Zweiter Abschnitt. - Unter Entsagungen aller Art, unter steten Übungen unbeschreiblicher Geduld, schwanden von nun an Augustens Tage auf dem einsamen Landgute ihrer Tante, einer nach dem andern, einer wie der andre. ...

Unter Entsagungen aller Art, unter steten Übungen unbeschreiblicher Geduld, schwanden von nun an Augustens Tage auf dem einsamen Landgute ihrer Tante, einer nach dem andern, einer wie der andre. So lebte sie mehrere Jahre lang. Erinnerungen der glänzenden Vergangenheit machten ihr die düstre Gegenwart nicht noch trüber, denn sie hatte keine Freude an deren flüchtigem Schimmer gefunden; aber das verklärte Bild des verlornen Geliebten wohnte noch immer tief verborgen in ihrem Herzen, von ewigem Jugendglanz umflossen, wie das Bild eines Heiligen in einem dunkeln Grabmal, das eine nie erlöschende Lampe erleuchtet.

Übrigens war Auguste weder fröhlich noch traurig, nur freundlich und still. Die wenigen, welche sie kannten, ahneten nicht die ganze Freudenlosigkeit ihres Daseins, aber alle bewunderten ihre Anmut, ihr anspruchsloses Wesen und priesen die unerschöpfliche Langmut und engelgleiche Gelassenheit, mit denen sie den wunderlichsten, unerträglichsten Launen ihrer Tante gefällig entgegenkam.


Letztere war eine jener scheinheiligen alten Betschwestern, die unter dem Mantel der Frömmelei die abschreckendsten Eigenschaften zu verdecken suchen und mit dem glattesten, herzlosesten Egoismus die ganze Welt nur einzig zu ihrer Bequemlichkeit erschaffen glauben. In der schriftlich an sie gerichteten Bewerbung des Baron Aarheim um Augustens Hand sah sie nur den Finger Gottes, der sie von einer ihr lästigen Hausgenossin befreien wollte, und verkündete daher schonungslos ihrer Nichte das ihr unverdienterweise zugefallene große Glück; dabei ermangelte sie nicht, dieses einzig ihrem eifrigen Gebet für Augustens Wohlfahrt zuzuschreiben. Das Leben dieser Armen war jetzt mehr als je ganz nach innen gekehrt, die Außenwelt kümmerte sie wenig, weniger noch ihr eignes Schicksal; an Glück auf der Erde zu glauben hatte sie längst verlernt, und all ihr Hoffen ging weit über dieses Prüfungsleben hinaus. Daher fügte sie sich ohne Widerstreben dem deutlich ausgesprochenen Willen der Tante, wie sie sich früher dem ihres Vaters gefügt hatte. Mit ruhiger Fassung reichte sie dem Baron die Hand, als er sie heimzuführen kam. Sie war es sich bei diesem Schritte deutlich bewußt, daß sie nur ein unerfreuliches Dasein mit einem ähnlichen, vielleicht noch unerfreulicheren, vertauschte, aber sie folgte willenlos dem Winke des Schicksals.

Fest entschlossen, durch Treue, Sorgfalt und jede Aufopferung dem Manne, der sie gewählt hatte, alles zu werden, was sie ihm zu werden vermochte, und bei allen ihren Handlungen einzig sein Glück zu bezwecken, betrat sie die dunkle Schwelle vom Schloß Aarheim. Und doch fühlte sich Auguste unendlich glücklicher, wie sie es je zu träumen gewagt hatte, als sie nach Jahresfrist Gabrielens Mutter ward. Nun hatte sie ein lebendes Wesen, das sie umfassen und beglücken konnte, mit all der bis jetzt tiefverborgnen Liebe, die der Grundton ihres Daseins war. Sie lebte nun nicht mehr ohne Plan und Zweck in dieser Welt; sie wußte jetzt, für wen sie lebte, und trug nicht mehr bloß ergeben, sondern freudig alle andere Zumutungen des ihr im übrigen noch immer nicht freundlicher gewordnen Geschicks.

Gabriele ward beim Eintritt in das Leben vom Vater nicht freundlich willkommen geheißen. Er hatte auf einen Erben seines alten Namens und seines Stammgutes gehofft und suchte nicht den Unmut über die getäuschte Erwartung seiner Gemahlin schonend zu verhehlen. Jahre vergingen, Gabriele blieb das einzige Kind, und der Vater blickte nie mit Liebe, oft mit verbißnem Zorn auf sie herab.

Augustens unaussprechliche Milde, ihre unermüdete, allen Wünschen des Barons zuvorkommende Sorgfalt für ihn, siegten doch endlich einigermaßen über sein von der Welt verwahrlosetes Gemüt. Ihm war jetzt zu wohl in seinem Hause geworden, als daß er die Urheberin dieses ihm bis jetzt unbekannt gebliebnen behaglichen Zustandes nicht hätte von den übrigen Menschen unterscheiden sollen. Zwar blieb er im Leben hart und kalt wie zuvor; aber er duldete Augustens stilles Walten in seinem Schloß sowohl als auf seinem Gute und ließ ihr schweigend die Freiheit, das Schicksal seiner Untertanen auf mannigfache Weise zu erleichtern. Allmählich ward sein Vertrauen zu ihr immer größer, so daß er zuletzt die ganze Verwaltung seiner Geschäfte ihr allein übertrug, allem menschlichen Umgang, außer mit ihr und den ihn zunächst umgebenden Dienern, völlig entsagte und sich auf den entferntesten Flügel des weitläuftigen Schlosses zurückzog, wo er sich eine von allen übrigen Bewohnern desselben ganz abgesonderte Wohnung einrichten ließ.

Eine von seinen Vorfahren vor langer Zeit gesammelte Bibliothek war in der von ihm erwählten gänzlichen Abgeschiedenheit der einzige Zeitvertreib, welcher sich dem Baron gewissermaßen entgegendrängte. Zuerst bewog ihn Langeweile, die alten Bücher zu mustern und zu ordnen, aus welchen sie bestand; bald aber zog ihn der Inhalt eines Teils derselben unwiderstehlich an. Eine sehr vollständige große Sammlung alter alchimistischer Schriften, gedruckt und im Manuskript, war ihm in die Hände gefallen; er hatte sie anfangs nur aus bloßer Neubegier durchblättert, aber diese Blätter fingen bald an, ihn immer ernstlicher zu beschäftigen, so daß er zuletzt mit unermüdetem Eifer sie Tag und Nacht studierte und alles Übrige dabei vergaß, bis ihm die Möglichkeit, mit der Natur in ihrem geheimsten Walten zu wetteifern, völlig erwiesen schien.

Schon lange hatte er mit einem, aus gekränktem Stolz und Mitleid gemischten, bittern Gefühl auf seine Gemahlin und seine Tochter geblickt, wenn er bedachte, daß diese nach seinem Tode Schloß Aarheim verlassen müßten und in einer, wenn auch nicht hülflosen, doch gegen jetzt sehr beschränkten Lage zurückbleiben würden. Nun, da die Möglichkeit, Gold zu machen, ihm immer deutlicher, ja zuletzt zur Gewißheit ward, regte sein alter eingeschlummerter Ehrgeiz aufs neue die Flügel. Schon sah er im Geist Gabrielen zur reichsten Erbin von Europa erhoben, um deren Hand einst Fürsten werben würden. Im voraus genoß er den hohen Triumph über seine Feinde, die ihn in den Staub getreten zu haben wähnten, aus dem er jetzt zu ihrer Beschämung glorreich emporzusteigen hoffte, und er beschloß, sein ganzes übriges Leben an dieses große Ziel zu setzen, zu dessen Erreichung ihm nichts zu kostbar schien.

Er ließ dicht neben seinem Zimmer ein eignes Laboratorium erbauen, in welchem er sich unablässig mit alchimistischen Versuchen beschäftigte, wenn er nicht über den Schriften brütete, die ihm jetzt als das Höchste erschienen. Den Seinigen ward er nur bei der Mittagstafel sichtbar und saß selbst dann stumm und in Gedanken verloren, ohne auf irgend etwas zu achten, was um ihn her geschah. Niemand im Hause konnte den eigentlichen Zweck seines Strebens nur ahnen, denn er arbeitete immer bei verschlossnen Türen, und nahm nur im äußersten Notfall einen alten Diener zur Hülfe, der gar nicht wußte, was er tat, indem er seinem Herrn bei alchimistischen Prozessen Handreichung leistete. Auguste selbst durfte nie die Schwelle der Zimmer ihres Gemahls betreten. Sie glaubte mit allen übrigen Hausgenossen, daß der Baron sich mit Erfindung neuer Färbestoffe beschäftige, denn er selbst hatte auf eine geschickte Weise diese Meinung zu veranlassen gewußt. Herzlich gern gönnte sie ihm diese harmlose Beschäftigung, ohne weiter darüber zu grübeln, und war nur besorgt, jede Störung mit verdoppelter Aufmerksamkeit von ihm abzuwenden.

Auguste erfreute sich jetzt der glücklichsten Zeit ihres Lebens. Jede Stunde des Tages durfte sie ungehindert dem Liebling ihrer Seele weihen, nie störte die Außenwelt sie in dieser süßen Beschäftigung, denn kein Besuch betrat jemals das Schloß, und die alte Tante war bald nach ihrer Verheiratung gestorben.

Die kleinen Sorgen für das Hauswesen hatte Frau Dalling anfangs redlich mit ihr geteilt, zuletzt sie deren völlig enthoben. Diese wackere, nicht ungebildete Frau war noch vor Gabrielens Geburt in Augustens Dienste getreten und hatte bald nicht nur Vertrauen, sondern auch Achtung und Liebe ihrer Herrschaft und der übrigen Hausgenossen sich erworben. Sogar der finstre, strenge Gebieter aller bemerkte ihre treue Ergebenheit nicht ohne Wohlgefallen. Frau Dalling selbst hing mit der innigsten Liebe an ihrer freundlichen Herrin und dem holdseligen Kinde und hätte im Fall der Not ihr Leben für beide willig geopfert.

Den schwachen Lebensfunken, mit welchem Gabriele zur Welt kam, konnte nur Mutterliebe und die sorgsamste Pflege vor frühem völligen Erlöschen bewahren; sehr langsam wuchs sie kräftiger heran und ward endlich ein zwar gesundes, aber kein blühendes Kind. Ihre ganze Erscheinung hatte etwas Ätherisches. Wenn das kleine zierliche Geschöpf durch den Garten hüpfte, die vollen, goldnen Locken um den blendend weißen Hals flogen, das dunkelbraune Auge fröhlich blitzte, und ein blasses Rot das einer weißen Rosenknospe ähnliche Gesichtchen sanft überhauchte; dann glich es mehr der Elfenkönigin Titania als einem sterblichen Wesen. So blieb Gabriele bis in ihr sechzehntes Jahr dem Ansehen nach völlig ein Kind. Die köstlichsten Blumen zögern ja immer am längsten, ehe sie die schützende Knospe durchbrechen.

Wehmütig bange sah Auguste dem Zeitpunkt entgegen, in welchem der goldne Traum der Kindheit dem ihr vom Himmel zum Trost gesandten Engel entschweben mußte; sie suchte ihn so lange als möglich zu entfernen; aber das ohne alle Gespielen ihres Alters, einzig bei dieser Mutter aufwachsende Mädchen reifte im Innern weit früher heran als im Äußern.

Augustens Natur war die reinste, alles opfernde Liebe. Schüchtern geworden in der ihr so unfreundlichen Welt, hatte sie sich immer tief verborgen gehalten und nur gestrebt, alles, was sie berührte, unbemerkt zu beglücken, bis sie in Gabrielen ein Wesen fand, bei dem es Pflicht ward, sich unverschleiert zu zeigen. Nun ward die mütterliche Liebe in ihrem so lange verwaist gebliebenen Gemüt zur hell lodernden Flamme der Leidenschaft. Sie zog Gabrielen mit sich in ihre schöne innerliche Welt, dort lebten Mutter und Tochter ein allen übrigen verborgenes, engelgleiches Leben in gegenseitigem Verstehen, wie diese Erde es selten birgt. Vertrauen auf Gott, Mut und Ergebung zum Schutz gegen die unvermeidlichen Stürme des Lebens wußte Auguste frühe dem jungen Herzen ihrer Tochter einzuflößen. Gabriele lernte von ihr stilles Dulden, bei festem Anhalten an das Rechte, als der Frauen höchste Pflicht erkennen; aber in wehmütig vertrauten Stunden lernte sie auch von der Mutter, daß nur in der Brust des Weibes stille, durch sich selbst beglückte und beglückende Liebe wohnt, die selten echte Gegenliebe findet und ihrer auch nicht bedarf, um des Lebens höchste, schönste Blüte zu sein.

Fröhlich suchte Auguste nun alles wieder hervor, was sie früher im Geräusch der ihr jetzt so fernen Welt erlernt hatte, um auch äußerlich ihren Liebling damit zu schmücken. Sie brachte dadurch in ihre düstre Einsamkeit ein wunderliches Feenleben voll Wechsel und Glanz, von dem, außer der vertrauten Frau Dalling, niemand etwas ahnen konnte. In den ausländischen Sprachen, die der Mutter während ihres langen Aufenthalts in fremden Ländern so geläufig als die eigene geworden waren, lernte Gabriele sich mit Leichtigkeit ausdrücken. Musik und bildende Kunst blieben auch in den trübsten Tagen Augustens freundliche Tröster; jetzt übte sie sie mit Gabrielen und fühlte die reinste entzückendste Freude bei deren Fortschritten in beiden. Sie lehrte sie, die unsterblichen Lieder der Dichter durch den Wohllaut der Stimme zu beleben. Übung jeder schönen Kunst machte aus jedem Tage ihres stillen Beisammenseins ein Fest. Gabriele lernte sogar, von der Mutter geleitet, sich durch Blumenkränze mit gemessnem Schritte winden oder mit einem Shawl die reizendsten Stellungen der Antike nachbilden. Auguste sah oft mit wonneglänzendem Auge die kleine Grazie, das Tamburin schwingend, im leichten, südlichen Tanze auf- und niederschweben; sie gedachte dabei der trüben Tage ihrer eignen Jugend, in denen sie lächelnd, wenngleich mit halb gebrochnem Herzen, sich auf Befehl ihres Vaters vor schimmernden Versammlungen so zeigen mußte, und pries dankbar das Geschick ihres glücklichen Kindes und seine ungetrübte Freude an der heitern Kunst.

Stunden ernstern Unterrichts wechselten mit diesen, dem Schmuck des Lebens geweihten. Auguste selbst hatte eine zu sorgfältige Erziehung genossen, als daß sie nicht ihrer Tochter eine sehr vorzügliche Lehrerin hätte werden können. Sie las mit ihr aufmerksam, und nötigenfalls erläuternd, das Beste, was in unsrer und in fremden Sprachen für den Unterricht der Jugend geschrieben ward; sie führte sie früh in die Geschichte der Völker ein, aber sie öffnete ihr auch früh das Wunderreich der Poesie; Gabrielens leicht bewegliche Phantasie versank in seinem Zauber und das rege Mutterherz mit ihr.

So geschah es denn, daß Gabrielens liebliche Erscheinung allen Reiz kindlich unbefangener Unschuld mit Kenntnissen und Talenten vereinte, welche sonst nur durch die liberalste Erziehung reicher Eltern in großen Städten erworben werden können. In ihrer tiefen Einsamkeit kam ihr keine Ahnung von dem, was sie eigentlich war; alle Mädchen ihres Alters und Standes dachte sie sich weit unterrichteter, kunstreicher, liebenswürdiger als sich selbst, denn sie hatte noch nie eines gesehen und fremdes Lob noch nie ihr Ohr berührt. Selbst ihr Vater hatte keine Ahnung von dem, was sie wußte und war; er sah sie nur bei Tische, wo Frau und Tochter in bangem Schweigen vor ihm erstarrten, und er selbst nur den Mund öffnete, um nach Vollziehung früherer Befehle zu fragen oder neue zu erteilen. Gabrielen fiel übrigens der Zwang, welchen seine Gegenwart ihr und der Mutter auflegte, nicht im geringsten auf. Von Jugend an dessen gewohnt, glaubte sie, es sei in allen Familien so, könne und dürfe nicht anders sein, und Auguste hütete sich, sie in diesem Glauben irre zu machen.

Nie hätte das Band gelöst werden sollen, das Mutter und Tochter so beglückend vereinte, ihre Herzen hätten immer zusammen, in gleicher Bewegung schlagen müssen, bis von einem Grabe beide in einer Stunde aufgenommen worden wären. Aber im Buche dort oben war es anders geschrieben. Auguste erkrankte plötzlich und starb. Wenige Tage nur hatte das verzehrende Fieber in ihrem Innern gewütet, der Schmerz des Todes war schonend an ihr vorüber gegangen; aber die Krankheit zerstörte gleich anfangs ihr Bewußtsein, sie entschlief ohne auch nur einigermaßen für Gabrielens künftige Verhältnisse sorgen zu können. Das Bild dieser Tochter am Grabe dieser Mutter verdecke ein undurchdringlicher Schleier; wer könnte es unternehmen, solch einen Schmerz beschreiben zu wollen!

Baron Aarheim erstarrte vor Schrecken über das so plötzlich über ihn hereingebrochene Unheil. Geliebt hatte er Augusten nicht, denn sein versteinertes Gemüt konnte nicht lieben; ihren vollen Wert hatte er nie klar erkannt, nur dumpf empfunden; aber schmerzlich fühlte er die durch ihren Tod entstandne Unbequemlichkeit, für sein Haus und sein Kind selbsteigen sorgen zu müssen. Sobald er nur einigermaßen wieder zur Besinnung kam, war er ernstlich darauf bedacht, sich dieser Sorgen zu entledigen, um nur wieder ungestört seinen alchimistischen Arbeiten leben zu können, von denen er sich hoffnungsreicher als je den glänzendsten Erfolg ganz nahe versprach. Zum ersten Male würdigte er seine Tochter eines ernstlichen Bemerkens; ihre jugendliche Anmut gefiel ihm. Von der seltnen Ausbildung ihres Geistes und ihrer Talente wußte und ahnete er fortwährend nichts, sie blieben ihm verhüllt, denn früherer Gewöhnung eingedenk, wagte es das traurige, schüchterne Mädchen kaum, in seiner Ehrfurcht gebietenden Nähe zu atmen.

Des Barons eifrigstes Bestreben ging jetzt dahin, Gabrielen irgendwo unterzubringen, wo sie alles lernen sollte, was ihr seiner Meinung nach noch fehlte. Seine Schwester, die Gräfin Rosenberg, schien ihm bei reiflichem Nachsinnen die einzige, an die er sich in dieser Angelegenheit wenden konnte. Sie war mehrere Jahre jünger als er, frühe verwitwet und lebte in Glanz und Pracht mit ihrer einzigen Tochter, mitten im Geräusch einer drei Tagereisen vom Schloß Aarheim entfernten großen Stadt. Hier sollte Gabriele für den ausgezeichneten Platz gebildet werden, auf dem sie, wie der Vater fest glaubte, in der Welt zu glänzen bestimmt war. Seit mehr als zwanzig Jahren ergriff der Freiherr zum ersten Mal wieder die Feder, um seiner Schwester zu schreiben. Er machte sie mit seinem Verluste bekannt, stellte ihr die Verlegenheit vor, in der er sich wegen der Erziehung seiner einzigen Tochter befand, und wandte alles an, um sie zu einem Besuch auf seinem einsamen Schlosse zu bewegen.

Aurelien war diese Einladung höchst unwillkommen, ihre Mutter hingegen ergriff sie mit einer Art von Begeisterung, die ihr sogar den Mut gab, dem Willen ihrer Tochter für dieses Mal gerade entgegenzuhandeln. Eine Wallfahrt zum Stammhause ihrer Vorfahren, welches die Gräfin noch nie besucht hatte, schien ihr so romantisch, sie dachte sich die dunkeln, hohen Gemächer, die gemalten Fensterscheiben, die langen Galerien voll alter Bilder ihrer Ahnen so interessant, sie freute sich so sehr auf den neuen Stoff zur geselligen Unterhaltung, daß sie ungeachtet aller Einwendungen Aureliens die Reise so viel möglich beschleunigte und mehrere Tage früher im Schloß Aarheim eintraf, als der Baron es erwarten konnte.

Doch kaum hatte sie einige Stunden dort verlebt, so sehnte sie sich schon wieder recht herzlich in ihre gewohnten Umgebungen zurück. Alles was sie sah, machte auf sie einen weit andern Eindruck, als sie erwartet hatte. Die tote Stille in dem großen öden Gebäude ängstigte sie, die dunkeln winkligen Gänge und Säle, die vielen ellendicken Mauern schienen sie erdrücken zu wollen, vor allem aber erregte ihr der Anblick ihres Bruders ein nie gefühltes unüberwindliches Grausen. Als einen großen stattlichen Mann hatte sie ihn zum letztenmal erblickt, nach einer langen Reihe von Jahren sah sie ihn jetzt wieder zum hinfälligen, hagern Greise gealtert und suchte vergebens in seinen von mannigfachen Leidenschaften durchwühlten Zügen, in seinen tiefliegenden, dunkel glühenden Augen nach einer Spur von dem, was er in frühern Tagen gewesen war. Seine ganze Erscheinung blieb ihr nur eine stete ernste Erinnerung an die mächtige Gewalt der Zeit, die sie so gern für immer vergessen hätte, er stand vor ihr wie ein Gespenst, das aus einem schönen Traum sie erweckte, und seine Gegenwart war ihr um so entsetzlicher, je mehr sie zu verbergen strebte, was sie dabei empfand.

Auf Aurelien, die, vier Jahre älter als Gabriele, in der höchsten Pracht völlig erblühter Schönheit strahlte, machte der Baron freilich nicht den Eindruck als auf ihre Mutter, dafür aber fühlte sie sich beim ersten Schritt in das Schloß von der gräßlichsten Langenweile ergriffen. Besonders aber war sie ärgerlich über die kleine blasse Cousine, der unschuldigen Veranlassung dieser ihr widerwärtigen Reise. Um diesem Zorn Luft zu machen, auch wohl um sich doch auf irgendeine Weise zu amüsieren, verfolgte sie die arme Gabriele mit tausend lustigen Einfallen über das, was sie altmodisch-empfindsames Wesen nannte, und spottete ganz ohne Erbarmen, wenn das arme verschüchterte Kind dadurch in Verlegenheit geriet, und sich irgendeine kleine Unbehülflichkeit zuschulden kommen ließ. In bessern Stunden kramte sie vor ihr alle die Künste aus, um derentwillen man sie in der Stadt unter dem Namen einer zweiten Corinna zu vergöttern pflegte. Gabrielens sprachloses Staunen dabei schien ihr ein großer Triumph, ihr ahnete nicht, daß diese nur zu begreifen suchte, wie man von solchen Künsten so viel Wesens machen könne, die sie selbst nur gewohnt war als Erholung von ernstern Beschäftigungen zu üben. Noch weniger fiel es ihr ein, daß die unbedeutende Kleine in manchem wohl nicht ohne Erfolg mit ihr zu wetteifern fähig wäre, denn Gabriele war zu furchtsam und auch zu bescheiden gewöhnt, um auf die entfernteste Weise etwas davon zu äußern.

Es bedurfte nicht Aureliens ungestümes Treiben, um die Gräfin zur möglichsten Abkürzung eines Aufenthalts zu bewegen, der ihren Erwartungen so gar nicht entsprach, besonders da der Baron weit entfernt war, auf dessen Verlängerung zu bestehen. Die Gräfin versprach ihrem Bruder in allgemeinen Ausdrücken, Gabrielen einstweilen zu sich zu nehmen, ihr den nämlichen Unterricht zu verschaffen, den die glänzende Aurelia gehabt hatte, und sie in die Welt einzuführen. Dies genügte ihm. Sie selbst hatte Gabrielen kaum des Bemerkens würdig geachtet. Von ihrer sehr kleinen Gestalt und ihrem ganzen Ansehen getäuscht, hielt sie sie für ein kaum vierzehnjähriges Kind, und dies mußte ein jeder, der solche zum ersten Male sah und nicht Gelegenheit hatte, ihren weit über ihre sechzehn Jahre hinaus gebildeten Geist zu erkennen.

Am dritten Tage nach ihrer Ankunft rollten beide Damen sehr fröhlich über die Zugbrücke der alten Burg der Stadt wieder zu. Gabriele atmete erleichtert auf, indem sie ihnen nachsah, aber im nämlichen Moment traf sie wie ein Donnerschlag aus heitrer Luft die Erklärung ihres Vaters, daß sie in acht Tagen den Damen folgen würde, um wenigstens bis zum Frühling bei diesen zu verweilen. Dennoch vernahm sie den Befehl, ohne eine Einwendung dagegen zu wagen, denn die Möglichkeit, mit Blicken oder Worten dem Willen ihres Vaters zu widerstreben, war nie in ihre Seele gekommen.

Es tat ihr sehr weh, alle lieben, gewohnten, durch die einstige Gegenwart ihrer Mutter geheiligten Umgebungen verlassen zu müssen, besonders da sie vernahm, daß Frau Dalling sie zwar begleiten, aber gleich nach vollendeter Reise zurückkehren würde, um wie sonst dem Haushalt ihres Vaters vorzustehen. Der Schmerz über den Tod ihrer Mutter ergriff sie mit verdoppelter Gewalt; sie fühlte, wie trostlos sie in der Stadt unter Fremden sein würde, von denen keiner ihre Mutter gekannt hatte. Hier im Schloß war sie es nicht, wenn sie auch weinte; der Mutter Geist wehte noch über alles, was sie umgab, sie setzte gleichsam unter seinem Schutz das gewohnte Dasein fort und achtete sich nicht durch das Grab gänzlich von ihrer Mutter geschieden. Dabei fühlte sie ein unnennbares Grauen, wenn sie sich das künftige Leben mit der Gräfin und Aurelien lebhaft dachte, ein Gefühl, das durch die Art, wie beide sich in diesen Tagen gegen sie benommen hatten, recht wohl zu entschuldigen war; aber sie hatte Kraft genug, ihr innres Widerstreben während der ganzen acht Tage, die sie noch im Schloß ihres Vaters blieb, zu verbergen und mit schweigender Ergebung allen Anstalten zu ihrer Abreise zuzusehen. Sie gedachte dabei der Lehren und des Beispiels ihrer Mutter; jeder Tag des Lebens der früh Verklärten war ja auch durch alle jene unzähligen, unbemerkten Opfer bezeichnet, die das Los so vieler Frauen sind, welche die nur nach dem Schein urteilende Welt glücklich preist. Gabriele hatte von ihr gelernt, sie für die Bestimmung ihres ganzen Geschlechts zu halten, aber auch das Unvermeidliche mit guter Art zu ertragen.

Nur am Abend des letzten Tages im väterlichen Hause war die Last des Schmerzes und der Sorge der jungen Brust zu mächtig und zwang ihr laute Klagen ab. Zum letztenmal saß sie mit ihrer lieben Frau Dalling in dem vertrauten Zimmer, wo sie gewohnt hatte, seit sie geboren war; sie hatte an diesem Tage alle ihre lieben Plätze in Garten und Wald noch einmal einsam besucht, hatte im Zimmer, welches sonst ihre Mutter bewohnte, und am stillen Grabe, in welchem diese jetzt ruhte, zu ihr wie zu einer Heiligen gebetet; auch ihr Vater hatte ihr schon Lebewohl gesagt, und seine ihr ganz ungewohnte Freundlichkeit beim Abschied war ihr tief ins Herz gedrungen. Allen Bedienten im Schloß, unter deren Augen sie aufgewachsen war, hatte sie freundlich die Hand gereicht, sie zum letztenmal durch kleine Gaben erfreut und betrübt und ihrer Sorgfalt die einzigen Spielgefährten ihrer Kindheit aufs dringendste empfohlen. Dieses waren schöne Blumen, ihre lieben Zöglinge, und viele freundliche zahme Tiere, welche sich jeden Morgen in buntem Gewühl um sie drängten. Jetzt ward ihr zumute, als wäre sie von ihrem ganzen Jugendleben geschieden und mit einem Strom heißer, langverhaltner Tränen warf sie sich in die treuen Arme der Pflegerin ihrer Kindheit, von der sie auch in wenigen Tagen sich trennen sollte.

Frau Dalling stellte vergebens dem weinenden Mädchen vor, daß Tausende an seiner Stelle sich überglücklich fühlen würden, wenn sie das öde Schloß mit dem glänzenden Hause der Gräfin Rosenberg vertauschen sollten. Gabriele aber hatte keinen Sinn für die Freuden, die dort sie erwarten mochten. Wie die Tante und Aurelien, so dachte sie sich die Welt, in welcher sie künftig leben sollte. Aus deren Benehmen gegen sie schloß sie auf den Empfang, welcher sie in der Gesellschaft erwartete. Übersehen oder verspottet zu werden, ist eine gar zu traurige Alternative für ein junges, an Liebe gewöhntes Wesen, und etwas anders glaubte sie nicht hoffen zu dürfen. Auch der Trost, daß der Frühling sie wieder in ihre Heimat zurückführen würde, machte keinen Eindruck auf das tiefbetrübte Kind. Die Bäume begannen eben erst, sich herbstlich zu färben, acht Monate mußten wenigstens vergehen, ehe sie wieder im Blütenschmuck prangten. Im reifern Alter reihen sich die Tage sehr schnell zu Wochen und Monden, sie werden zu Jahren, ehe wir uns dessen versehen, aber im sechzehnten Jahre dünken uns acht Monate eine so unabsehbare Zukunft, daß Gabriele sie kaum zu erleben glaubte.

Mit wahrer Freude sah Baron Aarheim am folgenden Morgen den Wagen in aller Frühe nach der Schloßbrücke fahren, in welchem die trauernde Gabriele neben ihrer Dalling saß. Er atmete dabei hoch auf, als sei er einer schweren Sorge entledigt, und verschloß sich sorgsamer und eifriger als je bei seinem Forschen nach den dunkeln Geheimnissen der Natur, fest bestimmt, durch keine andern Geschäfte sich davon abhalten zu lassen. Frau Dalling hatte im Lauf von mehr als sechzehn Jahren sich zu treu bewiesen, als daß er ihr nicht bei ihrer baldigen Rückkehr die Besorgung seiner häuslichen Angelegenheiten ohne Bedenken hätte überlassen sollen; übrigens bekümmerte ihn die Verwaltung seines Gutes jetzt sehr wenig, da er in kurzem der Besitzer unermeßlichen Reichtums zu werden gedachte.

Zum erstenmal überschritt jetzt Gabriele die enge Grenze des kleinen Gebiets ihres Vaters, denn Auguste hatte auch hierin seinen deutlich ausgesprochenen Willen geehrt und war mit ihrer Tochter gern in den Schranken geblieben, welche er ihr zu setzen für gut hielt. Als Gabriele die letzten bekannten Bäume und Hütten hinter sich gelassen hatte, kam ihr alles unheimlich und unabsehbar groß vor, was sie erblickte. Das Rasseln der Räder ihres Wagens durch die engen, schmutzigen Straßen des ersten kleinen Städtchens erschreckte und beängstigte sie; die Leute, denen sie darin begegnete, erregten ihr Grauen, denn sie grüßte sie freundlich, wie sie es gewohnt war, und sie starrten sie verwundert an, ohne ihren Gruß zu erwidern. Endlich mochte sie gar nichts mehr sehen, schloß die Jalousien des Wagens, wickelte sich in ihren Schleier und saß lange in schweigendem Sinnen verloren, bis Frau Dalling dem Wunsch nicht mehr widerstehen konnte, durch liebkosende Fragen ihre junge Reisegefährtin aus ihren Träumereien zu erwecken.

„Sei ruhig, gute Dalling“, entgegnete ihr Gabriele, „ich dachte jetzt an meine Mutter und überlegte was ich tun muß, um zu sein, wie sie es wünschen würde. Der Zeitpunkt ist sehr früh gekommen, den sie mir so oft mit schmerzlichem Vorgefühl andeutete; ich trete jetzt in die fremde Welt und ohne sie. Aber sie soll mir nicht gestorben sein, ich will wie unter ihren Augen mein Leben fortsetzen, denn hier in meiner Brust fühle ich zu deutlich alles, was sie mir raten würde, und die fremden Leute sollen mich nicht darin stören. Finde ich ein Wesen, das ich lieben könnte, so will ich lieben, auch wenn man mich nicht bemerkt, und ich werde glücklich sein, denn wer liebt, ist glücklich; alles andre was kommen kann, werde ich gefaßt zu ertragen streben, wie meine Mutter auch tat; darum, liebe Dalling, gräme dich nicht um mich, auch wenn du mich in wenigen Tagen verlassen mußt; freilich tut mir noch das Herz sehr weh, aber alles soll dennoch gut werden.“

Von diesem Moment an ward Gabriele augenscheinlich heiterer; Frau Dalling sah mit inniger Freude, wie das junge Kind gegen seine vorige Trostlosigkeit ankämpfte, selbst gegen das Bangen vor dem ersten Eintritt in das gefürchtete Haus der Tante und in neue unbekannte Verhältnisse. Sie ist ganz wie die Mutter, dachte die gute Frau, aber doch auch ein wenig wie der Vater.

Am Abend des zweiten Tages der Reise langten unsre Wandrer ziemlich früh in dem ihnen vom Baron bestimmten Nachtquartiere an; es war das letzte unterwegs, denn sie gedachten am folgenden Tage noch bei guter Zeit den Ort ihrer Bestimmung zu erreichen. Der Wagen hielt vor der Türe eines großen ansehnlichen Gasthofes, mitten auf dem gewühlvollen Marktplatz der ersten bedeutenden Stadt, welche Gabriele sah. Viele Fremde füllten die Fenster des Hauses und betrachteten mit und ohne Brille neugierig die Aussteigenden. Diesen kam der auf ihre Ankunft vorbereitete sehr elegante Gastwirt höflich entgegen. Alles war Gabrielen neu und beängstigte sie nicht wenig, sie eilte durch die Schar der zu ihrem Empfang geschäftig hin- und herlaufenden Aufwärter und war herzlich froh, so schnell als möglich in das für sie bereitete Zimmer flüchten zu können. Dort fühlte sie sich vor allen den vielen Augen gerettet und blickte mit Wohlgefallen aus dem Fenster auf das ihr ganz neue Schauspiel der Kutschen und geputzten Leute, die dem nahen Theater zuwogten.

Lautes Lachen dicht unter ihrem Fenster machte sie aufmerksam; sie sah eine Menge Zuschauer um einen sehr schönen Reisewagen vor der Türe des Gasthofes versammelt, aus welchem eben zu Gabrielens Verwunderung ein altes Mütterchen in der ärmlichsten Bauerntracht gebückt und mühsam herauskletterte. Ein junger Mann von vornehmen Ansehen unterstützte sie mit seinem Bedienten und geleitete sie mit großer Sorgfalt in das Haus, ohne sich durch die lauten Anmerkungen der Umstehenden im mindesten dabei stören zu lassen.

„Da hat uns der Herr Graf einen angenehmen Gast mitgebracht, Herr Lorenz!“ hörte Gabriele den Kellner zu dem eben wieder hinaustretenden Kammerdiener des Fremden sagen, „die Alte sieht ja aus, als wäre ihr die Ofengabel unterwegs scheu geworden und habe sie abgeworfen.“ – „Viel anders wird es auch wohl nicht sein“, erwiderte Herr Lorenz sehr verdrüßlich, „wir fanden sie im Chausseegraben, und denken Sie nur“, fuhr er fort, „ich mußte wegen des häßlichen Ungetüms aus dem Wagen und auf den Kutschbock neben den Jäger mich setzen.“ – „Unerhört!“ rief der Kellner mit allen Zeichen des höchsten Erstaunens. „Ach was unerhört!“ antwortete Herr Lorenz noch verdrüßlicher, „mein Herr macht mir alle Tage ähnliche Streiche, und am Ende fällt der Schimpf immer auf mich, wenn wir so wie heute vor den Leuten zum Spektakel werden, denn ihm ist das einerlei.“ – „Hören Sie, lieber Herr Lorenz“, sprach beschwichtigend der eben hinaustretende Wirt, „das verstehen Sie nur nicht recht, der Herr Graf machen den Spleen mit, das ist jetzt unter den jungen Herrn eine ganz neue Mode aus England.“

Gabriele mochte nichts weiter hören, sie wandte sich vom Fenster, konnte aber das kleine Abenteuer den ganzen übrigen Abend nicht vergessen. Der Wunsch, von der wunderlichen Reisegesellschaft mehr zu erfahren, überwand zuletzt die Furcht, in dem fremden Hause allein im Zimmer zu bleiben, und Frau Dalling mußte sich entschließen, ihrem Bitten nachzugeben und auf Erkundigung hinunterzugehen. Der Name des Fremden war der Wirtin unbekannt, obgleich er schon einigemal ihr Haus besucht hatte. Übrigens hörte Frau Dalling erzählen, daß der Fremde wirklich die arme Frau unterwegs halb ohnmächtig im Chauseegraben liegend gefunden und sie zu sich in den Wagen genommen habe, weil sie nicht weitergehen konnte und sich auf dem hohen Kutschersitz nicht festzuhalten vermochte. Die gute Alte war vor wenigen Wochen durch den Tod ihrer Tochter ihrer einzigen Stütze beraubt und wollte jetzt nach Böhmen zu ihrem dort ansässigen Sohne. Mühselig hatte sie sich viele lange Tage auf dem Wege dahin fortgeschleppt, bis sie vor Ermattung nicht weiter konnte, und ohne den Beistand des Fremden wäre ihr wahrscheinlich in der kalten Herbstnacht der Tod geworden. Jetzt war ihr geholfen; der Fremde hatte nicht nur für ihre augenblickliche Erquickung gesorgt, sondern sie auch so reichlich beschenkt, daß sie den Rest des Weges fahren konnte, ohne deshalb mit ganz leeren Händen bei ihrem Sohne anzulangen.

Die halbe Nacht hindurch mußte Gabriele an den Unbekannten und seine menschenfreundliche Handlung denken, sie träumte sogar von nichts anderem. Nicht die Tat selbst war es, was sie in Bewunderung versetzte, diese kam ihr gar nicht außerordentlich vor, denn oft hatte sie ihre Mutter Ähnliches üben gesehen, wohl aber, daß ein Mann solchen zarten Mitleids, solcher tätigen Teilnahme an fremden Leiden fähig sei. Dieses feinere Gefühl hatte sie bis jetzt einzig für das Eigentum der Frauen gehalten; sie kannte keinen Mann außer ihrem Vater, dessen in Erbitterung erstarrtes Gemüt bei jedem ähnlichen Anlasse nur zu deutlich sich aussprach. Mehr oder weniger ihm ähnlich dachte sie sich fast alle Männer im wirklichen Leben, und Auguste hatte absichtlich diese Meinung unangefochten gelassen.

Kein Wunder war es demnach, daß der Unbekannte Gabrielen wie eine seltene Erscheinung aus einer anderen Welt vorschwebte. Gern hätte sie wenigstens die Züge seines Gesichts deutlich gesehen; obgleich sie aber am andern Morgen weit früher als Frau Dalling erwachte und vom Geräusch Abreisender sich an das Fenster locken ließ, so sah sie doch nur seine Gestalt, als er in den Wagen stieg und hörte seine Stimme, indem er der alten Frau noch einige freundliche Abschiedsworte zurief. Etwas ungeduldiger als gewöhnlich fing Gabriele nun an, ihre eigne Abreise zu betreiben, im Wagen beschäftigte sie nur der Unbekannte, sie bildete sich tausend Möglichkeiten, ihn im Hause der Tante anzutreffen, sie dachte sich allerlei Verhältnisse, in welche sie mit ihm geraten könnte und sprach so lange mit ihrer Reisegefährtin von nichts anderem, bis sie selbst über ihre kindische Einbildung lächelnd ausrief: „Was denke ich weiter an ihn, er ist jetzt fern von hier und ich sehe ihn in meinem Leben nicht wieder.“ Aber in ihrem Herzen behauptete eine dem Wunsch sehr gleichende Ahnung das Gegenteil und diese traf früher ein, als sie hoffen konnte, denn der Fremde war Ottokar.

Ein ungeheures Lärmen im Hause erweckte Gabrielen am ersten Morgen in ihrem neuen Aufenthalt. Türen wurden auf- und zugeschlagen, Treppen und Vorsäle dröhnten von den Tritten der hin- und herlaufenden Bedienten und Handwerker, es war ein Hämmern, ein Fluchen, ein Rufen und Schelten, als sei eine feindliche Armee eingerückt und das Haus dem Abendfeste zu Ehren in völligem Aufruhr.

Gabriele schmiegte sich vor dem ungewohnten Getöse wie ein schüchternes Vögelchen in eine Ecke, bis die Stunde schlug, in der sie der Tante ihren Morgenbesuch abstatten mußte. Mit Erstaunen begegnete sie auf der Treppe dem wohlbekannten Herrn Lorenz, schwer belastet mit einem Korbe voll der auserlesensten Blumen. Seine Erscheinung freute sie als ein Beweis, daß sie nicht irrte, indem sie in Ottokar den Unbekannten aus dem Gasthofe wiederzufinden glaubte. Aber als sie weiterhin ihn selbst durch die halb geöffnete Türe eines Zimmers erblickte und dadurch die Gewißheit erhielt, mit ihm in einem Hause zu leben, ihn alle Tage zu sehen und zu hören, da bemächtigte sich ihrer ein freudig-ängstliches Gefühl. Es war ein Glück für sie, daß die Gräfin, zu beschäftigt mit Anordnungen für den Abend, Gabrielens Eintritt kaum bemerkte und noch weniger ihr höchst befangnes Wesen. Kurz, aber freundlich entließ die Tante sie gleich in der ersten Minute und gab ihr nur noch die Weisung mit auf den Weg, sich zu Aurelien zu begeben, die sie in ihrem Zimmer finden würde, umringt von Freundinnen, welche heut miteinander in Geschenken zu ihrem zwanzigsten Geburtstage wetteiferten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele