Zweiter Abschnitt. - Die Neugier der Gesellschaft war rege geworden, und Eugenia mußte erzählen, was sie selbst nur vom Hörensagen kannte, ...

Die Neugier der Gesellschaft war rege geworden, und Eugenia mußte erzählen, was sie selbst nur vom Hörensagen kannte, denn sie war bei Gabrielens Ankunft im Zimmer der Tante nicht mehr gegenwärtig gewesen, wohl aber der Professor, der als strenger Zensor über die Erzählerin wachte und jede Übertreibung oder Unwahrheit ohne Gnade rügte und berichtigte. Hippolit hörte beiden mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu.

„Nun wohl, Sie mögen recht haben“, schloß endlich Eugenia, des Streitens müde, „Sie mögen recht haben, und Gabriele äußerte schon damals Spuren jener Festigkeit, überhaupt jenes vernünftigen Überlegens, das sie später bewies, als sie drei Monate, nachdem sie aus Schmerz über die Trennung von einem gewissen Herrn hatte sterben wollen, sich plötzlich eines andern bedachte, der Auszehrung, in die sie zu verfallen drohte, und überhaupt der ganzen traurigen Liebesgeschichte den Abschied gab und kurz und gut diesen etwas possierlichen Herrn Vetter heiratete, der sie bei alledem zur reichsten Frau im Lande machte und auch sonst, wie ich höre, sich ziemlich lenken läßt.“


„Gräfin! Gräfin!“ unterbrach sie unwillig der Professor.

„Stille, stille, lieber Freund!“ erwiderte Eugenia und drückte ihre Hand auf seine Lippen, „ich weiß, was ich weiß, und behaupte nichts, als was ich mit Beweisen belegen kann. Ich war mit dem Rosenbergischen Hause zu genau liiert, als daß mir diese Geschichte hätte verborgen bleiben können.“

Gabrielens Rückkehr zur Gesellschaft zwang Eugenien mitten im Strome ihrer Rede zu verstummen. Alles brach auf, um die letzten Stunden des milden Herbstabends noch im Freien zu genießen. Doch mochte das, was Eugenia noch etwa zu erzählen haben konnte, nicht für alle verlorengehen, denn einige der im Pavillon gegenwärtig gewesenen Damen bemächtigten sich ihrer mit ungemeinem Eifer, um ihr noch bei Mondenschein die Schönheiten des altväterischen Schloßgartens zu zeigen.

Auf Hippoliten hatte niemand geachtet; außer sich vor Zorn über die Erzählerin, deren unverkennbare Bosheit seine ganze Verachtung erregte, unfähig ihr zu glauben, und doch von ihr tief in der Seele verwundet, war er auf seinem Platze stehengeblieben, bis der Professor, der letzte, welcher den Pavillon verließ, an ihm vorüberging. Mit einem freudigen Auffahren ergriff er diesen am Arm und zog ihn mit sich fort ins Schloß hinein. Ein Blick in Hippolits bittendes Auge, und einzelne abgebrochene Worte bewogen den freundlichen Mann, sich ihm unbedingt hinzugeben, und, freilich etwas verwundert über sein seltsames Benehmen, ihm zu folgen, wohin er ihn führen möchte.

Sowie sie in Hippolits Zimmer angelangt waren, begann dieser, noch atemlos von äußerer und innerer Bewegung, dieses sein unziemend erscheinendes Betragen gegen seinen Gast so gut er es vermochte zu entschuldigen. „Es war mir unmöglich“, sprach er, „eine Frau, welche die Anbetung der ganzen Welt verdient, so lästern zu hören.“ –

„Dann bedürfen Sie bei mir keiner Entschuldigung, Herr Graf“, unterbrach ihn der Professor; „konnte ich selbst es doch auch nicht und ließ mich, wie Sie werden bemerkt haben, dadurch verleiten, mitten unter mir ganz Unbekannten als ihr Verteidiger aufzutreten. Und doch habe ich sie nur als ein halbes Kind gekannt. Jetzt stehe ich wirklich geblendet vor ihr.“

„O könnten Sie jetzt erst sie recht kennenlernen! Würde es Ihnen vergönnt wie mir, ein Augenzeuge ihres Lebens zu sein!“ rief Hippolit, von seinem Gefühl hingerissen, und der eben aufgehende Mond spiegelte sich in seinem glänzenden, himmelwärts gerichteten Auge.

Es entstand eine kleine Pause, während welcher der Professor Hippoliten aufmerksam und mit Wohlgefallen betrachtete. Dann nahm dieser gefaßter wieder das Wort.

„Mag denn die freudige Empfindung, mit der ich Ihnen zuhörte, mir und meinem Ungestüm das Wort reden“, sprach er, „und mich auch entschuldigen, daß ich Sie, mit dem ich so zusammentraf, nicht gleich wieder verlassen kann; daß ich sogar es wage, Sie als einen längst gekannten Freund zu betrachten und mit vielleicht zu jugendlicher Zutraulichkeit Sie um die Gewährung einer Bitte zu ersuchen.“

„Es sollte mich in Erstaunen setzen, wenn ich imstande wäre, Ihnen eine zu gewähren, Herr Graf. Obgleich ich fühle, daß ich Ihnen schwerlich eine abschlagen könnte“, erwiderte der Professor, indem er Hippoliten freundlich die Hand bot.

„Die Macht der Verleumdung ist groß“, sprach Hippolit verwirrt nach Worten suchend, und mit abgewendetem Gesicht; „sie ist darum so über allen Ausdruck entsetzlich, weil sie unser Heiligstes untergräbt, ohne daß es möglich wäre, ihr entgegen zu arbeiten. Man glaubt ihr nicht, man bauet fest auf seinen Freund, man stößt mit Abscheu jeden aufkeimenden Verdacht von sich und doch bleibt ein geheimer Stachel tief im Verborgensten der Brust zurück und gräbt, und gräbt leise und unmerklich, bis das alte Vertrauen wankt.“

„Versteh ich Sie, Herr Graf?“ unterbrach ihn der Professor und sah mit weniger freundlichem Blick ihn forschend an. „Wäre es möglich? Sie? Wie! Sie? Der Sie Gabrielen genau zu kennen vorgeben, Sie könnten die Möglichkeit sich denken, daß elendes Berechnen von Rang und Vermögen sie dahin bringen konnte, sich diesem Herrn von Aarheim zu verkaufen?“

„O sprechen Sie das entsetzliche Wort nicht aus!“ rief Hippolit, „schon dies allein ist ein Verbrechen gegen jenes himmlisch reine Wesen! Wie konnten Sie mich so mißverstehen! Ich, der ich, und vielleicht besser als sie selbst, den schauerlich-dunkeln Weg kenne, den das Schicksal mit Gabrielen nahm, um sie in dieses Elend zu führen, ich –“

„Ich weiß nichts von den nähern Umständen, die bei der Vermählung der Frau von Aarheim sich zugetragen haben mögen, auf die Sie anzuspielen scheinen, und verlange auch nichts davon zu wissen“, unterbrach der Professor ihn abermals, noch immer halb erzürnt. „Ich bedarf nichts von alledem, um überzeugt zu sein, daß dieses verächtliche sich selbst Wegwerfen ihr unmöglich war, denn Liebe schützte sie damals vor jeder Erniedrigung ihrer edlern Natur; eben jene Liebe, welche die Frau Gräfin Eugenia in so unwürdigem Lichte zu zeigen sich abmühte.“

Ein unartikulierter Ausruf Hippolits, den er bei diesen Worten nur halb zu unterdrücken vermochte, wurde vom Professor nicht beachtet, der, hingerissen von dem Vergnügen, Gabrielen zu verteidigen, im Feuer seiner Rede fortfuhr.

„Ich war freilich bei Gabrielens Ankunft und bei jener Tableauxszene zugegen, deren die Gräfin Eugenia so spöttisch erwähnte. Ich pflegte damals immer gern die mir zur Erholung gegönnten Stunden in dem gastfreien Hause und in dem geistreichen Kreise der Gräfin Rosenberg zuzubringen. Die kindliche Grazie, das unglaublich schüchterne Wesen des jungen Mädchens, bei dem Geiste, der unter den dunkeln Wimpern hervorblitzte, sowie die über ihr ganzes Wesen ergossene unverkennbare Traurigkeit, machten sie mir gleich in der ersten Stunde höchst interessant. Die gänzliche Verlassenheit, in der sie bald darauf oft mitten in den größten Gesellschaften, furchtsam in sich gekehrt, dastand, erregte mein innigstes Mitleid; schon wollte ich als väterlicher Freund ihr mich nähern, aber da entdeckte ich, daß ein anderer mir zuvorgekommen sei, der in jeder Hinsicht sich freilich besser zu ihrem Beschützer eignete als ich, ein bedeutender Künstler und, wie ich späterhin vernahm, ein alter Freund ihrer Mutter.“

Hippolit, der bei Erwähnung dieses Freundes sehr aufmerksam geworden war, atmete bei den letzten Worten des Professors hoch auf, mit sichtbar erleichterter Brust, und jener fuhr fort:

„So begnügte ich mich denn, dem Entfalten dieser lieblichen Blume von weitem, ohne tätige Teilnahme zuzusehen. Mit unaussprechlichem Vergnügen beobachtete ich das erste Erwachen des reinsten Herzens, das vielleicht je in einer Mädchenbrust geschlagen hat. Es zu erwecken war einem Manne beschieden, den ich vor allen andern dieses hohen Glücks wert achten mußte. Wie oft betrachtete ich mit wahrer Freude das schöne Paar, wenn beide der Zufall nebeneinander gestellt hatte! Er, das Bild männlicher Hoheit, sie ganz weibliche Anmut und Bescheidenheit.“

„Er ist tot? Er starb?“ fragte Hippolit beinahe atemlos.

„Nicht daß ich wüßte“, erwiderte der Professor, „er hat mit letzter Post mir geschrieben. Aber seit Jahren sind sie getrennt und so viel man menschlicherweise die Zukunft berechnen kann, sind sie getrennt auf immer. O hätten Sie Gabrielen damals gesehen! Zwar ihre sterbliche Hülle wäre dem Schmerz der Trennung beinahe erlegen, doch Psyche hob die glänzenden Flügel und schwebt noch immer in ewiger Klarheit. Darum, mein junger Freund! trägt diese seltene Frau alles so leicht, was andere erdrücken würde, sie hat ja das Schwerste früher überwunden.“

Schweigend erhob sich Hippolit von seinem Sitze und beantwortete des Professors Bitte, dieses Gesprächs gegen niemanden zu gedenken, nur mit einem Händedruck. Dieser blickte abermals verwundert ihn an und eine leise Ahnung, daß er hier wohl Unheil gestiftet haben könne, während er durch Gabrielens Verteidigung gegen jeden Argwohn Gutes zu stiften gedachte, flog ihm durch den Sinn, doch blieb ihm zu keiner Äußerung hierüber Zeit. Es ward zur Abendtafel geläutet und Hippolit eilte, noch immer in düsteres Schweigen versunken, an seinem Arm dem jetzt hell erleuchteten Pavillon zu, wo die Gesellschaft eben im Begriff war, an mehreren kleinen Tischen sich zu ordnen.

Gabriele, die den Professor schon längst vermißt hatte, trat ihm an der Türe entgegen, um ihm in ihrer Nähe seinen Platz anzuweisen, und Hippolit nahm diesen Augenblick wahr, um sich, von jedermann unbemerkt, in das dichte wilde Gebüsch neben dem Pavillon zu stürzen.

Unfähig, jetzt Gabrielens Anblick zu ertragen, irrte er planlos umher. Auf ungebahntem Wege, zwischen Felsentrümmern gelangte er in der tiefen Dunkelheit zum Eisenhammer; über wüstes Gestein am Rande tiefer Abgründe hin, hatte er den Weg gefunden, ohne ihn zu suchen. Die Stille der Nacht verdoppelte das dröhnende Tosen der Räder, das Klopfen des Hammers. Die Glut im hohen Ofen, um welchen schwarze, wie der Unterwelt entstiegene Gestalten sich bewegten, leuchtete mit rotem Schein fernhin durch die Einöde; die verdorrten Tannen, die wunderlichen Felsenzacken schienen im flackernden Licht zu gespenstischen Erscheinungen sich umzuwandeln und im seltsamen Tanze auf- und abzuschweben. Jede rege Phantasie mußte hier mit grausenvollen Bildern sich erfüllen. Hippolit fühlte den Eindruck, ohne sich dessen deutlich bewußt werden zu können. Ermattet an Seele und Leib warf er sich auf die alte steinerne Bank neben dem Felsbach hin und überließ sich dumpfen ängstlichen Träumen. Weit nach Mitternacht traf ihn dort der Förster, welcher mit seinen Hunden in den Wald wollte, um nächtlichem Holzfrevel zu wehren. Er erkannte ihn und führte ihn auf dem kürzesten Wege nach seiner Wohnung, wo er ihn einlud, in Ernestos Stübchen bis zum Morgen zu verweilen; denn es war zu spät geworden, als daß Hippolit noch in das Schloß hätte gelangen können, ohne die Hälfte von dessen Bewohnern aus dem Schlaf zu stören. Hippolit ließ sich schweigend alles gefallen.

In der stillen Einsamkeit der einfachen engen vier Wände, zu denen nur aus der Ferne das Dröhnen des Hammers, das Rauschen der Wasserbäche herübertönte, kam Hippolit bald wieder zu einigem Besinnen. Doch mit diesem erwachte auch das ganze volle Gefühl des Schmerzes, der, sein Inneres zerreißend, durch Nacht und Wald ihn bis hierher gejagt hatte.

Sie hatte geliebt? Sie liebte vielleicht noch! Diese Überzeugung ward der Untergang seiner bis zu diesem Augenblicke mühsam errungenen und erhaltenen Herrschaft über sich selbst. Gabriele, die er sonst gleich einer über jede Leidenschaft erhabenen Heiligen verehrt hatte, ward ihm jetzt nur zum schönen, liebeglühenden, irdischen Weibe; die Höhe, auf der sie bis jetzt hoch über ihm stand, war eingesunken und alle Qualen verzehrender Eifersucht, alle Flammen der glühendsten Liebe schlugen hochauflodernd, jeder Mäßigung spottend, über seinem Haupte zusammen. In dem engen Raum, der ihn umgab, wandelte er rastlos auf und ab, bis er, vom Schwindel ergriffen, auf das Lager sank. Kein Schlaf kam in seine Augen, kein einziger Augenblick Ruhe in die wildbewegte Brust. Er wollte fort, er wollte zu ihr, er wollte hinaus in die weite Welt; ganz mit sich selbst zerfallen, arbeitete er sich planlos und vergebens ab, einen festen Zweck des innern und äußern Strebens zu finden.

Der Morgen graute indessen, die Sonne ging auf, sie stieg immer höher, ohne daß er von alledem etwas bemerkt hätte, bis die Frau des Försters mit freundlichem Morgengruß hereintrat, um ihm ein Frühstück zu bringen. Wie ein gefangener Vogel, dem der Käfig geöffnet wird, rauschte er da, ohne sie anzusehen, durch die von ihr offen gelassene Türe hinaus zum Zimmer, zum Hause hinaus.

Erst auf der Hälfte des steilen Weges, der zum Schlosse führt, ward es Hippoliten klar, was ihn so schnell fort und hierher getrieben habe; es war der plötzlich gefaßte Entschluß, den Professor zu sprechen und von ihm durch Bitten oder mit Gewalt Namen und Aufenthalt des Mannes zu erpressen, den Gabriele liebte.

Mit diesem Vorhaben beschäftigt kam er im Schloßhofe an und fand dort alles in ganz ungewohnter Öde und Stille. Nirgends ließ ein einziger von der Schar von Dienern sich erblicken, die sonst immer dort emsig hin und wieder lief. Die Pferdeställe, die Wagenremisen standen alle offen und leer, das ganze Schloß schien wie ausgestorben.

„Wo kommen der gnädige Herr denn so spät noch her? Die Herrschaften sind schon seit mehr als zwei Stunden nach der Rothenburg gefahren; sie dachten alle, Euer Gnaden wären längst vorausgeritten“, rief Hippoliten endlich der Gärtner zu, der mit einem großen Korbe voll Herbstblumen aus dem Garten kam.

Hippolit hatte der heutigen Lustpartie gar nicht weiter gedacht, um derentwillen sich am vergangenen Abend eine so große Gesellschaft im Schlosse versammelt hatte. Jetzt beschloß er, freilich mit einigem Widerwillen, den Professor in der Rothenburg selbst aufzusuchen; doch während er sich dazu anschickte, fiel ihm plötzlich ein, daß auch Eugenia dort sein, daß er auch Gabrielen dort finden werde. Er fühlte mit unwidersprechlicher Gewißheit, daß es ihm unmöglich sei, sie mit diesem Sturm in der Brust wiederzusehen, ohne vor all den neugierigen Blicken, ja vor der Frau, die er als ihre grimmige Feindin betrachtete, das heiligste Geheimnis seines Herzens preiszugeben. Ein neuer Kampf begann in seinem Innern, den endlich der Entschluß endete, statt nach der Rothenburg nach der Stadt zu reisen, den Professor dort in seiner Wohnung zu erwarten und sobald er von ihm erfahren, was er wissen wollte, hinauszuziehen in die Welt, um den Mann aufzusuchen, dessen Dasein ihn mit unerhörten Qualen peinigte. Ihn finden wollte er, ihn sehen von Angesicht zu Angesicht. Was dann aber noch ferner geschehen, was aus dieser Zusammenkunft entstehen sollte, dies schwebte ihm nur in dunkeln Bildern vor, die er gar nicht zu beleuchten wagte.

Sowie er über seine nächste Zukunft mit sich im reinen war, glaubte er sich ruhiger zu fühlen; körperliche Ermattung nach der wilddurchtobten Nacht schien ihm jetzt Fassung zu sein. Er bedachte die Ungewißheit seiner Wiederkehr und begann manches aufzuräumen und einzupacken, was er fremden Augen zu entziehen wünschte. Briefe, Gedichte, glühende Ergüsse der ihn verzehrenden Leidenschaft, die er dem Papier anvertraut hatte, alles suchte er zusammen, und mitten unter dieser Beschäftigung rollte ihm die längst vergessene Kapsel von Platina entgegen, welche er einst unter den Ruinen der Brandstätte gefunden hatte.

Kalte Schrecken durchrieselten ihn mit Todesschauern bei diesem Anblick. Sein Herz stand einige Sekunden und große Schweißtropfen perlten auf seiner Stirne wie auf der Stirne eines Sterbenden. Er sank vor seinem Schreibtisch auf die Knie hin, das stiere Auge haftete an der Kapsel; er las die Inschrift „ Liberorum Salus“, Rettung der Freien. Er mußte sie immer wieder lesen und vermochte nicht den Blick abzuwenden. Zischende Lichter, die er seitwärts sah ohne das Haupt zu wenden, blitzten um ihn her; über sich hörte er ein Rauschen wie von mächtigen Flügeln, es war das seine Adern durchrieselnde Entsetzen, mit dem das junge Leben sich gegen den furchtbaren Gedanken sträubte, der in diesem Moment ihn mit Riesenstärke ergriff. Und dabei mußte er innerlich doch immer wiederholen: Liberorum Salus.

Dieser Zustand währte indessen nur wenige Minuten, dann stand er auf, faßte und öffnete die Kapsel mit fester Hand und hob das funkelnde Fläschchen gen Himmel. „Ich danke dir!“ rief er, „wie durch ein Wunder zeigst du mir die rechte Bahn; so sei es denn!“ Von diesem Momente stand die Überzeugung fest gegründet in seinem Gemüt, daß nur der selbstgewählte Tod ihm einen Ausweg öffnen könne. Was sollte er ohne Ruhe und Rast die Welt durchirren, um ein Wesen zu suchen, dessen Dasein ihn in Verzweiflung setzte! Wenn er ihn nun gefunden hätte? Nur blutig konnte dies enden. „Nein! Gabriele soll um ihn nicht weinen! Mir, mir gehören ihre Tränen, wenngleich ihm ihre Liebe“, rief er. „Uns beiden zugleich kann diese Sonne nicht länger scheinen, so wähle ich denn für sie den kleineren Schmerz und lege ihrer Ruhe mein Leben willig zum Opfer hin.“

Mit dem feierlichen Wesen, welches die Jugend im Schmerz so gern annimmt, fuhr er nun fort, Papiere zu vernichten, andre zu versiegeln und an entfernte Verwandte zu adressieren. Er versuchte es mehrere Male, an Gabrielen zu schreiben, doch dieses überstieg seine Kräfte. Allmählich überschlich ihn ein unnennbares Mitleid mit sich selbst, mit tiefer Betrübnis feierte er den Abschied vom schönen, heitern Sonnenlicht. Sein eigner Entschluß erschien ihm als eine unabänderliche äußere Bestimmung; er vergaß ganz, daß es nur von ihm abhing, sie abzuwenden. Er hatte ausgetobt, seit dem vergangenen Tage hatten weder Schlaf noch Nahrung ihn erquickt. Er fühlte kein Bedürfen, aber er war einer völligen Erschöpfung aller seiner Kräfte nah und so gab er sich ohne Widerstreben sanfteren Gefühlen hin. Traurig, aber mit festem Willen beschloß er, die Bande langsam zu lösen, die ihn noch an das Leben fesselten.

Feierlich und still durchzog er das ganze Schloß, er suchte noch einmal alle die Plätze auf, wo er sie gesehen, auf jedem Schritte drängten tausend süße und bittere Erinnerungen sich ihm entgegen. Rings um ihn her herrschte das tiefste Schweigen, kein neugieriges Auge, kein geschäftiger Tritt belästigte ihn störend, denn der Teil der Dienerschaft, welchen die Herrschaft zurückgelassen hatte, benutzte den seltnen freien Tag, um sich außerhalb des Schlosses zu vergnügen.

Hippolit gelangte endlich an die Türe zu Gabrielens Zimmern, er fand sie verschlossen und sank, von seinem Gefühl überwältigt, auf der Schwelle nieder. Alle Furien der Verzweiflung erwachten aufs neue in seiner Brust, er ergriff das Fläschchen, im Begriff, es hier zu öffnen; aber der Gedanke an Gabrielen, an ihren Schrecken, an den Abscheu, mit dem sie vielleicht gerade hier von seiner entstellten Hülle sich wenden würde, hielt ihn zurück. Er riß sich wieder empor, eilte, vor sich selbst fliehend, eine in der Nähe befindliche Treppe hinab und fand sich erst in einem abgelegenen Seitenhofe wieder, vor dem äußern Eingange zur Kapelle, welche von der andern Seite an die Reihe von Zimmern stieß, die einst der alte Baron und jetzt der gegenwärtige Besitzer des Schlosses bewohnte. Ohne sich dessen deutlich bewußt zu sein, stieg er die Treppe hinauf, die Türe der Kapelle stand offen.

Es war zur herbstlichen Zeit des immer merklicher werdenden Abnehmens der Tage, und die Sonne neigte sich schon dem Untergange zu, obgleich es noch gar nicht spät war. Ihr Strahl brach sich in den mannichfaltigen, gleich reichen Edelsteinen glänzenden Farben der alten Heiligenbilder und Familienwappen, welche, bunt und kunstreich gemalt, die Fenster schmückten. Purpurrote Dämmerung, mit tiefdunkeln Schatten wechselnd, erfüllte das hohe Gewölbe, als Hippolit in die Kapelle trat. Der Altar, hinter welchem die Türe sich öffnete, schien erleuchtet. Langsam, von der Feierlichkeit des Ortes besänftigt und erhoben, schritt Hippolit vorwärts und erblickte – und traute seinen Augen nicht – und glaubte einer überirdischen Erscheinung gewürdigt zu sein – denn auf den Stufen des Altars lag Gabriele betend, in Andacht versunken.

Langsam erhob sie sich, vom Geräusche seiner Tritte aus ihren Himmeln zurück gerufen. Ein langes schwarzseidenes Gewand breitete in reichen Falten sich weit um sie her; sie war ungewöhnlich bleich, aber ein Schimmer überirdischer Seligkeit umleuchtete sie, als sie die tränenschweren Wimpern hob, und, in der Dämmerung ihn nicht gleich erkennend, ihm einige Schritte entgegentrat.

„Sie sind es, Hippolit?“ rief sie erschrocken aus. „Was führt so schnell Sie von der Rothenburg zurück? Ist meinem Gemahl oder sonst jemanden von meinen Freunden dort ein Unglück widerfahren? Ihr zerstörtes Ansehen läßt mich alles befürchten. Um Gottes willen, was ist es? Ich kann alles eher ertragen als diese Ungewißheit, darum bitte ich, sprechen Sie.“

Hippolit, völlig unfähig, nur eine Silbe zu erwidern, zitterte so, daß er sich an einem der den Altar umgebenden Pfeiler festhalten mußte, um nicht zu Boden zu sinken.

„Reden Sie, reden Sie“, bat Gabriele mit vor Angst fast unhörbarer Stimme und immer bleicher werdend.

„In der Rothenburg ist hoffentlich alles wohl; ich war nicht dort“, antwortete ihr endlich leise und bebend Hippolit. Dann stürzte er, von seinem Gefühl hingerissen, plötzlich vor sie hin, rief laut ihren Namen, verhüllte sein Gesicht in den Saum ihres Kleides und das Fläschchen, welches er bis dahin noch immer krampfhaft festgehalten hatte, entfiel ihm, jedoch ohne zu zerbrechen. Mit lautem schrillenden Tone rollte es über den Marmorboden hin.

Ein Schrei Gabrielens schreckte Hippoliten auf, er sah sie im Begriffe zu sinken und umschlang sie mit seinen Armen; sein Herz pochte hörbar, seine Augen glühten gleich verzehrenden Flammen, seine zitternden Lippen berührten ihren Schleier und die goldenen Locken, er drückte sie fest und immer fester an seine schweratmende Brust. Sie bemerkte nichts von dem allen, ihre Blicke hafteten mit dem Ausdruck des Entsetzens auf dem blinkenden Kristalle, der zu ihren Füßen die Strahlen der Altarlichter zurückwarf.

„Allmächtiger Gott! Was ist das?“ rief sie mit zusammengeschlagenen Händen, indem sie sich aus Hippolits Armen wand, ohne sich dessen bewußt zu sein. „Ich kenne dieses Fläschchen – und doch weiß ich nicht – mir ist als hätte ich einmal davon geträumt, einen fürchterlichen Traum – oder mein Vater – Heiliger Gott! Mein Vater!“ rief sie mit so wildem Tone, daß Hippolit davon zusammenschauderte, an allen Gliedern bebend, sie los ließ und mit gesträubtem Haar in die tiefe Dunkelheit am andern Ende der Kapelle hinstarrte, als erwarte er dort dessen düstern Schatten emporsteigen zu sehen.

„Guter Hippolit! Ich habe Sie erschreckt“, sprach jetzt Gabriele, indem sie sich erholte und sichtbar nach Fassung rang, „ich wollte es nicht, aber Sie selbst sind schuld daran.“ Sie setzte sich ermattet auf die Stufen des Altares nieder, das Auge noch immer starr auf das Fläschchen geheftet. Ihn sah sie nicht an, der, verzehrendes Feuer im Blick, wie im Kampfe zwischen Himmel und Hölle, über ihr hing.

„Ich kann meine Augen nicht von dort wenden“, sprach sie ernst nachdenkend, „irgendeine entsetzliche Erinnerung knüpft sich an diesen Gegenstand und doch schwebt mir alles so undeutlich vor, so verworren, wie aus einem frühern Dasein in einer andern Welt. O rühren Sie es nicht an!“ rief sie heftig und stand auf und faßte Hippolits Arm, als dieser sich bückte, um das Fläschchen aufzunehmen. „Rühren Sie es ja nicht an; ich bin wohl schwach und kindisch, aber mir ist, als müsse irgendein entsetzliches Unglück hereinbrechen, wenn Sie es berühren – als wäre der Tod darin verborgen. Der Tod – Mein Gott, mein Gott, wie ist mir denn! – Wo habe ich es früher gesehen? Wo kommt es jetzt denn her?“ Bei diesen Worten hob sie den Blick zu Hippoliten auf. In der scheuen Zerstörung, die aus seinen Augen, aus seinem ganzen Wesen hervorleuchtete, schien ihr mit einemmale ein Strahl der Wahrheit aufzugehen.

„Hippolit!“ rief sie, „es ist Gift und Sie brachten es hieher! Sagen Sie: nein! Sehen Sie meine Angst um Sie, um Gottes willen sagen Sie: nein.“

Verstummend sank er vor ihr hin und verhüllte sein Gesicht.

„Um Gottes willen sagen Sie: nein“, wiederholte sie, an allen Gliedern bebend; „diese Stunde, dieser Ort, Ihr Zurückbleiben von der Gesellschaft, der Ausdruck Ihrer ganzen Gestalt – Was ist Ihnen denn geschehen? Was konnte Sie bewegen? Reden Sie mit mir, vertrauen Sie sich mir! O Hippolit! Das konnten Sie mir tun?“ rief sie endlich und brach in Tränen aus. „Reden Sie mit mir“, bat sie immer heftiger weinend, indem sie mit aller Kraft den Gebeugten aufzurichten strebte, ihre Tränen fielen auf ihn, sie benetzten seine Hände, sein Gesicht, indem sie ihn zum Aufstehen zu bewegen sich vergeblich bemühte.

„O Gabriele!“ rief er, „du weinst um mich! Nach dieser Seligkeit gibt's keine mehr für mich in dieser Welt. Vergib mir, ich wollte dich nicht betrüben. Segne mich und verlasse mich dann, laß mich zur Ruhe gelangen, ich unterliege dem schweren Kampf, aber ich habe ihn redlich gekämpft.“

Der Schleier, der bis dahin Gabrielen die Wahrheit verhüllt hatte, fiel bei diesen Worten Hippolits von ihren Augen. Sein Anblick, die tödliche Heftigkeit in seinem Wesen, vereint mit der Erinnerung an tausend bis dahin von ihr unbeachtete Züge, traten plötzlich als unwiderrufliche Beweise seiner Leidenschaft vor ihre Seele. Sie gedachte dabei ihrer ersten Jugendzeit, sie gedachte Ottokars, sie gedachte der eigenen frühern Schmerzen und fühlte unaussprechliches Mitleid für den vom Unglück nie gebeugten Jüngling, der dem wilden Kampf gegen ein Geschick zu unterliegen im Begriff war, welches das sanftere Mädchen in stiller Duldung zu tragen gewußt hatte.

„Hippolit!“ sprach sie mit unendlich weicher Stimme, „Hippolit! Wenn es wahr ist, wenn wirklich ein unseliges Gefühl, dem ich bis jetzt so gern allen Glauben versagte, Ihre Brust erfüllt, wie war es Ihnen möglich, mich so betrüben zu wollen? Fiel es Ihnen denn gar nicht ein, was aus mir werden solle, nach solchem Erleben?“

Ein Tränenstrom erleichterte jetzt auch Hippolits Brust; ihm war, als lüfte sich damit ein eisernes Band, das bis dahin sie zusammengepreßt hielt. Gabrielen zu antworten, vermochte er noch nicht, doch er gab nach, da sie abermals ihn aufzurichten strebte und setzte sich, ihrem Winke gehorchend, neben sie auf die Stufen des Altars. Das Fläschchen blinkte immerfort zu ihrer beiden Füßen.

Der Heiligkeit des Orts und seinem edlen Sein vertrauend wendete sich Gabriele jetzt ganz zu ihm und faßte seine beiden Hände; sie blickte ihn mit dem vollen Ausdrucke des unendlichen Mitleids, der unsäglichen Besorglichkeit für ihn an, die in diesem Momente bis zum Zerspringen ihre Brust bewegten.

„Sie glauben, mich zu lieben“, sprach sie. „Ach! Was ist Liebe wohl anders, als der innigste Wunsch, das Geliebte zu beglücken, sei es auch auf Kosten des Teuersten, was wir in dieser Welt besitzen? Und ist denn dieses irdische Dasein das Höchste, was wir opfern können? Ist Leben nicht oft so unendlich schwerer als der Tod?“

Nach diesen Worten erhob sie sich langsam, bückte sich und faßte das Fläschchen, obgleich sie schaudernd zusammenfuhr, indem sie es berührte. Schweigend stand sie einen Moment, das betende Auge fromm zum Altar erhoben, und es war, als ob sie hiermit wieder die Fassung errungen habe, welche immer zur Zeit der Not aus ihrem Tun hervorleuchtete. Sie wendete sich mit hohem Ernste zu Hippoliten und überreichte ihm das Fläschchen.

„Ich weiß, daß ich dieses Ihnen jetzt anvertrauen darf“, sprach sie; „ich lege das Glück, die Ruhe meiner künftigen Tage hiermit in Ihre Hände. Und nun geleiten Sie mich ins Schloß, wir sind beide erschöpft und die Natur fordert ihre Rechte. Morgen sehe ich Sie wieder, morgen soll alles Verworrene sich lösen. Die Nacht ist düster und schwer, aber die kommende Sonne wird uns Kraft, Mut und Entschluß in die Seele strahlen.“

Sie ergriff seine Hand und führte ihn wie ein Kind durch die Kapelle zur Türe hin, die in ihres verstorbenen Vaters Zimmer sich öffnete, und durch die sie einst, von Ernesto geleitet, zum Traualtar hingewankt war. Im Zimmer selbst harrten ihrer Frau Dalling und Annette.

„Ich bringe dir einen Kranken, den ich deiner sorgsamsten Pflege empfehle, liebe Dalling“, sprach sie mit der Geistesgegenwart, die sie in schweren Momenten sich immer zu erhalten wußte. „Mich soll Annette auf mein Zimmer begleiten, denn auch ich bin der Ruhe höchst bedürftig.“ Hierauf wendete sie sich zu Hippoliten, reichte ihm nochmals die Hand und blickte mit ihren klaren treuen Augen ihm Hoffnung und Frieden in das hart verwundete Gemüt. „Gute Nacht“, sprach sie, „gedenken Sie meiner in Ihrem Gebet, ich werde Ihrer gedenken. Ich werde den Geist meiner Mutter für Sie anrufen, der an diesem Tage, an welchem er mich einst verwaist in der Welt zurückließ, gewiß noch freundlicher als sonst mich umschwebt. Ich werde die Verklärte bitten, daß sie meinen jungen Freund wie mich in diesen dunkeln Stunden vor nächtlichem Grauen und jedem Unheil behüte. Morgen sehen wir uns wieder.“

Und so schieden sie.

Mit sich allein in der ungestörten Ruhe ihres Zimmers fühlte Gabriele erst die zerstörende Gewalt der eben durchlebten erschütternden Stunde. In stiller Betrachtung, in frommem Gebete hatte sie ganz einsam diesen Tag zugebracht, an dem vor acht Jahren der erste Schmerz ihr kindliches Gemüt mit unaussprechlichem Jammer erfüllte. Der verklärte Geist ihrer Mutter war damals von irdischen Fesseln befreit, zu höherem Leben gerufen worden, und was auch Gabriele seitdem Trübes und Schmerzliches erfuhr, so hatte doch nichts den Eindruck dieses ersten Verlustes zu verlöschen vermocht. Immer hatte sie sich gesehnt, nur einmal noch den Sterbetag ihrer Mutter in den durch das stille Walten der Verklärten geheiligten Räumen zu feiern, und der ihr so selten freundliche Zufall schien dieses Mal den frommen Wunsch zu begünstigen. Er ließ gerade auf diesen Tag das glänzende Verlobungsfest eines jungen Paares aus der Nachbarschaft fallen und Schloß Aarheim sowohl als alle Schlösser in der Nähe standen während der zwei Tage verödet da, die auf Schloß Rothenburg in allen erdenklichen Lustbarkeiten dem Brautpaar zu Ehren zugebracht wurden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele