Aus Mailand. - „Ein Strahl des Trostes ist mir hier geworden, wo ich ihn nimmer erwartet hätte. Ich bin nicht mehr so ganz verlassen, allein, ...

„Ein Strahl des Trostes ist mir hier geworden, wo ich ihn nimmer erwartet hätte. Ich bin nicht mehr so ganz verlassen, allein, denn ich höre Gabrielens geliebten Namen auch von andern Lippen als den meinigen.

Noch einmal, an dem zu meiner Abreise von hier bestimmten Tage, suchte ich das Dominikaner-Kloster neben der Kirche S. Maria delle Grazie auf; ich wollte von Leonardos Meisterwerk den letzten Abschied nehmen wie von einem Freunde; eigentlich war er mir der einzige, den ich hier hatte und der mit jedem Tage mir immer lieber ward. Ich fliehe in meiner jetzigen Stimmung jede nähere Bekanntschaft mit Menschen; das zwecklose anteilnehmende Umhertreiben in ihrer Mitte verletzt mich auf tausendfache Weise und ist mir entsetzlich. Aber im stillen Gebiete der freien Natur, im noch stilleren der Kunst, da finde ich Vertraute, und von der stummen Leinwand, von der verblichenen, durch Kerzendampf geschwärzten Wand, blickt es oft tröstend mich an. Dann dünkt es mich, als umwehe mich mit lindem Fittich der stille Geist in seinem Heiligtume, der einst hier schaffend waltete und darüber eine Welt voll Unruhe und Entbehrung gern vergaß, als hauche er mir Ergebung und höheres Hoffen in die wild bewegte Brust. Ach! Und wie oft sehe ich mit Entzücken auch von der Leinwand einzelne Züge des Bildes mir entgegenstrahlen, was in unerreichbaren Farben ewig vor meinem innern Sinne schwebt!


Diesmal fand ich das Refektorium der guten Mönche nicht unbesucht wie ich es gehofft und gewünscht; ein junger Mensch saß vor dem wundervollen Bilde des heiligen Abendmahls, emsig bemüht, seiner Mappe den Kontur desselben einzuverleiben. Nun ist mir aber nichts verhaßter, als wenn ich dem ängstlichen, nüchternen Streben zusehen muß, das, was mich erhebt, begeistert, entzückt, schwarz auf weiß nach Hause zu tragen, damit man es sicher bei der Hand habe und es sich haushälterisch auftrocknen und aufbewahren könne zu künftigem beliebigen Gebrauch. Mag meine, jede Anstrengung hassende Ungeduld, die Sie so oft an mir tadelten, schuld daran sein und mich ungerecht machen, ich muß es doch bekennen, mich ärgert es immer, wenn die Herren und Damen, denen ich auf Reisen begegne, vor den hohen Wundern der Natur, wo sie anbeten oder doch wenigstens genießen sollten, sich mit einem Blättchen Papier und einem Stückchen Kreide zurecht setzen, um schülerhaft zu kritzeln, was sie in jedem Bilderladen tausendmal besser kaufen können, als ihre arme Kunst es hervorzubringen vermag. Auch begreife ich nie, wie der vom echten Geiste belebte Schüler der Kunst dadurch zum Künstler gebildet werden soll, daß er die Linien, welche die längst in Staub versunkene Hand des hohen Meisters einst zog, mühsam nachzuzirkeln sich abmüht. Mir dünkt, es wäre ihm geratener, wenn er das Ganze im Geist aufzufassen strebte, dann demütig und doch freudig nach Hause ginge und im Gefühl der Schöpferkraft, die dem reich begabten Menschen von der Gottheit gegeben ward, selbst versuchte, jenen hohen Vorbildern sich zu nahen, ohne knechtisch sie nachzuahmen.

Voll von diesem Gefühl und dazu halb ärgerlich, hier nicht, wie ich es gehofft hatte, allein zu sein, näherte ich mich dem Zeichnenden und sah ziemlich verächtlich, ich will es nur gestehen, ihm über die Schulter auf seine Zeichnung. Eigentlich war ich nicht übel geneigt, meinem Verdrusse beim mindesten Anlasse dazu Luft zu machen, als ich ihn deutsch reden hörte mit seinem neben ihm stehenden Begleiter, einem ältlichen Manne von edler einnehmender Gestalt, den ich jetzt erst bemerkte.

›Seid doch froh‹, sprach dieser zu dem jungen Künstler, der sich wohl über den leider wirklich sehr traurigen Zustand des Gemäldes beklagt haben mochte, ›seid doch froh, daß die Zeichnung und die Anordnung des Ganzen uns erhalten ward; haltet euch an den Geist des Schöpfers, der ja noch immer hier in seinem edelsten Werke waltet, wenngleich das Körperliche desselben fast nicht minder dahin geschwunden ist, als die Hand, die es schuf. O wie fällt alle Farbenpracht weg gegen dieses alte edle schmucklose Werk! Nie und nirgend außer Raffael hat einer diese Einfalt des Herzens mit der hohen apostolischen Würde so zu einen gewußt!‹ setzte er halblaut hinzu, in tiefe Betrachtung des Gemäldes verloren. Nach einer kleinen Pause redete er weiter, nicht vor sich, nicht zu uns, gleichsam nur laut denkend, wie man wohl auch laut liest, was uns entzückt, wenngleich niemand uns zuhört. Er sprach von der glücklichen Wahl des dargestellten Augenblicks der Handlung, durch welche die Einförmigkeit der Anordnung von dreizehn Personen hinter einer langen Tafel glücklich und schicklich vermieden ward. Mild, mit ruhigem Ernst spricht der Herr das bedeutende schwere Wort: ›Einer von denen, so mit mir sind, wird mich verraten!‹ Er sieht vor sich nieder, um keinen seiner Jünger mit dem Blicke zufällig zu bezeichnen, aber alle fahren, wie von einem Wetterstrahl getroffen, bei diesem Ausspruch ihres Meisters in die Höhe, alle werden in Handlung gesetzt, einige der von ihm am entferntesten Sitzenden suchen sich ihm zu nähern und bilden so die mannichfaltigsten Gruppen. Gesicht, Stellung, Gebärde bezeugen die Reinheit und Unschuld eines jeden unter ihnen, doch, nur mit sich beschäftigt, bemerkt keiner den wilden, trüben Blick des schreckhaft zurückfahrenden Judas. Nur dem dicht hinter diesem sitzenden Apostel scheint ein vorahnender Gedanke wie ein Blitz durch die Seele zu fahren.

Je länger der Fremde so sprach, je mehr fühlte ich von ihm mich angezogen. Ich wagte es endlich, ihm einiges zu erwidern, und so gelang es mir, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Von einem Apostel zum andern übergehend, gab er mir in wenigen treffenden Worten eine kurze Charakteristik eines jeden derselben. Nie zuvor habe ich jemanden über ein Kunstwerk und über die Kunst selbst so klar, so bedeutsam, und, bei so tiefer Kenntnis, so anspruchslos reden gehört. Immer lebendiger stieg in mir eine freudige wenngleich dunkle Ahnung auf, er kam mir so bekannt vor, mir war, als sei in ihm ein alter lang entbehrter Freund mir begegnet, von dem ich nichts vergessen hatte als den Namen. Nennt ihn Ihr Herz Ihnen nicht, Gabriele? Der immerfort emsig Zeichnende nannte ihn endlich, obgleich er deutsch mit ihm sprach: ›Signor Ernesto‹.

Mit einem lauten Freudenschrei hätte ich mich gern in seine Arme gedrängt, als ich mit diesem Namen ihn nennen hörte, doch bei aller Freundlichkeit liegt in seinem klugen dunkelblauen Auge, in einem scharfen Zuge seines Mundes, besonders wenn er halblächelnd spricht, etwas, das gebietet, in seiner Gegenwart sich zu bemeistern. Und so nahm ich mich denn zusammen, zog mein Taschenbuch hervor und überreichte ihm die Karte, mit welcher Ihre Güte mich für den Fall eines Zusammentreffens mit ihm ausrüstete. O Gabriele! Wie hängt alles ewig an Ihnen, was einmal Sie erkannte! Hätten Sie den freudigen Strahl gesehen, der über das Gesicht des strengen ernsten Mannes sich verbreitete, während er die wenigen, von Ihrer Hand an ihn gerichteten Zeilen las! Es war, als ob ein heller Abglanz Ihrer eignen Anmut von der kleinen Karte ausginge und die scharf gezogenen Züge des würdigen, von Silberlocken umgebenen Antlitzes verklärte.

Als sei auch ihm ein längst vermißter Liebling seines Herzens unverhofft wiedergekehrt, so freudig begrüßte Ernesto mich nun. Er ergriff meinen Arm, beurlaubte sich leichthin von dem Zeichnenden, mit dem er, wie ich jetzt sah, in keiner genauem Verbindung stand und begleitete mich in meinen Gasthof, wo sogleich die Pferde wieder abgesagt und alle Anstalten zum längern Verweilen in Mailand getroffen wurden.

Mir traten die Tränen ins Auge, als er mit mir allein auf meinem Zimmer, sich nun recht teilnehmend nach Plan und Zweck meiner jetzigen Reise zu erkundigen begann; freilich nicht eher, als bis er mich über Sie, Ihr Leben, Ihre nähern Verhältnisse, Ihre Gesundheit, Ihr Aussehen recht inquisitorisch abgehört hatte. So väterlich wie er hat noch keiner zu mir gesprochen; stets war ich elternlos, von meiner ersten Jugend an, wenngleich nicht verwaiset durch den Tod. In diesem Augenblick fühlte ich recht lebendig, welch ein Glück ich so lange entbehrte, ohne je es gekannt zu haben. Mein Herz schloß sich auf im wahrhaft kindlichen Vertrauen zu dem weiseren, wohlmeinenden Freunde. Sie werden es verzeihen, Gabriele, Sie müssen es verzeihen, wenn, indem ich von Ihnen sprach, Auge und Ton ihm vielleicht mehr als meine Worte gestanden. Wie wäre es möglich gewesen, diesen hellen Blick zu täuschen, der mir fühlbar bis in das tiefste Herz drang! Seit langen Monden zum ersten Mal hörte ich Ihren Namen, und wie? O Gabriele! Wie ward er ausgesprochen! Jedes Wort Ernestos war der Nachhall meines eignen Gefühls.

Noch hatte ich keine Stunde mit ihm verlebt, als ich schon vor der Möglichkeit zu zittern begann, daß er, den ich nie wieder zu lassen sehnlichst wünschte, vielleicht auf der Rückreise wäre, nach Deutschland, zu Ihnen – Gabriele, zu Ihnen! Doch meine Furcht war vergebens, das zeigte sich bald. Ein bedeutendes Geschäft, das er für einen Freund hier abzumachen versprach, hatte ihn nach Mailand geführt; es war jetzt vollendet und er im Begriffe nach Florenz zu gehen, wo er den größten Teil des Sommers zu verleben gedachte.

Nun habe ich mir ihn gewonnen. Ich habe mich fest an ihn geklammert und er stößt mich nicht zurück, denn Gabrielens Name ist der Talisman, der ihn mir verbindet.

Langsam will er mit mir noch einmal Italien durchziehen, vielleicht wandern wir bis Syrakus, ehe er mir Rom zeigt. Wahrscheinlich komme ich erst im folgenden Jahre dorthin, gegen die Zeit der großen kirchlichen Feste, welche die Ostertage herbeiführen.

So habe ich denn wieder eine Bestimmung, der ich entgegengehe. Ernesto leitet mich wie er will, er nimmt meiner sich an, weil ich von Ihnen gesendet ihm erscheine. Er hängt an Ihnen mit Jünglingsfeuer und somit auch an allem, was nur auf die entfernteste Weise Ihnen angehört. Wie besorgt ist er um Ihr Wohl! So wie die seine, denke ich mir die Liebe eines Schutzgeistes. Er ist ein seltner Mensch, aber trüge er auch keine Spur seines hohen, ungewöhnlichen Wertes, so müßte ich dennoch seinen Schritten folgen, denn ich kann mit ihm von Gabrielen sprechen und fürchte weder Hohn noch Mißverstehen.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele