gespräch, die ihr nicht eigen zu sein pflegte, schien freilich oft, wie eben auch jetzt, geheimes Fürchten einer Aufklärung anzudeuten, das denn doch, ihr selbst unbewußt, in einem Winkel ihres Herzens lauschen mußte, den sie, aus verzeihlicher Zaghaftigkeit vielleicht, zu ergründen nicht wagen mochte.

Fern von allen, welche sie liebte, in der trostlosen Umgebung, zu der das Schicksal sie verurteilte, hatte sie in Hippoliten endlich eine für ihr Gemüt wie für ihren Geist gleich wohltuende Erscheinung gefunden. Sie konnte nicht ohne die reinste Freude, nicht ohne inniges Wohlwollen den glücklichen Einfluß bemerken, den ihre Leitung – und warum sollte sie es sich nicht aussprechen? –, den ihre Nähe an ihm übten. Je mehr angebornen Edelsinn, unglaubliche Güte und andere glänzendere Eigenschaften des Geistes und Gemüts er im Umgange mit ihr entfaltete, je deutlicher sah sie mit Schaudern, wie nahe er bei alle diesem dem Untergehen in Eitelkeit, Unglauben und Lieblosigkeit gewesen war. Nie, unter keinen Umständen, hätte sie ohne den tiefsten Schmerz ihn wieder loslassen, nie ihn dem eitelen Treiben wieder übergeben können, dem er an ihrer Hand so tapfer sich entwunden hatte. Und nun, nach seinem an Adelberten geübten Edelmut, fühlte sie noch durch das heilige Band inniger Dankbarkeit sich ihm verpflichtet. Daher fiel es ihr nicht ein, ihm eine strenge Richterin werden zu wollen, daher sah sie so gern in der Unruhe, die ihn in ihrer Nähe ergriff, nur das Bestreben, jedes Erinnern an ein Betragen zu verhüten, dessen er, ihrer Meinung nach, sich jetzt herzlich schämen mußte! Und wer mag sie deshalb tadeln? Wer mag es verdammen, daß ihrem reinen Gemüt nie der Gedanke kam, um einer dem Irrtum verfallenen Minute willen ihn dem Verderben preiszugeben? Gabriele war zu rein tugendhaft, um je daran zu denken, es sein zu wollen; daher konnte ihr der Gedanke gar nicht kommen, daß sie hier vielleicht ein Opfer zu bringen habe.

Ida und Bella von Schöneck waren ein paar gute, liebe und schöne Kinder, deren harmlose Gesellschaft nur dazu dienen konnte, das Einerlei eines zu kleinen Kreises zu unterbrechen, ohne durch großes Übergewicht störend zu werden. Bei ihrer in sehr beschränkten Umständen lebenden Mutter hatten sie nur einsame Tage gesehen, bis Gabriele der armen lebenslustigen Mädchen sich annahm und ihnen zu mancher, ihrem Alter und ihrem Range angemessenen Freude verhalf, nach der sie bis jetzt sich um so heißer gesehnt hatten, je ferner sie ihnen geblieben war.

Alles Neue war ihnen willkommen, daher fanden sie sich am Tage der Abreise mit frohen erwartungsvollen Gesichtern bei Gabrielen ein, um sie nach Schloß Aarheim zu begleiten. Sie fuhren in Gabrielens Wagen. Moritz hatte seinem jungen Freunde einen Platz neben sich in seiner, nach ganz eigner Erfindung erbauten Batarde bestimmt, doch dieser zog es gewöhnlich vor, auf einem der schönen Pferde, die er sich nachführen ließ, bald Gabrielens Wagen zu umschwärmen, bald morgens einige Stunden früher aufzubrechen, um die übrigen im gemeinschaftlichen Absteigequartier zu empfangen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele