Achter Abschnitt. - Gleich einer sorglichen Mutter pflegt die Natur ihre leidenden Kinder gern dem allberuhigenden Schlafe in die Arme zu legen, wenn sie sich ausgeweint haben, ...

Gleich einer sorglichen Mutter pflegt die Natur ihre leidenden Kinder gern dem allberuhigenden Schlafe in die Arme zu legen, wenn sie sich ausgeweint haben, und auch Auguste war endlich in den schweren todähnlichen Schlummer völliger Erschöpfung gesunken. Trüb und gedankenschwer blickte die neben ihrem Bette wachende Gabriele in den draußen helleuchtenden Morgen hinaus, als Annette leise die Türe öffnete, geheimnisvoll und schweigend ihr winkte und gleich darauf leicht und unhörbar wie eine Elfe auf den Fußspitzen über den Teppich hineilte und den Platz neben Augusten einnahm, den ihre Herrin eben verlassen hatte. Gabriele schwankte einen Augenblick erschrocken an der Türe, mit fragendem Blick sah sie das Mädchen an, aber an dem ängstlichen Klopfen ihres eigenen Herzens fühlte sie die Unmöglichkeit, lautlos die traurige Nachricht zu vernehmen, die sie zu hören befürchten mußte, und so eilte sie zitternd und stumm die Treppe hinab.

In ihrem Wohnzimmer fand sie Adelberten. Mit dem Ausdrucke der Verzweiflung sank er vor ihr hin, sowie sie hereintrat und umfaßte, tief zur Erde gebeugt, ihre Knie. Sie bebte bei seinem Anblick unwillkürlich zurück, eine Ahnung, der sie nicht Worte zu geben sich getraute, drückte ihr Herz bis zum Stillstehen zusammen; ängstlich blickte sie auf den Trostlosen, der noch immer vor ihr lag und hatte kaum Kräfte genug, ihn aufstehen zu heißen.


„Hier zu den Füßen des Schutzengels, dessen Trost, dessen Hülfe ich auf ewig entsagen muß, lege ich meinen Abschied von jedem Glück nieder, von jeder Freude, von mir selbst! Ich gehe, gleichviel wohin, ich suche das Elend, ich finde es überall fern von Augusten, fern von meinen Kindern“, sprach kaum verständlich Adelbert. Dann sprang er auf, trat einige Schritte von Gabrielen zurück und rief mit wildem Blick und heftig gerungenen Händen: „Nein! Nein! Es ist nicht möglich. Ich träume, ich will erwachen, ich muß erwachen! Es ist nicht möglich, daß ich selbst mir meinen eignen Himmel so schnöde verschlossen habe. Er war ja mein, er ist es noch, ich will erwachen, ich muß erwachen!“

„Sie sind erwacht. Gottlob Sie sind es“, sprach jetzt Gabriele mild und gefaßt. „Hoffen Sie, haben Sie Vertrauen zu denen, die Sie lieben. Das Ärgste ist doch nicht geschehen?“ setzte sie mit unsichrer Stimme hinzu. „Kein Blut hoffe ich? – Hippolit?“

„O hoffen Sie nichts Gutes mehr von mir“, unterbrach sie Adelbert mit vor dem Gesicht gefalteten Händen.

Grausen ergriff Gabrielen bei diesen Worten; abgewendeten Blickes wankte sie der Türe zu, doch er warf sich, sie aufhaltend, ihr in den Weg.

„Nein, ein Mörder bin ich nicht“, rief er, „doch ist es nicht mein Verdienst, daß ich es nicht bin. Augustens guter Engel bewahrte mich; der meine nicht; der hat auf ewig sich von mir gewendet!“

„So lebt Hippolit? Sie schlugen sich nicht?“ fragte Gabriele.

„Sein Blut floß, es floß von meiner Hand, ich Rasender! Aber er lebt, er wird leben“, rief Adelbert. „Um Augustens willen wird er leben.“

Lange noch fuhr er fort, sich bald zu verdammen, bald sein Geschick anzuklagen, während Gabriele, jetzt selbst beruhigter, sich abmühte, in den armen umdunkelten Geist ihres Freundes einen Strahl tröstender Hoffnung zu leiten.

„O bewahren Sie alle Ihre Milde, allen Ihren Trost für Augusten, mich überlassen Sie dem Untergange“, rief er. „Lieben und Verachten! Bezeichnete ich so nicht einst den höchsten Schmerz? Wie wird Auguste ihn tragen? Muß ich denn wünschen, sie möge mein vergessen?“

Gabrielens sanfte Stimme beschwichtigte indessen doch allmählich seine wilde Leidenschaftlichkeit. Sein Herz erwärmte, sein altes Vertrauen erwachte vor ihrer holdseligen Anmut, und so gelangte er bald dahin, ihr alles zu bekennen. Und wer erst dazu gekommen ist, vor einem Zweiten sich laut anklagen zu können, der beginnt im nämlichen Moment, halbausgesöhnt mit sich selbst, im eignen Herzen sich leise zu entschuldigen.

Bittere Beschämung, Reue, unaussprechliche Sehnsucht nach seinem ehemaligen glücklichen Leben hatten ihn aus dem Salon hinaus ins Freie getrieben; bekannte Stimmen, welche auf der Straße ihm entgegen kamen, bewegen ihn wieder umzukehren und die stillere Einsamkeit seines abgelegenen Zimmers aufzusuchen. Dort überraschte ihn geisterhaft Augustens nicht geahnete Gegenwart; mit seinem ganzen Dasein, sogar mit seinen Sinnen zerfallen, wußte er nicht zu unterscheiden: ob die beschämende Wirklichkeit ihn quäle oder ob Scheinbilder, durch inneres Bewußtsein ins Dasein gerufen, ihn irrten? Er floh halb wahnsinnig, mit der Hast des wildesten Entsetzens die Treppe wieder hinab, und am Fuße derselben empfingen ihn Herminiens ungebändigter Zorn, ihre schonungslosen Vorwürfe. Ach! Er glaubte in jenem Augenblick diese alle zu verdienen, denn sein Herz lag wie Eis in der wildbewegten Brust; die Täuschung der Sinne war geschwunden und er fühlte sich zwiefach meineidig, gegen sie wie gegen Augusten. Er hätte in diesem Moment die ganze Welt, am liebsten sich selbst vernichten mögen; denn mitten durch den Sturm seines Gemüts bebte noch der zitternde Klagelaut, mit dem Augustens Erscheinung ihm entschwunden war. Hippolits besonnene Klarheit, die sichere Ruhe, mit welcher dieser die schleunige Entfernung der Marquise als das zunächst Notwendigste betrieb, erbitterten den Aufgebrachten noch mehr. In seiner leidenschaftlichen Verworrenheit war ihm alles willkommen, was sich ihm bot, um seiner innern Verzweiflung in verzweiflendem Tun Luft zu machen. Und so ergriff er mit Freuden die jedes Mißverstehen ausgleichen sollenden Worte Hippolits als eine förmliche Ausforderung, die ihm Gelegenheit geben konnte, alle Schuld gegen Herminien wie gegen Augusten mit seinem Blute zu sühnen.

Im Wagen neben Herminien befiel ihn ein unaussprechliches Grauen vor ihr, wie vor dem Dämon seines Lebens; vergebens sprach sie ihm zu; er hörte ihre Stimme, ohne ihre Worte zu vernehmen, floh, von einem dumpfen Instinkt geleitet und ließ sich nicht halten, sowie sie die Türe ihres Hauses erreicht hatten. Gequält vom ängstlichen Bewußtsein verdienter Verlassenheit, in wilder Hoffnung auf den folgenden Morgen, irrte er nun heimatlos die ganze Nacht hindurch im Freien umher und strebte nur Hippolits Bild als das eines Feindes festzuhalten. Gleich zerstört von innen und außen, mit jenem Trotz, welcher das innere Bewußtsein eines Unrechts, das man nicht anzuerkennen fest entschlossen ist, allemal begleitet, betrat er zur bestimmten Stunde um fünf Uhr des Morgens das Zimmer Hippolits, der ruhig und heiter dem Erwarteten entgegen kam.

Ganz anders als der arme Adelbert, hatte dieser die Nacht zugebracht. Zwar war auch sein Blut bei der gestrigen Szene in Wallung geraten und er hatte deshalb, vom Zorn überwältigt, nicht widersprochen, da sein Erbieten zu jeder Erläuterung ganz anders aufgenommen wurde, als er es eigentlich gemeint hatte; doch in der ruhigen Einsamkeit seines Kabinetts ward er bald Herr seines leicht aufbrausenden Sinnes. Der pünktliche Gehorsam seines Kammerdieners hatte diese Einsamkeit gegen jeden Angriff, besonders gegen Moritzens Nachfragen zu sichern gewußt und so war Hippolit ungestört im ernsten Kampfe mit sich selbst fähig geworden, dem feindselig zu ihm Eintretenden freundlich-ernst die Hand entgegen zu reichen.

Adelbert stutzte einen Augenblick bei diesem unerwarteten Empfang, dennoch war er weit von dem Gedanken entfernt, die dargebotene Hand zu ergreifen, die er mit erzwungener Kälte, doch nicht auf beleidigende Art ablehnte.

„Herr Graf!“ sprach er, so ruhig als es ihm möglich war, „haben Sie die Güte, auch für mich ein Pferd satteln zu lassen, denn Sie begreifen wohl, daß ich jetzt das meinige nicht aus Herrn von Aarheims Stall holen lassen kann.“

„Alle meine Pferde stehen zu Ihrem Befehl, Sie sollen die Wahl haben, es sind schöne Tiere darunter, die Ihnen gewiß gefallen werden“, war Hippolits sehr höfliche Antwort. „Doch wäre es nicht besser, den schönen Morgen erst nach der Erläuterung zu genießen, zu welcher ich gestern mich erbot?“

„Ihr kalter Hohn soll mich nicht aus der Fassung bringen“, rief jetzt Adelbert beinahe schäumend vor Wut. „Kommen Sie denn zu Fuß, wenn Sie Ihre Pferde schonen wollen, doch ohne Säumen bitte ich, mich verlangt nach Ihrer sogenannten Erläuterung; mit der schönen Natur halten Sie es späterhin nach Belieben.“

In Hippolits Angesicht flammte bei diesen Worten die glühende Röte des Zorns auf, doch gelang es ihm schnell, die vorige Fassung wieder zu gewinnen. „Eben deshalb, weil auch ich keine Zeit zu verlieren wünsche, bitte ich, den Ritt bis nach der Erläuterung, die ich Ihnen versprach, zu verschieben“, erwiderte er gelassen. „Nirgend kann ich bequemer sie Ihnen geben als hier.“

„Hier?“ rief Adelbert, mit wildem zornigem Lachen, „nun meinetwegen auch. Das Zimmer geht nach dem Hofe zu, in dem engen Räume kommen wir vielleicht um so eher zum Zweck. Nun es sei, auch hier. Wo sind Ihre Pistolen? Ich habe keine mitgebracht, mein rechter Arm vermag zwar nicht mehr, den Säbel zu führen, mit dem linken aber nehme ich es im Schießen mit jedem auf.“

„Hier sind zwei Paar Pistolen, sie sind alle geladen“, sprach Hippolit, indem er sie auf den Tisch legte, dann ging er zur Türe, schloß ab und steckte den Schlüssel zu sich. „Sie sehen meine Bereitwilligkeit, alle Ihre Forderungen zu erfüllen, Herr Rittmeister! Nur eine muß ich bestimmt Ihnen versagen, ich schieße nicht auf Sie, Sie hören mich denn zuvor an. Dann tun Sie, was Ihnen recht deucht. Lassen Sie mich vollenden, was ich zu sagen habe“, rief er mit erhobener Stimme, da Adelbert heftig gegen ihn anfuhr, „nur wenige Augenblicke erbitte ich mir, dann können Sie, ich wiederhole es, tun, was Sie wollen. Einer Dame zu Gefallen wie die Marquise d'Aubincourt ist, schlagen sich Männer wie wir beide nicht; daß dem so sei, liegt in der Erläuterung, die ich Ihnen versprach, klar zu Tage. Und sollten wir uns schlagen, um unsere Tapferkeit zu beweisen? Ihre ehrenwerten Narben, Herr Rittmeister, überheben Sie dieser Mühe, und obgleich ich leider keine ähnlichen aufzuweisen habe, so verkündet das Gerücht doch zu viel solcher Heldentaten von mir, wie die ist, zu der Sie mich jetzt auffordern, als daß ich fürchten müßte, in der Welt für feig zu gelten, weil ich erkläre, mich diesmal nicht schlagen zu wollen.“

„Genug, genug der Worte“, unterbrach ihn Adelbert. „Die Zeit entflieht und meine Geduld mit ihr. Haben Sie mich gestern gefordert, warum wollen Sie mir heute nicht Rede stehen? Und war Ihr Versprechen einer Erläuterung keine Ausforderung, nun so fordere ich Sie jetzt, weil Sie es wagen, eine Dame zu lästern, die zu schützen mir, besonders seit dem gestrigen Abend, Pflicht ist. Ihnen gehört jetzt der erste Schuß, ich bin bereit, wählen Sie, hier sind die Pistolen.“

„Nicht eher“, rief Hippolit, „bis Sie den Inhalt des Taschenbuchs untersucht haben, welches dort neben den Pistolen liegt; es enthält die versprochenen Erläuterungen. Und auch dann, ich will Sie nicht betrügen, ich bleibe auf jeden Fall meiner ersten Erklärung treu, ich schieße nicht auf Sie, ich habe Gründe, es nicht zu tun.“

Mit immer steigender, rasender Wut drang nun Adelbert auf ihn ein, ohne auf ihn zu hören, und wollte ihm ein Pistol aufzwingen, doch Hippolit wehrte ihn ab, indem er bei seiner Erklärung blieb.

„Tun Sie, was Sie wollen“, sprach er endlich, „bleiben Sie meinetwegen dabei, wenn Sie es für Recht halten, meine gestrigen Worte als eine Forderung zu nehmen, der Glaube, es sei so, brachte Sie ja hieher, und ich stelle mich Ihnen, schießen Sie. Nur geben Sie mir Ihr Ehrenwort, das Zimmer nicht zu verlassen, ehe Sie jenes Taschenbuch untersucht haben, und dann geloben Sie mir, den Inhalt desselben vor jedermann auf ewig zu verschweigen. Gewähren Sie mir das.“

Adelbert, vor Zorn bewußtlos, spannte das Pistol. Hippolit stand ihm gegenüber in aufrechter Stellung am Fenster, während jener der Türe zuflog. Sein Mund sprach unverständliche Worte, sein Herz klopfte, hörbar bewegt vom wildkochenden Blute, Feuerflammen tanzten vor seinen Augen. „Sie wollen es! Sie wollen es!“ schrie er, wie einer, der nicht weiß, daß er spricht, und ohne zu zielen drückte er ab.

Hippolit wankte erbleichend und sank dann in einen neben ihm stehenden Sessel. „Sie halten Ihr durch die Tat abgelegtes Versprechen, Sie können nicht eher hinaus, ich habe den Schlüssel und Sie werden keinen Wehrlosen berauben wollen“, sprach er mit leiser Stimme, und hob den linken Arm gegen den Tisch, der rechte, überquellend von Blut, hing bewegungslos herab.

Adelbert stand da wie ein Starrsüchtiger. Fast noch bleicher als der blutende Hippolit, staunte er mit dem Ausdruck völligen Unbewußtseins ihn an und hielt dabei das unglückliche Pistol noch immer in drohender Stellung in die Höhe.

„Fassen Sie sich, erfüllen Sie, was ich von Ihnen erbat, Sie sehen, ich blute sehr, und mir kann eher keine Hülfe werden“, sprach Hippolit.

Adelbert schien zu erwachen. Mit einem unterdrückten Schrei des Entsetzens flog er auf den Verwundeten zu.

„Dorthin, das Taschenbuch“, stammelte dieser fast unverständlich und wies immerfort nach dem Tische hin, „lassen Sie mich nicht verbluten.“

In wilder Hast flog jetzt Adelbert an den Tisch, mit zitternden Händen und unstetem Blicke öffnete er das Buch, das Bild Herminiens fiel zuerst ihm entgegen, dann einige Portraite junger Männer, unter ihnen sein eigenes, das er ihr gab, als er die Universität bezog, auch Briefe quollen den Bildern nach, doch alles flimmerte vor seinen Augen und draußen wurden Hippolits Diener immer lauter vor der verschlossenen Türe, denn der Knall des Pistols hatte sie herbeigezogen.

„Lassen Sie mich öffnen“, rief endlich bittend Adelbert, „ich kann nicht lesen in dieser Angst, ich will es, ich gelobe es, ich will eher nichts anders unternehmen, aber lassen Sie mich jetzt öffnen.“ Hippolit willigte ein.

„Ein Spiel, ein dummes Spiel, wir wußten nicht, daß sie geladen seien“, stammelte er den erschrocken Eindringenden entgegen und sank dann, vom Blutverlust erschöpft, ohnmächtig hin.

Sein Kammerdiener, der zum Glück zugleich Wundarzt war, begann jetzt die Wunde zu untersuchen und Adelbert erwartete in stummer Angst mit gesenkten Blicken seinen Ausspruch. Die Verletzung war schmerzhaft, bedeutend, doch nicht gefährlich, die Kugel war in den Oberarm gedrungen, aber nur der starke Blutverlust konnte Besorgnis erregen. Die Schmerzen des ersten Verbandes erweckten den Verwundeten aus seiner Ohnmacht; ohne reden zu können, reichte er Adelberten die linke Hand, zeigte abermals nach dem Tisch, auf welchem das Taschenbuch lag, und schloß dann ermattet die Augen wieder.

Adelbert versuchte zu halten, was er versprochen hatte, er ergriff das Buch, aber die Luft im Zimmer, der Anblick Hippolits, der mit geschlossenen Augen wie ein Toter auf dem Ruhebett lag, beraubten ihn aller Besinnung; in zitternder Hast, ohne eigentlich zu wissen, was er tat, raffte er Buch, Gemälde, Briefe, alles zusammen, und floh damit hinaus, zum Zimmer, zum Hause, zur Stadt hinaus. Erst in der lautlosen Einsamkeit eines abgelegenen, um diese Tageszeit ganz unbesuchten Lustwäldchens fand er sich wieder.

Der gestrige Abend, die darauf zum Teil an dieser nämlichen Stelle durchwachte lange Nacht, und die eben durchlebten wildbewegten Morgenstunden gingen, nach und nach heller werdend, an ihm vorüber; ihn hatte alles ein wüster Traum gedünkt, nur das Taschenbuch, gegen welches sein Herz in heftiger Bewegung anschlug, war ihm ein beängstender Zeuge der Wahrheit. Abermals ergriff und öffnete er das Buch; eine heiße Träne entfiel seinem Auge, als er sein Jugendbild betrachtete, dessen reine, von keiner Leidenschaft entstellten Züge ihn mit kindlicher Himmelsseligkeit anlächelten. Es war so wenig ihm noch ähnlich, daß Hippolit ihn wahrscheinlich nie darin wieder erkannt hatte.

„Ja so war ich! Auch sie war so!“ seufzte er und verhüllte die brennenden Augen im tauigen Grase und weinte laut. Er gedachte jener Zeit, da er, fast noch ein Knabe, dies Bild heimlich malen ließ; er gedachte der Freude, mit der Herminia es empfing und wie sie gelobte, allen fremden Augen verborgen, es ewig auf ihrem Herzen zu tragen. Endlich ermannte er sich wieder und begann nun ernstlich, die im Taschenbuch vorgefundenen Briefe zu untersuchen.

Der erste, der ihm in die Hände fiel, war von Herminien an Hippolit. Er hatte das Geschenk sämtlicher Portraite, das von Adelbert mit eingeschlossen, begleitet. Sie wollte, schrieb sie, durch dieses Opfer Hippoliten, dem einzigen, den sie geliebt habe und lieben könne, jeden Argwohn benehmen, als ob sie noch in irgendeiner Art von Verbindung mit einem jener Männer wäre, die sie freilich einst, ehe sie Ihn erblickt, zu lieben geglaubt habe. Mit echt französischer Leichtigkeit, unübertrefflichem Witz und hinreißender Lebendigkeit gab sie ihm die Schilderung der moralischen Eigenschaften und Eigenheiten der Originale, als Zugabe zu jenen Portraiten. Vor allem aber hielt sie sich lange bei der Geschichte ihrer ersten Liebe auf. Ohne ihn zu nennen, malte sie Adelberten, recht ausgelassen mutwillig, zuerst als eine Art von zärtlichem Jocrisse, im langen Kinderrock, hernach als sentimentalen, invaliden Bramarbas. Auch sich selbst vergaß sie nicht und spottend schilderte sie sich in ihrer damaligen ländlichen Naivität und Einfalt. Sie wußte dabei doch sehr geschickt sich durch manche liebenswürdige Schwäche, durch manches reizende Detail interessant zu zeigen, während sie sich das Ansehen gab, sich über sich selbst lustig machen zu wollen. Versicherungen ihrer unverwandelbaren, ewigen Liebe, fast in den nämlichen zärtlichen Worten, in den nämlichen Wendungen, deren sie unzähligemal auch gegen Adelberten sich bedient hatte; Eifersüchteleien, Klagen, tausend Neckereien füllten viele Seiten der übrigen Briefe an Hippoliten an. Andere waren von den Originalen jener Portraite, mit denen sie ehemals in zärtlichem Verhältnis gestanden, die sie mit den Bildnissen zugleich Hippoliten überliefert hatte. Alle waren so viel Beweise eines sehr frivolen, ja man möchte sagen, eines zügellosen Lebens.

Adelbert mochte bald nicht weiter lesen. Das Unwahre in Herminiens Wesen ekelte ihn unbeschreiblich an; die Torheit des ungeheuern Opfers, welches er dieser Unwürdigen gebracht hatte, fiel mit Zentnerlast ihm aufs Herz. Er fühlte sich plötzlich von ihr losgerissen, frei auf ewig. Aber das Gefühl dieser Freiheit glich dem des Gefangenen, der, dem Kerker entlassen, vor der Türe desselben steht, ohne Heimat, ohne Freund, ohne in der ganzen weiten Welt eine menschliche Seele zu wissen, zu der er sagen dürfe, nimm mich auf, denn ich gehöre dir an. Leidenschaftlich in allem, auch in der Reue, glaubte er im Übermaß derselben, daß sein Hauch nie wieder mit der reinen Luft sich einen dürfe, in der Auguste, in der seine Kinder atmeten. Er beschloß in seiner Verzweiflung, auf immer aus ihrer Nähe sich zu verbannen, nie wieder sollte der Klang seiner Stimme Augustens Ohr verwunden, nie ihr Auge mit Abscheu von seinem Anblicke sich wenden müssen. Doch so ganz ohne Spur zu verschwinden, ohne alles Lebewohl, ohne allen Segen in die Wüsten des Lebens hinauszugehen, diese Aufgabe ward seinem liebegewohnten Herzen doch zu schwer, und dies Gefühl hatte ihn mit allen seinen Klagen zu Gabrielens Füßen geführt.

Noch immer bekämpfte diese seinen wilden Schmerz, und wandte, wenngleich fast hoffnungslos, alles an, ihn von dem Vorsatz zur Flucht abzubringen, als der General Lichtenfels zu ihnen hereintrat. Ernst, wenngleich nicht zürnend, ruhte sein Blick eine stumme Minute lang auf Adelberten, der vor dem Gefürchteten sich gern in den Mittelpunkt der Erde verborgen hätte; dann aber trat ein feuchter Schimmer in das milder werdende Auge des edlen Greises. „Komm!“ sprach er und schloß den beinahe Widerstrebenden fest an seine Brust. „Komm, hier trug ich den Knaben, hier ruhtest du wundenmatt, nach ehrenvollem Kampf, dem Tode nah. Hier weintest du im schönen Schmerz um die gesunknen Hoffnungen deiner Jugend, hier ist auch jetzt noch dein Platz. Du warst ja immer das Kind meines Herzens; welcher Vater wird sein Kind von sich stoßen, weil es fiel? Komm, ich helfe dir auf, und dann wollen wir beide frisch ans Werk, um zu retten, zu bessern, wiederherzustellen; Gott wird uns helfen.“

Vergebens strebte Adelbert in den Armen des Generals sein übervolles Herz in verständlichen Worten vor ihm auszuschütten. „Sei ruhig“, sprach dieser, „ich weiß alles, du hast mir nichts zu bekennen. Ich komme von deinem edlen Gegner, er leidet viel, doch hoffentlich ohne Gefahr. Nur der heftige Blutverlust kann seine Heilung verzögern, die Kugel hat eine Ader zerrissen und er blieb lange ohne Hülfe.“

Adelbert versuchte abermals zu reden, doch der General verhinderte es, indem er nochmals versicherte, die Gräfin Rosenberg und Hippolit hätten ihm alles erklärt. „Ich kenne den ganzen Umfang deiner Schuld“, sprach er, „aber ich weiß auch, was sie mildert. Der Graf wollte freilich anfangs auch mir, wie seinen Leuten, aus eurem Duell ein Geheimnis machen.“ –

„Duell?“ unterbrach jetzt Adelbert den General, „Duell nennt er es? Meine Tat ist Mord, meuchelmörderisch überfiel ich ihn, der wehrlos vor mir stand.“ –

„Laß das“, erwiderte der General, „du wußtest diesen Morgen ebensowenig was du tatest, als ich gestern abend wußte, was ich tat. Zorn und Überraschung sind gefährliche Feinde, die uns, auf das mildeste genommen, zu wenigstens dummen Streichen verleiten, deren man hernach zeitlebens sich zu schämen hat. Das haben wir beide erfahren, ich gestern, du heute. Jetzt stehe ich aber als Abgesandter des Grafen vor dir, durch mich fordert er zurück, was er deiner Ehre vertraute, und erinnert dich nochmals an das heilige Versprechen ewigen Schweigens über diesen Gegenstand. Ich lese in deinen und Frau von Aarheims Blicken, daß du es bei ihr schon jetzt vergessen hast“, sprach nach einer kleinen Pause der General, beide mit prüfendem Blick betrachtend. „Es ist nicht recht, aber auch diesmal noch mag der Zustand deines Gemüts dich entschuldigen. Unsere edle Freundin ist unfähig, ihre Kenntnis eines solchen Geheimnisses zu mißbrauchen, darum übergib ihr jetzt getrost das Buch, so kommt es am sichersten in die Hände seines Eigentümers. Gabriele wird gewiß nicht den reinen Blick mit dessen leidigem Inhalt besudeln wollen. Und nun komm, alles ist bereit, wir gehen miteinander auf Reisen. Unsere holsteinischen Güter entbehren schon lange unsrer Gegenwart, dort wollen wir hin. Es ist gut, daß du jetzt Augusten noch nicht wiedersiehst; eigentlich verdienst du es auch noch nicht, also ohne Abschied, Gabriele und deine Kinder werden dich indessen schon bei ihr vertreten und deine Fürsprecher sein.“

Gabriele versuchte es, hierin dem General einzureden, doch er verhinderte sie daran mit sanfter Gewalt. „Schöne, gute Frau!“ sprach er, „ich weiß im Grunde Ihres Herzens billigen Sie mein Vorhaben, warum denn versuchen, gegen Ihre eigene Überzeugung mich eines andern überreden zu wollen? Wir sollten das nie; es kommt davon so vieles Übel in der Welt, und dennoch lassen sich auch die Besten und Klügsten unter uns nur zu oft von ihrem Gefühl dazu hinreißen. Von Ihnen aber weiß ich, daß Sie über diese Schwäche erhaben sind, sobald Sie sich nur recht besinnen wollen. Jetzt lege ich Augustens armes, wundes Herz an das Ihrige und reise in dieser Hinsicht getrost, Sie werden es zu heilen wissen, wenn es geheilt werden kann. Ich komme von ihr, sie schläft noch. Armes Kind! Körper und Geist sind todmüde, denn wir sind zwei Nächte hintereinander durchreiset; ich und ihre Liebe ließen ihr keine Rast, und so wollen wir ihr die Erholung gönnen, welche die Natur gütig ihr gewährt. Morgen bringt eine Staffette Ihnen die erste Nachricht von uns; Auguste wird sich um Adelberts Geschick beruhigen, wenn sie ihn bei mir weiß. Übrigens reisen wir Tag und Nacht, bis wir über die Grenze hinaus sind, denn die Polizei könnte doch wohl Lust bekommen, sich nach dem von ungefähr losgegangenen Pistol zu erkundigen, darum fort, fort, wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Mit diesen Worten zog er Adelberten sich nach, der wie im bewußtlosen Traume ihm folgte, Gabriele blieb einsam zurück. Beinahe nicht minder betäubt als er, starrte sie gedankenlos vor sich hin, bis Annette sie mit der Nachricht ins tätige Leben zurückrief, daß Auguste erwacht sei und sehnlichst nach ihr verlange.

In stiller Ergebung betrachtete Auguste ihr Geschick, sowie allmählich die Hand der Freundschaft den Schleier sorgsam lüftete, der so lange nur in verworrener Gestaltung es ihr gezeigt hatte. Dann aber begann sie auch recht innig in ihre ländliche Einsamkeit, zu ihrer Mutter, zu ihren Kindern sich zurück zu sehnen. Sie hatte noch immer manchen harten Kampf mit ihrem Herzen zu bestehen, so fern auch alle Bitterkeit ihr war und blieb. Mit dem Glauben an Adelberts unerschütterliche Liebe, an seine felsenfeste Treue, war ihr auch die Ruhe verloren gegangen, mit der sie bis dahin der süßen Gewohnheit, glücklich zu sein, sich hingegeben hatte, ohne weder über ihr Glück noch über die Möglichkeit, daß es anders werden könne, nachzudenken. Es konnte noch alles gut werden, das fühlte sie, das hoffte sie, darum betete sie mit Inbrunst; doch wie konnte es so werden, wie es gewesen war? Und dies Gefühl mußte ihr Gemüt mit einer Sehnsucht, einer stillen Trauer erfüllen, welche nur der Anblick ihrer Kinder zu mildern vermochte. In ihnen lebte ja noch der Adelbert, den ihr Herz, trotz alles Gegenstrebens ihres Verstandes, dennoch verloren geben mußte.

Adelberts Briefe, voll des Ausdrucks der tiefsten Reue, betrübten ihr Gemüt statt es zu trösten. Die glühende Leidenschaftlichkeit, mit der er Augusten zu einem engelgleichen Wesen erhob, von dem er in tiefer Selbstzerknirschung nur Mitleid erflehte, während er sich ihrer Liebe und ihrer Achtung auf ewig für unwert erklärte, konnte ihre Aussicht in die Zukunft nicht erheitern. Nur des Generals Ansicht ihrer und Adelberts Lage, die er in seinen Briefen ihr offen mitteilte, gewährte ihr einigen Trost. Sein Ermuntern zum Rechten, sein Vorstellen dessen, was ihr oblag zu dulden und zu vollbringen, stählten ihren Mut. Ihr Blick erheiterte sich, wenn sie las, wie kräftig er Adelberts, durch frühen Schmerz entnervtes Gemüt aufzurichten strebe, wie er durch Tätigkeit ihn zu zerstreuen und aus seiner jetzigen trostlosen Versunkenheit wieder emporzurichten suche und wie er alles anwende, um ihn nur wieder zum Vertrauen in sich selbst zu verhelfen.

„Der Zustand unsrer hiesigen, durch unsre jahrelange Abwesenheit sehr verwahrloseten Besitzungen gewährt ein weites, fast unabsehbares Feld zur Arbeit“, schrieb ihr der General, „und somit lasse ich unsern Adelbert vor lauter Tätigkeit kaum zu Atem kommen. Morgens, mit Sonnenaufgang, ziehen wir hinaus in Feld und Wald, abends gibt's zu richten und zu schlichten, nachzurechnen, Papiere zu ordnen, bis in die sinkende Nacht. Da müssen die Grillen ihm verschwinden, denn ihm bleibt keine Zeit, weder sie zu fangen, noch zu pflegen. Mutig, liebe Auguste! Laß du mich nur gewähren, sobald es Zeit ist, bringe ich ihn gesund und geheilt, von innen und außen, zu deinen Füßen hin, und du gute weiche Seele wirst ihn dann wieder an deinen Busen nehmen, das weiß ich und fürchte nicht deine Strenge, sondern nur deine Milde, die mir ihn wieder verderben könnte.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele