An der Seite seiner edlen Freunde, angeregt und ermutigt durch Ottokars Nähe und Ernestos klaren welterfahrnen Sinn, gelangte Hippolit zu einer immer sicherer werdenden Gewalt ...

An der Seite seiner edlen Freunde, angeregt und ermutigt durch Ottokars Nähe und Ernestos klaren welterfahrnen Sinn, gelangte Hippolit zu einer immer sicherer werdenden Gewalt über sich selbst. Das Jahr neigte sich zu Ende und er fühlte jetzt im gerechten Vertrauen auf sich, daß er es wagen dürfe, Gabrielen um die Erlaubnis zur Rückkehr zu bitten. Sie hatte sie ihm beim Scheiden unter Bedingungen versprochen, deren Erfüllung ihm zwar noch schwer, aber doch nicht mehr unmöglich dünkte.

So schmerzlich auch Ottokar die Trennung fühlen mochte, bestärkte dieser ihn doch durch seine Zustimmung in diesem Entschluß, und so wagte es Hippolit denn endlich, ihn gegen Gabrielen auszusprechen.


„Fürchten Sie keinen neuen Ausbruch jener vernichtenden Leidenschaftlichkeit mehr von mir, deren ich jetzt nur noch mit einem sehr beschämenden Gefühl gedenken mag“, schrieb er ihr. „Sie werden Ihren wilden Edelknaben in nichts wiedererkennen als in der treusten Anhänglichkeit und unbedingten Ergebung in Ihren Willen. Mögen Sie ihn zum zweiten Mal und auf immer verbannen, wenn je ein Wort, ein Blick, ein Atemzug jene trüben Tage Ihnen zurückruft, in denen er mit umdüstertem befangnen Sinn alles vergaß, was er Gott, sich selbst und Ihnen schuldig ist. Gabriele! Sein Sie wieder mild und gütig, wie Sie es immer waren; Sie können es ohne Sorge, ich will ja nichts als in Ihrer Nähe sein, Sie sehen, Sie hören. Sie selbst sollen bestimmen, wie oft, wie lange? Und wenn Sie mir nur eine Stunde, ja nur wenige Minuten des Tages vergönnen, ich will nicht murren gegen Ihr Gebot, das ich dankbar verehre.“

Wenige Wochen nach dem Empfange dieses Briefes stand Hippolit selbst vor Gabrielen.

Er fand sie allein in ihrem stillen Zimmer in der Residenz, wohin sie von Lichtenfels zur Pflege ihres Gemahls zurückkehren mußte, der vor einigen Monaten sehr krank von seinen ermüdenden Streifereien zu Hause angelangt war. Hippolit wankte zwar, als er Gabrielen zuerst wieder erblickte, doch half ihm die Bewegung, in die sie selbst in diesem Momente geriet, dies zu verbergen. Ihr Auge strahlte mit ungewohntem Feuer, ein blühenderes Rot färbte ihre Wangen, ihre Gestalt schien noch ätherischer als sonst, die Zeit hatte ihrer Schönheit höheren Glanz verliehen und mit der ersten Blüte früher Jugend ihr keinen Reiz geraubt. So erhob sie sich bei seinem Eintritte von ihrem Sessel und suchte vergebens nach freundlichen Worten, ihn damit zu begrüßen. Er wagte es nicht, die Hand zu berühren, die sie wie unwillkürlich ihm halb entgegenreichte, aber sein Herz sprach laut aus seinem gesenkten Blicke, aus der edlen und doch so demütigen Stellung, in der er vor ihr, wie vor einem Götterbilde, sich ehrerbietig neigte. Der Edelknabe war zum Manne geworden, zum männlichschönsten, den ihr Auge je erblickte, aus dessen edlen, rein harmonischen Zügen jede Spur jenes wilden Feuers verschwunden war, von dem sie sonst so oft erschreckt worden. So hatte Ottokar ihren Jugendträumen vorgeschwebt, jetzt erblickte sie das Traumbild ins Leben gerufen, aber veredelt, verklärt, wie sie selbst in ihren phantasiereichsten Stunden es nie sich gedacht hatte.

Beide schwiegen in den ersten Momenten; Hippolit fand zuerst den Mut, dies Schweigen zu brechen. Er brachte Briefe, Zeichnungen, Kameen, Pasten, kleine Mosaiken, die Ernesto ihm für Gabrielen mitgegeben hatte und kramte alle die glänzenden Gaben in liebenswürdiger Geschäftigkeit vor ihr auf dem Tische aus.

Von ihnen wendete sich das Gespräch auf sein Leben und seine Reisen in Italien. Er sprach viel von Ernesto, endlich wagte er es, sogar Ottokars Namen zu nennen und Gabrielen manches Angenehme von dessen jetzigem Leben mitzuteilen. Er tat es mit etwas unsicherer Stimme und gesenktem Blick, ohne jedoch Ottokars in irgendeiner genauern Beziehung zu Gabrielen zu erwähnen. Er sprach von ihm nur als von einem ihm sehr teuern Freunde, dem er unendlich viel verdanke. Es war das letzte schwerste Erproben seiner Standhaftigkeit, das er sich selbst auferlegt. Er hatte darin bestanden, aber jetzt vermochte er auch nicht mehr. Er erhob sich, um Abschied zu nehmen, und bat nur noch um die Erlaubnis, zu einer gelegenen Stunde auch Moritzen begrüßen zu dürfen.

Hippolit hatte während seines Besuchs beinah allein gesprochen, denn Gabriele vermochte es kaum über sich, dann und wann einige Worte der Schicklichkeit zuliebe einzuschieben; sie war ganz Auge, ganz Ohr, hingerissen vom lebhaftesten Erstaunen über die unglaubliche Veränderung, die in weniger als zwei Jahren wie durch ein Wunder bewirkt ihr hier entgegenleuchtete.

In tiefem Nachsinnen und doch fast ohne Worte für ihre Gedanken, blieb Gabriele lange wie in sich verloren. War das der Hippolit, welcher einst so keck und vorlaut an dieser nämlichen Stelle auftrat? War das der wilde rohe Jüngling, dessen ungebändigten Sinn sie unlängst mit so ernster Strenge zurechtzuweisen gezwungen war? Ihr Herz regte sich laut in ungestümen Schlägen, ihre Wangen glühten, vor Freude weinte sie über diese glückliche Verwandlung. Eine ihr unerklärliche Unruhe hielt sie mitten in diesem frohen Gefühle befangen, die bei dem Gedanken, ihn am Abend wieder zu sehen, in ihr ein Bangen erregte, wie sie kaum damals es empfunden hatte, als sie, ein Neuling in der Welt, zwischen Fürchten und Hoffen Ottokars Gegenwart im Salon ihrer Tante entgegenging.

Endlich am Abend erschien Hippolit in Moritzens Zimmer. Der mürrische Kranke empfing ihn mit bittern Vorwürfen über seine plötzliche Abreise von Schloß Aarheim, die Hippolit mit vieler Sanftmut ertrug. Bald fühlte sich Moritz wieder von dem gewohnten Zauber hingerissen, den die Gegenwart seines ehemaligen Lieblings stets an ihm übte. Er wurde immer freundlicher, zuletzt war alles Unangenehme soweit vergessen, daß er nur aufs neue mit Bitten in ihn drang, sein Haus wie ehemals als sein eignes zu betrachten. Der ihm nun wieder ganz zugeneigte Alte trug ihm sogar eine Wohnung in demselben an, er drang sie ihm fast auf, und Hippolit bedurfte aller seiner Gewandtheit im Leben, um dies Anerbieten bescheiden von sich abzuweisen. Er tat es, ohne dabei den Blick zu Gabrielen zu erheben, die hocherrötend und schweigend der Verhandlung zuhörte, ohne die mindeste Äußerung über sie zu wagen. Sie schämte sich innerlich ihrer Verlegenheit dabei, denn sie glaubte nun fest überzeugt sein zu können, daß in Hippolits Gemüt keine Spur von jenem Gefühl mehr lebe, das sie einst zwang, ihn zu verbannen, und doch vermochte sie es nicht über sich, diese wunderbare, ihr selbst unerklärliche Befangenheit zu besiegen.

Von nun an war Hippolit aufs neue Gabrielens täglicher Gast. Sein Betragen blieb sich immer gleich. Immer erschien er gelassen, sanft, freundlich gegen Moritzen; voll inniger Teilnahme und ungeheuchelter Ehrfurcht gegen Gabrielen. Zuweilen fand er sie allein, öfter am Krankensessel ihres Gemahls, der von einem unheilbaren Asthma ergriffen, in manchen Augenblicken Todespein litt, von der er sich aber stets nach einigen qualvollen Minuten schnell wieder erholte. Zufolge des Ausspruchs der Ärzte konnte er noch viele Jahre lang mit diesem Übel kämpfen, ehe es ihn überwältigte.

Einst, nicht lange nach seiner Ankunft, überraschte Hippolit Gabrielen, eben da sie zitternd vor Frost, in der unfreundlichsten Jahreszeit, bei weit geöffneten Türen und Fenstern den atemlosen Kranken unterstützte, der für seine gequälte Brust nur in der fürchterlichsten Zugluft einige Erleichterung fand und sie dabei in seinem bewußtlosen Zustand fest umklammert hielt. Der Anfall ging vorüber und Hippolit gewann Zeit und Kraft, Gabrielen zu betrachten, welche, mitleidige Tränen im schönen Auge, erschöpft hinsank.

Sein Herz stand still vor Entsetzen, da ihm in diesem Momente die Gefahr plötzlich entgegenstarrte, der sich dieses zarte Wesen täglich aussetzte. Und für wen?

Die auf ihren vorher so bleichen Wangen schnell erblühende tiefe Röte, das ungewohnte Strahlen ihrer Augen bezeichnete sie seinem vorahnenden Herzen auf einmal als eines jener Opfer, welche der langsam heranschleichende Tod erst mit überirdischer Schönheit schmückt, ehe er sie früh und auf immer erbleichen läßt.

Von ungeheurer Angst getrieben, ergriff er nun die erste einsame Stunde mit ihr, um sie um Schonung für sich selbst anzuflehen. Es war die erste Bitte, die er seit seiner Rückkehr aus Italien an sie wagte; wenn sie sie ihm gewährte, sollte es auch die letzte sein, dies gelobte er auf das heiligste. Gabriele konnte sie ihm weder versagen noch gewähren, und Hippolit sah sich dadurch gezwungen, sie von nun an gleich einem teuern Kleinod argwöhnisch zu bewachen. Er beschloß, so viel Zeit als möglich in ihrem Hause zuzubringen, entstehe daraus was da wolle, um nur gleich zur Stelle zu sein, wenn der Kranke so gefahrvollen Beistand verlange. Denn eigensinnig wie immer, erklärte dieser, ihn nur von seiner Gemahlin oder Hippoliten annehmen zu wollen.

Die Welt, eigentlicher was man in großen Städten die Welt zu nennen pflegt, begann freilich hier und da des glänzenden Fremdlings stete Anwesenheit im Aarheimischen Hause zum Ziel ihrer Bemerkungen zu machen; doch in der Abgeschiedenheit, in welcher Gabriele jetzt lebte, vernahm diese wenig davon. Weniger noch Hippolit. Denn sowohl sein Äußeres als die Erinnerung an sein Betragen gegen Adelberten waren ganz dazu geeignet, jedermann den Mut zu einem unziemenden Scherze gegen ihn zu benehmen.

Und so war Hippolit jetzt glücklicher als er es je zu werden gehofft hatte; er war es in der Überzeugung, daß es ihm wirklich gelänge, zur Erhaltung und Erleichterung des geliebten Wesens beizutragen, für das er mit Freuden sein Leben hingegeben hätte. Ein freundlicher Stern schien dabei sein Bemühen zu begünstigen, denn Moritz ward bald darauf scheinbar besser, wie das bei Kranken seiner Art zuweilen wohl auf kurze Zeit geschieht, und er ermangelte nicht, dies einzig der treuen Pflege seines jungen Freundes zuzuschreiben. Seine beängstenden Anfälle verließen ihn einstweilen fast gänzlich, dafür aber stellte sich seine alte Feindin die Langeweile, wieder ein und er machte jetzt weit stärkere Ansprüche als je zuvor auf Hippolits und Gabrielens Gesellschaft in den Abendstunden.

Um der Unterhaltung eine leidliche Wendung zu geben, trug Hippolit allmählich alle seine in Italien gesammelten Kunstschätze herbei. Gemälde, Zeichnungen, Kupferstiche, kleine Antiken gaben Moritzens Zimmer gar bald das Ansehen eines Museums. Wunderbarerweise bildete dieser sich mit einem Male ein, ein großer Kunstkenner geworden zu sein; da indessen seine Redseligkeit durch sein Übel sehr gehemmt ward, so war er weit weniger störend als sonst und blieb gewöhnlich nur ein größtenteils stummer Zuhörer von dem, was Hippolit und Gabriele miteinander sprachen. Er behauptete indessen sehr ernstlich, diese Unterhaltungen, besonders Hippolits Erzählungen ungemein ergötzlich zu finden, spielte aber dabei doch mit sich ganz allein eine Schachpartie nach der andern, wie Philadelphia sie in seinem Schachbuche vorschreibt, samt allen Abänderungen jedes einzelnen Spieles. Triumphierend rief er sein „Matt!“ aus, wenn die Weißen gewannen, die er nach seines Meisters Beispiel, der die Schwarzen gewöhnlich schlecht spielen läßt, in besondern Schutz genommen hatte. Dabei glaubte er steif und fest, sich den ganzen Abend über einzig mit der Kunst beschäftigt zu haben.

Hippolits und Gabrielens Unterhaltung gewann durch dieses sonderbare Beisammensein einen ganz eignen Reiz, eine fast größere Freiheit, als wären sie ganz ohne Zeugen gewesen. Moritz vertiefte sich immer mehr in sein Studium des Schachspiels und mischte sich immer weniger in ihr Gespräch. Die Kunstwerke um sie her und Hippolits in Italien unter Ernestos Leitung sehr ausführlich geschriebenes Tagebuch gaben ihnen stets neuen, nie endenden Stoff.

Gabriele ward in mancher Hinsicht jetzt wirklich die Schülerin ihres Freundes, anstatt daß er sonst in Schloß Aarheim von ihr lernte. Lächelnd erwähnte sie einst gegen ihn dieser seltnen Umwandlung.

„Bin ich nicht alles durch Sie?“ erwiderte er ihr. „Sie allein erweckten mich ja zu diesem neuen erhöhten Leben. Sie öffneten mir ja zuerst das Reich der Kunst und führten mich zur beseligenden Erkenntnis der ewigen Schönheit. O Gabriele, wüßten Sie, mit welchem Wonnegefühl ich mir täglich zurückrufe, was ich Ihnen alles verdanke! Möge nur ein günstiges Geschick mir erlauben, Ihnen stets zur Seite zu stehen wie jetzt, um mit jedem Atemzuge Ihnen zu beweisen, daß ich nur für Sie lebe, für Sie, die mich allein dem Sonnenlichte und der Hoffnung erhielt.“

Ein Monat nach dem andern verging auf diese Weise und Hippolit fühlte mit immer tiefrer Überzeugung, daß weder Zeit noch Veränderung des Ortes, seinem Gemüt in Hinsicht auf Gabrielen eine andere Richtung gegeben habe, noch geben könne. Sie nur thronte, gleich einem Götterbilde, in seinem Herzen, und die Einsamkeit war noch oft Zeuge seines Schmerzes. Unendliches Mitleid mit ihr, mit sich und auch mit Ottokar hielt manche bange lange Nacht hindurch den Schlummer fern von seinem Lager. Doch er hatte gelobt, sich zu beherrschen, und er führte es mit bewunderswerter Standhaftigkeit aus. Er kam und ging, und kein Wort, kein Blick durfte sein Geheimnis verraten. Er dachte wohl daran, daß Gabriele auf diese Weise seine frühere Liebe zu ihr als erloschen und in ruhige Freundschaft umgewandelt betrachten würde, aber er war bereit, auch dieses zu tragen, um nur den innern Himmelsfrieden der hochgeliebten Frau nie wieder zu trüben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele