Erster Abschnitt. - Wie dem Blitz der Donner, so schnell war bei der Entscheidung von Gabrielens Geschick die Erfüllung dem ersten Drohen der Gefahr auf dem Fuße gefolgt. ...

Du standest an dem Eingang in die Welt,
Die ich betrat mit klösterlichem Zagen,
Sie war von tausend Sonnen aufgehellt,
Ein guter Engel schienst du hingestellt,
Mich aus der Kindheit fabelhaften Tagen
Schnell auf des Lebens Gipfel hinzutragen,
Mein erst Empfinden war des Himmels Glück,
In dein Herz fiel mein erster Blick!

Schiller


Wie dem Blitz der Donner, so schnell war bei der Entscheidung von Gabrielens Geschick die Erfüllung dem ersten Drohen der Gefahr auf dem Fuße gefolgt.

Ernesto hatte im Drange der Begebenheiten keinen ruhigen Augenblick gefunden, um Frau von Willnangen auf die Möglichkeit des fast Unglaublichen vorzubereiten, und selbst nachdem schon alles entschieden war, währte es noch mehrere Tage, ehe er Mut und Ruhe des Geistes genug gewinnen konnte, um ihr zu schreiben. Überdies stand er nach dem Tode des Barons wirklich ganz allein in der alten grausenvollen Burg, mitten unter einem Haufen verschüchterter, hülfloser Menschen, die alle zu ihm aufblickten, die von ihm beraten und in Tätigkeit gesetzt zu werden verlangten, um nur dadurch ihren eignen Gedanken zu entgehen.

Moritz war zufolge seiner armen, schwachen, an tausend Kleinigkeiten sich anklammernden Natur im ersten Schrecken ganz unfähig geworden, nur einen einzigen Gedanken klar zu fassen; noch weniger vermochte er, einigermaßen zweckdienliche Anstalten zu treffen, wie sie die Umstände heischten. Seine unglaubliche Unbeholfenheit, Gabrielens bewußtloser Zustand, selbst die ängstliche müßige Neugier der Bedienten, alles vereinigte sich, die ganze Tätigkeit des einzigen hellen Geistes in Anspruch zu nehmen, der mitten in diesem Wirrwarr fähig geblieben war, für die übrigen zu denken.

Ernestos erste Sorge mußte das feierliche Leichenbegängnis des Barons sein, dessen selbstgewählte Todesart er um Gabrielens Ruhe willen möglichst zu verheimlichen suchte. Der Übung dieser traurigen Pflicht folgte des neuen Besitzers festliche Übernahme der Güter und dem zunächst die Untersuchung der bisherigen sehr nachlässig betriebenen Verwaltung derselben. Ernesto übernahm gern jedes Geschäft, teils um Gabrielens willen, teils weil er wirklich unausgesetzter Tätigkeit bedurfte, um sich selbst aufrecht zu halten.

Moritz wendete indessen seine Aufmerksamkeit auf unzählige unbedeutende Kleinigkeiten, die aber alle mit der höchsten Wichtigkeit von ihm betrieben wurden.

Ruhig, keiner Erdennot sich bewußt, aber krank zum Tode, lag während der Zeit Gabriele in tiefer Betäubung auf ihrem Bette, bis sie nach mehreren Tagen wieder zur Besinnung und ins Leben zurückgerufen ward. Ihr Erwachen glich dem eines Kindes, das nach einer Nacht voll ängstlicher Träume beim ersten Aufschlagen der Augen in das milde treue Antlitz der Mutter blickt. Ihr war, als fände sie sich wieder im Hause der Frau von Willnangen wie bei ihrer ersten Krankheit. Wie damals sah sie Ernesto und Annette neben ihrem Bette; freundlich reichte sie beiden die Hand und begrüßte mit mildem Lächeln den tiefblauen Himmel voll goldner Herbstwolken, in den sie durch ein großes Fenster, ihrem Bette gegenüber, blicken konnte.

„Ich bin wohl wieder krank gewesen?“ sprach sie, „ich habe euch wohl wieder recht viel Sorge gemacht? Mir ist auch, als sei ein großes Unglück geschehen, aber ich weiß nicht welches? Und so habe ich doch wohl nur davon geträumt.“ Da ging die Türe auf, Moritz trat herein, sein Anblick, seine laute wunderliche Freude über ihre Besserung, riefen sie plötzlich in helles Bewußtsein zurück. Alles, alles, was geschehen war, stand in einem fürchterlichen Momente vor ihr, klar wie der Tag, die ganze Hoffnungslosigkeit ihrer Zukunft, alle Schrecken der nächsten Vergangenheit. Sie verbarg das Gesicht in die Kissen, ihre Augen schlossen sich wieder, sehnlich betete sie in ihrem Herzen um neuen Schlummer ohne Erwachen, aber sie ward nicht erhört, ihre Jugendkraft siegte und jeder Tag führte sie von nun an näher der völligen Genesung.

Der Tod ihres Vaters war das einzige Ereignis, dessen Gabriele sich nicht deutlich erinnerte. Sie selbst hatte ja, fast im nämlichen Momente, als er zusammensank, ebenfalls das Bewußtsein verloren, und so konnte es Ernestos sorgsamer Freundschaft gelingen, sie nach und nach auf diese traurige Begebenheit vorzubereiten, und vor allem ihr das Entsetzen über die Todesart des Barons zu ersparen.

Heiß und bitter quollen Gabrielens Tränen, als sie endlich vernahm, daß sie ihrem Vater mit allem, was sie ihm opferte, nur ein paar ruhige Minuten hatte erkaufen können. Alle ihre auf dieses Opfer gegründeten Hoffnungen von seiner zufriedenen Zukunft, seinem heitern Alter, seiner Wiederkehr zu den Menschen und zu milderm Gefühle waren nun verschwunden auf immer; alles, woran sie unter der ungeheuren Last der übernommenen Pflichten sich zu halten gehofft, war nun mit ihm zu Grabe getragen. Gabrielen blieb kein Trost als das Bewußtsein, der heiligen Stimme in ihrem Innern gefolgt zu sein.

Nach langem Zögern ergriff Ernesto endlich die Feder, um Frau von Willnangen die traurige Geschichte der im Schloß Aarheim verlebten Tage kundzutun. Das grausenvolle Gespräch zwischen Vater und Tochter, durch welches zuletzt Gabrielens traurige Bestimmung entschieden ward, konnte er ihr fast wörtlich mitteilen. Denn als sich der Baron mit seiner Tochter eingeschlossen, hatte Ernesto in der höchsten Angst seine Zuflucht zu Frau Dalling genommen. Zwar war diese nicht imstande gewesen, ihn in das fest verriegelte Vorzimmer zu bringen, aber sie hatte ihn auf verborgnen Wegen und Treppen zu einem kleinen Behältnis neben dem Kamine des Barons geführt, von wo aus beide alles deutlich vernehmen konnten, was im Zimmer gesprochen ward. Nachdem Ernesto Gabrielens mütterliche Freundin mit jedem, auch dem kleinsten Umstände bekannt gemacht hatte, der zur Entscheidung ihres Geschicks beitrug, fuhr er in seinem Briefe also weiter fort:

„Alle die Bilder und Rätsel, mit denen der Baron Gabrielen betäubte, der grüne Löwe, die schlummernde Königin, alle bestätigten es mir, daß Forschen nach übermenschlichen Kenntnissen, besonders nach dem Stein der Weisen, ihn dem Untergange zuführte. In dem zunächst vergangnen Jahrhundert verfielen manche an Geist ausgezeichnete, bedeutende Männer in den nämlichen Irrtum und gingen unter wie der Baron. Auch in unsern, jedem verjährten Unsinn, jeder Schwärmerei so günstigen Tagen fällt dem Streben nach sogenanntem verborgnen Wissen manches beklagenswerte Opfer, ohne daß die Welt viel davon erfährt.

Ich bin zufällig mit der Tendenz und dem Ton der in jenes Fach einschlagenden Schriften wohlbekannt. Mir fiel ein staubiger Wust mago-kabbalistischer und theosophischer Bücher einst in Italien, beim Aufräumen einer alten Bibliothek, in die Hände. Neugierig durchblätterte ich sie, und vieles ist mir aus ihnen im Gedächtnis geblieben, was mir jetzt das Betragen von Gabrielens Vater erklärt. Unter andern entsinne ich mich einer sehr feierlichen Warnung vor der fünften Wiederholung eines chemischen Prozesses, der, viermal geübt, jedesmal die Kraft des Steines der Weisen verdoppelt, aber dem, der ihn zum fünften Mal wagt, unwiderrufliches Verderben bringt. Diese Warnung erklärt mir des Barons Verzweiflung beim Ausbruch der Flamme, sein späteres Klagen über das Vergessen der fünften Zahl, durch die er wahrscheinlich das Unheil sich selbst zugezogen zu haben wähnte. Ich glaube auch die Angst zu verstehen, mit der sein in Wahn versunkener Geist, kämpfend zwischen Sehnsucht und Grausen, der Todesstunde entgegen sah. Wer sich solchen Träumereien überläßt, wie dieser unglückliche Greis es tat, der ist auch jeder quälenden Einwirkung des Aberglaubens und vor allem dem Grauen der Gespensterwelt verfallen, welchem auch wohl hellere Geister in dunkeln Momenten nicht immer mit Gelingen entgegenstreben.

Unter der vor Jahrhunderten schon erbauten Burg Aarheim erstrecken sich unabsehbare, in den Fels selbst hineingehauene feuerfeste Gewölbe. Ich habe sie untersucht, soweit ich vordringen konnte. Nach allen Richtungen hin bilden sie zwei Reihen, unter- und übereinander, in bedeutender Tiefe; viele sind verschüttet, viele von den jetzigen Burgbewohnern nie besucht, einige werden von ihnen noch als Keller benutzt. Ich habe erfahren, daß der verstorbene Baron oft stundenlang in den Gewölben unter dem jetzt abgebrannten Flügel des Schlosses verweilte. Vermutlich ruht dort manches ihm wichtige Geheimnis, manches Resultat seiner ängstlichen mühsamen Arbeit, auch wohl manche Schrift, die auf seiner dunkeln Bahn ihn leitete. Was dort liegt, entzog der schützende Fels wahrscheinlich den Flammen, aber der Zugang dazu ist beim Einsturz des Gebäudes durch hohe Schutthaufen, durch zertrümmerte Mauern und schwere Steine unzugänglich gemacht. Des Barons Blick ruhte stets auf diesen Trümmern, sein Sinnen und Trachten ging nur dahin, jede dort begrabene Spur seines Hoffens und Mißlingens der Welt zu verbergen. Es war ihm unmöglich, nur einen Augenblick seine Gedanken von diesem Wunsche abzuziehen, der dadurch bei ihm zur fixen Idee geworden. Kein Wunder daher, daß ihm vor der Möglichkeit grauste, dort noch nach Jahrhunderten gespenstisch Wache zu halten, im Fall er ohne die Gewißheit der Erfüllung dieses seines einzigen Wunsches von der Oberwelt scheiden mußte. Seine Bücher konnten ihn nur in dieser Angst bestärken; ich erinnere mich in einer solchen Schrift sogar eine förmliche Abbildung des Aufenthalts unseliger Geister gesehen zu haben, die, wie jene Schwärmer lehren, diesen allnächtlich mit der Oberwelt vertauschen müssen, bis der letzte Wunsch erfüllt ist, der sterbend sie beunruhigte.

Es wird Ihnen unglaublich scheinen, liebe Frau von Willnangen! Daß ein Mann, der, wie der Baron, durch Geist, Bildung und Verstand sich einst in der Welt auszeichnete, bis zu dem Glauben an solchen Unsinn sinken konnte; aber Einsamkeit, Ehrgeiz und durch diesen erregtes stetes Hinstreben nach einem Punkte haben wohl noch hellere Geister verdüstert. Übrigens fiel des Barons Jugend in die herzlose, trostlose, jedes höhere Gefühl austrocknende Zeit von Voltaire und Konsorten, und glauben Sie mir, wer in seiner Jugend sich über den bon Dieu mokieren lernte, der kommt im spätem Alter leicht dahin, vor dem Teufel zu zittern.

Unerachtet seiner jammervollen Ansicht von unsrer Zukunft jenseits, peinigte den Baron dennoch ein unsäglicher Überdruß am Leben, eine ewige Sehnsucht nach der Stunde des Scheidens aus dieser Welt, in welcher alle sein Hoffen zerstört war. Ich danke Gott, daß Gabriele die unselige Verknüpfung ihres Geschicks nicht ganz zu übersehen vermag. Wüßte sie, daß sie selbst ihrem Vater das längst erwartete Signal gab, die Bürde des Lebens getrost abzuwerfen, unter deren Last er längst seufzte, wüßte sie, daß sie sein Todesurteil sprach, während sie Ruhe und Freude für den Spätherbst seines Lebens ihm erkaufen wollte, ich glaube, sie überlebte diese Entdeckung nicht. Nur einmal wagte ich die Äußerung gegen sie, daß vielleicht lebhafte Freude über die Erfüllung seiner Wünsche ihm den Schlagfluß zuzog, an dem sie glaubt, daß er gestorben sei, und ich bereute es bitter, als ich sah, wie gewaltsam erschütternd dieser Gedanke ihr Gemüt ergriff.

Und so habe ich denn das Verderben des liebenswürdigsten Wesens vor meinen Augen bereiten sehen und durfte es nicht abwenden. Vergebens war meine ängstliche Sorge, vergebens, daß ich wie Argus sie bewachte! Wie schwach ist die Hand der Freundschaft, um gegen das Schicksal anzukämpfen! Ich sah alles und durfte nichts andern, um Gabrielens willen durfte ich es nicht. Ich danke meinem guten Genius, daß er mich mit unsichtbarer Hand im Augenblick der Ausführung von einem Plan zurückhielt, den die Verzweiflung mir eingegeben hatte, daß ich Gabrielen nicht gewaltsam entführte, wie ich es Willens war, als ich jeden andern Weg der Rettung mir versperrt sah. Umsonst hätte sie den Schmerz gefühlt, mich einer solchen Tat fähig zu wissen. Nichts als offenbare Gewalt hätte sie abhalten können, zu ihrem Vater zurückzugehen und seinem Willen sich zu unterwerfen; ich selbst hätte sie ihm ausliefern oder sie gefangenhalten müssen. Ihre Achtung, ihr Vertrauen, jede Möglichkeit, ihr in Zukunft als treuer Freund zur Seite zu stehen, hätte ich auf ewig und nutzlos verloren. Wir beide, teure Freundin! Wir beide kannten bis jetzt noch nicht die Tiefe und Festigkeit dieses Gemüts, nicht die seltene Kraft, mit der dieses sonst so zarte Geschöpf alles zu tragen, allem zu widerstehen weiß, nur nicht dem innern Vorwurf des Unrechts oder auch nur versäumter Pflicht. Bei aller unbeschreiblichen Ähnlichkeit mit dem Engel, der ihr zur Mutter gegeben ward, trägt Gabrielens Wesen doch auch starke Züge von dem felsenfesten Sinne ihres Vaters, dessen angestammte Geistesgröße ich, trotz seiner Verfinsterung, anerkennen mußte.

Unerachtet des unaussprechlichen Mitleids, beobachte ich jetzt mit Bewunderung, wie Gabriele den furchtbaren Kampf mit sich selbst besteht. Sie geht gewiß als Siegerin hervor, aber vielleicht sterbend. Schweigend muß ich es sehen, wie sie die Einsamkeit ihres Krankenzimmers benutzt, um mit ihrem armen wunden Herzen fertig zu werden und sich auf den Weg vorzubereiten, welchen sie künftig zu gehen hat. Ich darf und kann ihr weder einreden noch raten; beides darf man überhaupt so selten, gerade wenn es der Mühe wert wäre. Und so ergriff ich heute den ersten besten Anlaß, als ich sie eben heitrer als sonst sah, den Wunsch zu äußern, nächstens meine Einsiedelei im Felsental aufsuchen zu dürfen. Ich gab vor, diese letzten schönen Tage des Spätherbstes zu Studien für meinen Johannes benutzen zu wollen, aber ich sah deutlich, wie wenig dieses Vorgeben sie täuschte.

Lange ruhte ihr schönes dunkles Auge auf mir, ehe sie mir antwortete, dann reichte sie lächelnd unter Tränen mir die Hand. ›Wo lebt noch ein Freund, der wie Sie zu kommen und zu gehen und alles zu erraten weiß, was gut wäre und nützlich?‹ sprach sie. ›Gehen Sie, lieber Ernesto! weil Sie es wollen‹, setzte sie hinzu ›gehen Sie morgen, um womöglich täglich wiederzukehren. Es ist freilich nötig, daß ich mich gewöhne, allein zu stehen, aber nur allmählich, wie es die Kinder lernen, darum lassen Sie mich nicht mit einem Male ganz ohne Stütze.‹

Es blieb mir nicht verborgen, wie die Gewißheit, daß ich nicht mehr stündlicher Augenzeuge von den Lächerlichkeiten Moritzens sein werde, Gabrielen über meine Entfernung tröstet, obgleich ich mir keine Anmerkung mehr über ihn erlaubte, seit jenes unselige Band geknüpft ward.

Arme, arme Gabriele! Gibt es ein härteres Frauenlos als das, sich des Mannes schämen zu müssen, dem man alles aufopferte! Oft ist mir, als wäre Augustens Geschick neben ihrem harten starren Gebieter doch noch dem ihrer unglücklichen Tochter weit vorzuziehen gewesen.

Dieser Moritz, den ich nie mich werde entschließen können Gabrielens Gemahl zu nennen, dieser Moritz geht umher wie einer, der nicht weiß, ob ihm ein Königreich zufiel oder ob ihm nur davon träumte. Noch wage ich es nicht, von seinem Benehmen gegen Gabrielen eine Meinung zu fassen, mich dünkt, es sei unstet und wechselnd, wie seine ganze Erscheinung, bis auf die Sprache sogar. Meine Überzeugung, daß er wirklich zu gutmütig ist, um einem lebenden Geschöpf wissentlich wehe zu tun, gibt mir zuweilen einigen Trost, aber leider schmerzt jede unversehens erhaltene Wunde deshalb nicht weniger, weil sie uns ungeschickterweise und ohne Vorbedacht versetzt ward. Am beunruhigendsten ist mir eine Spur von mißtrauischem Wesen, das ich leider an ihm bemerke; vermutlich ist es das dumpfe Gefühl eigner Unliebenswürdigkeit, was ihn argwöhnisch macht, aber ich fürchte davon die schlimmsten Einwirkungen auf Gabrielens künftige Ruhe.“

Der gesellige Kreis, zu welchem Frau von Willnangen und Auguste gehörten, weilte noch immer in Karlsbad, obgleich die Brunnenzeit beinahe vorüber war und die Zahl der übrigen Fremden mit jedem Tag merklich abnahm. Alle, den Kapellmeister und den Dichter mit eingeschlossen, hatten dem General Lichtenfels versprechen müssen, ihn auf sein nur wenige Tagereisen entferntes Gut zu begleiten, um dort die letzten schönen Tage des Spätherbstes mit ihm zuzubringen. Man harrte nur auf bestimmte Nachricht von Gabrielen, von der man noch nichts als ihre Ankunft in Schloß Aarheim erfahren hatte, um dann sogleich die kleine Reise gemeinschaftlich anzutreten.

Frau von Willnangen hätte sich eigentlich gern davon ausgeschlossen, da sie vernahm, daß auch die Familie Wallburg mit von der Partie sein würde, aber sie wußte nicht, wie sie dieses anfangen solle, ohne den General durch eine abschlägige Antwort zu kränken, auch fürchtete sie durch gewaltsames Eingreifen dem Glück ihrer Tochter vielleicht in den Weg zu treten.

Augustens sich stets gleichbleibende Heiterkeit, mit der sie Leos augenscheinliche Huldigung sich gefallen ließ, ohne ihn weder geflissentlich anzuziehen noch zurückzustoßen, beruhigte sie ebenfalls nicht wenig. Das fröhliche Mädchen nahm augenscheinlich das Leben noch zu leicht, als daß man ihrer Zukunft wegen hätte ernsten Besorgnissen Raum geben müssen. Mit echt jungfräulicher Grazie wußte sie den Ernst zum Spiel, das Spiel zum Ernst zu wandeln, und, gleich entfernt von Leidenschaftlichkeit und Ziererei, nichts zu gewähren und dennoch gefällig zu erscheinen. Auch verstand es niemand besser als sie, sich herzlich zu bezeigen, ohne doch zur Vertraulichkeit herabzusinken.

Ernestos lange erwarteter Brief langte endlich in Karlsbad an. Der Schmerz der Frau von Willnangen und ihrer Tochter, als sie nun die Lösung von Gabrielens Geschick vernahmen, läßt sich mit Worten nicht ausdrücken. Sie lasen den Brief wieder und immer wieder und trauten dabei ihren Sinnen nicht, denn was geschehen war, ließ alles, was sie im Augenblick des Scheidens gefürchtet hatten, so weit hinter sich zurück, daß es ihnen fast unmöglich ward, an solche abenteuerlichen und fabelhaft erscheinenden Ereignisse zu glauben.

Auguste zerfloß beinah in Tränen, als ihr endlich jedes Bestreben, länger an Gabrielens Unglück zu zweifeln, mißlang. „Ach! Wäre sie doch damals in unsern Armen gestorben“, rief sie, „schmerzlicher als jetzt hätte ich nicht um sie weinen können und ihr liebes Bild würde zeitlebens wie ein tröstender Engel mich umschwebt haben. In jeder frohen wie in jeder trüben Stunde hätte ich sie in himmlischer seliger Glorie mir gedacht. Jetzt, wenn ich wieder froh werden sollte, muß ich doch mitten in der Freude mich betrüben, sooft es mir einfällt, welch ein Leben sie indessen an der Seite jenes verhaßten lächerlichen Menschen führet, und jeder Schmerz, der mich trifft, wird mir doppelt wehe tun, weil ich immer denken werde: Gabriele ist doch noch tausendmal unglücklicher als ich es je werden kann.“

„Frevle nicht mit dem Schicksal, mein armes Kind“, sprach Frau von Willnangen, indem sie die weinende Tochter in ihre Arme schloß. „Du weißt ebensowenig, welche Pfeile es für dich aufbewahren mag, als du imstande bist, den ganzen Umfang von Gabrielens Elend zu übersehen. So drückend ihr häusliches Leben an der Seite des ungeliebten, sogar widerwärtigen Mannes auch wahrscheinlich sein wird, es ist doch nicht der höchste Punkt ihres Unglücks. Jedes stille heimliche Opfer läßt sich bringen, das fast Unleidliche läßt sich ertragen, wenn wir es nur den Augen der Welt verheimlichen können. Shakespeares › Smiling at grief‹ ist mehr oder weniger das Los und die Tugend der besten unsers ganzen Geschlechts; wir sind dazu geboren. Nur das Mitleid der Welt ist eine fast unerträgliche Last, und doch wird unsre arme Gabriele diese Last tragen müssen, wenn sie sich nicht in Einsamkeit begraben will oder kann.“

„Mit Moritz von Aarheim in der Einsamkeit!“ rief Auguste.

„Es ist furchtbar, ich gebe es zu“, erwiderte Frau von Willnangen, „aber immer doch noch besser, als das Mitleid der guten Freundinnen, die von nun an sich alle berufen fühlen werden, zu Gabrielen stets wie zu einer Kranken zu sprechen, und sich einbilden, die Stimme immer ein paar Töne höher nehmen zu müssen, um mit recht kläglichem Laut und Blick zu fragen: wie sie sich denn befinde? Und denke dir Gabrielens Gefühl in der Gesellschaft, wenn sie bei jeder Plattheit des Menschen, zu dem sie doch nun einmal gehört, unaufhörlich erröten muß; denke dir, wie ihr sein wird, wenn sie sich das heimliche verlegene Lächeln der Anwesenden und die ängstlich ungeschickte Sorgfalt nicht länger verbergen kann, mit der die Bessern um ihrer willen sich stellen werden, als hätten sie nichts bemerkt! Ich weiß nichts Traurigeres als solch ein Los.“

„Und was fängt Gabriele nun mit Ottokars Bild in ihrem Herzen an?“ rief Auguste.

„Ich hoffe, sie soll es heilig und treu bewahren in reiner Brust“, erwiderte Frau von Willnangen. „Möge sie es immer in der Strahlenglorie sehen, in welcher es ihrem jugendlich erwachenden Blicke zuerst erschien, so bleibt es der Schutzgeist ihres Lebens auf einer sehr gefahrvollen Bahn. Meine arme Gabriele ist sehr jung, sehr unerfahren, um in der Welt als Gattin eines Mannes dazustehen, den sie nicht einmal zu lieben vorgeben kann, ohne abgeschmackt oder als Heuchlerin zu erscheinen. Und doch fürchte ich nicht wegen dessen für sie, was die Welt ihr etwa anhaben könnte, ich fürchte nur ihr Herz, wenn es erwacht. Möge Ottokars Angedenken es behüten!“

Sobald Frau von Willnangen nur Fassung dazu erringen konnte, eilte sie, die traurige Entscheidung von Gabrielens Schicksal der Gesellschaft mitzuteilen. Alle hörten sie zuerst mit Entsetzen und bald mit der innigsten Teilnahme, obgleich mancher Nebenumstand im Betragen des Barons und auch die Art seines Todes ihnen um Gabrielens willen verschwiegen ward. Zorn über die Bestimmung des liebenswürdigen Wesens war bei dem ältern Teil der Gesellschaft das überwiegende Gefühl, während Leo und seine Schwestern recht innig mit Augusten trauerten. Herr von Wallburg behauptete, es dem Novitätenkrämer, wie er Moritz von Aarheim nannte, gleich angesehen zu haben, daß sein Erscheinen nichts Gutes bedeuten könne; der General ging schweigend, aber heftig bewegt, im Zimmer auf und ab, und stand dann vor Adelbert still, der wie vernichtet, bleich und stumm allein in der fernsten Ecke des Zimmers saß.

„Armer Adelbert!“ sprach der General und strich liebkosend ihm über die dunklen Locken hin, „ich hoffte freilich, es solle anders kommen!“

Mit höchst schmerzlicher Gebärde ergriff Adelbert seines Oheims Hand, drückte sie an seine brennenden Augen, an sein hochschlagendes Herz. „Vater“, sprach er, „mein gütiger Vater! Ich hoffte nichts, ich wünschte nichts, ach! Ich kenne mich ja zu gut, was kann ein Unglücklicher wie ich noch hoffen oder wünschen! Aber ich erfreute mich ihrer Nähe, ihres Anblicks, wie ich der Sterne mich freue, ohne sie zu mir herabziehen zu wollen. Sie war so gut, so tröstend gegen mich wie ein Engel des Himmels, und eben weil sie es war, mußte sie untergehen. Ich bin es, ich, der sie dem Verderben entgegenführte; die Überzeugung davon vernichtet mich und doch ist es so. Nie hätte Moritz von Aarheim nur ihr Dasein geahnet, wenn sie nicht dort im Tempel mitleidig neben mir verweilte. Er wäre den nämlichen Abend abgereist, wie er es sich vorgenommen hatte, er wäre nimmer bei Lebzeiten des Barons nach Schloß Aarheim gekommen; nur um meinetwillen durfte das Verderben sie überschleichen. Ich bin vom Schicksal geächtet, niemand darf freundlich mir nahen!“ Mit verhülltem Gesicht verließ Adelbert nach diesen Worten das Zimmer, nur Allwill wagte es ihm zu folgen, dessen weiche Natur sich von ihm stets angezogen fühlte.

Der General sandte noch den nämlichen Abend einen Eilboten nach Schloß Aarheim, um die Bewohner desselben nebst Ernesto auf das dringendste zu sich einzuladen. Am folgenden Morgen eilte die ganze Gesellschaft Karlsbad zu verlassen, wo sie nichts mehr fesselte.

Ob Herr von Aarheim die Einladung des Generals annehmen, wie er sie aufnehmen würde, war die ganze Reise über der Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung. Viele von der Gesellschaft glaubten nach diesem ersten Schritte sein ganzes künftiges Betragen gegen Gabrielen im voraus beurteilen zu können, sie bedachten nicht die Unmöglichkeit, bei diesem wankenden formlosen Charakter auch nur von der jetzigen Minute auf die zunächst folgende schließen zu können. Alle blieben indessen voll Erwartung, und die, welchen Gabriele am teuersten war, zitterten heimlich vor dem Gedanken an die erste Stunde des Wiedersehens, so sehnlich sie auch diese herbeiwünschen mochten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele