Aus Konstanz am Bodensee. - „Mir war diesen Morgen so still, so ruhig zumute; aller Jammer der Welt schien sich mir in sanfte Liebesklage auflösen zu wollen. ...

„Mir war diesen Morgen so still, so ruhig zumute; aller Jammer der Welt schien sich mir in sanfte Liebesklage auflösen zu wollen. Gewiß, teure Gabriele, auch Sie erlebten solche Stunden, wo jeder Schmerz eine Zeitlang verstummt, wo es wie Feiertag in uns wird und wir beschwichtiget und still in immer lieberes Träumen versinken. So lag auch ich heute früh in eine Ecke meines Wagens gedrückt, rollte viele Stunden weit über Berg und Tal, ich weiß selbst nicht wie lange, aber ich mochte mich nicht regen; es war, als ob flüsternde Engelstimmchen mir leise zusängen: ›Bleibe still, sieh dich nicht um, öffne die Augen nicht; draußen steht der Schmerz, darum bleibe in dir selbst verhüllt.‹

Endlich hielt der Wagen. ›Mag er immerhin halten‹, dachte ich und strebte in meiner süßen Abgeschiedenheit von der Außenwelt zu verharren, aber die überlauten bewundernden Ausrufungen meines Kammerdieners rissen mich wider Willen auf. Ich blickte um mich her und fand mich zu meinem Erstaunen nur in den allergewöhnlichsten Umgebungen, mitten auf dem Marktplatze eines kleinen schwäbischen Landstädtchens. Verdrüßlich sprang ich zum Wagen heraus, ging einige Schritte vorwärts und glaubte nun von neuem zu träumen, denn eine Zauberwelt, wie durch Feengunst mir aufgeschlossen, lag blühend und duftend im Morgenrote vor meinen geblendeten Augen. Die ganze unabsehbare Reihe der hohen Schweizer-Gebirge bis zu den Tiroler-Alpen hinauf stand in schimmernder Ferne vor mir, gleich himmelstürmenden Riesengebilden, in einen weiten feierlichen Halbkreis geordnet. Ihr Diadem aus ewigem Eise strahlte hell im Sonnenglanz zu mir herüber, während der Morgenschein noch die niedrigen Felsengipfel rötete. An den Seiten der Berge, wo sie den menschlichen Wohnungen sich zuneigen, glaubte ich sogar die grünen Alpenmatten zu entdecken, so nahe schienen mir mit einem Male die Wunder jenes Landes entgegengerückt, dem Ihr Wollen mich zusendet. In Andacht und Bewunderung verloren, ward mir, als wandle ich in einem heiligen Tempel. Gabriele, ich war recht fromm in dieser Stunde, ich dachte Sie und mich und meine stille trübe Zukunft. Die Brust ward mir weit in hoher Zuversicht auf Den, dessen mächtige Hand diese Berge pflanzte und hält. Ich fühlte Mut und Kraft in mir sich neu beleben und war in dem Momente gerüstet, jeder Bestimmung meines Lebens hoffend und vertrauensvoll entgegenzutreten, sei sie auch düstere Verborgenheit und ewiges Schweigen.


O Gabriele, warum konnte diese Stimmung meines Gemüts nicht dauernd bleiben? Warum mußte sie verschwinden wie der Tau der Wiese vor der höher steigenden Sonne? Ach! Nichts ist dauernd und treu als der Schmerz und die Sehnsucht, das fühle ich mehr und mehr mit jedem Tage!

Ich war allmählich in ein offenstehendes duftendes Blütengärtchen seitwärts, dicht neben der Stadt, hineingeraten, ich wußte selbst nicht wie. Von hier aus übersah ich ganz das tiefe tiefe Tal, das zwischen mir und jenen glänzenden Titanengestalten noch eine weite Kluft bildete. Und welch ein Tal ist dies! Gleich einem herrlich glänzenden Kleinode schimmerte zwischen Wald, Obsthainen und Weinbergen der prächtige Bodensee zu mir herauf, überall blitzten im Sonnenschein Städtchen, Klöster, Dörfer, einzelne Wohnungen durch das üppigste Grün. Nie und nirgend sah ich so das Anmutigste neben dem Erhabnen in zauberhaftem Verein als hier in dem fast unbekannten Städtchen Heiligenberg.

Rechts dicht neben demselben thront ein ansehnliches weit in die Ferne hin leuchtendes Schloß, auf hohem, fast senkrecht aus der Tiefe aufsteigendem Felsen; es steht unbewohnt da, der Eigentümer desselben sucht die Freude in London oder Rom oder Paris, genug in der weiten Welt, wo sie so selten sich treffen läßt. O Gabriele, hier mit einem einzigen, geliebten Wesen zu wohnen, einsam wie die Götter, im Angesicht aller dieser Pracht! Mir schwindelt und die Sinne vergehen mir, wenn ich mir recht ausmale, wie das sein müßte. Und wenn ich mir denke, daß ein solches Leben möglich ist, daß es vielleicht schon einmal hier, an dieser nämlichen Stelle heimisch war! Nein, diese Last von Seligkeit wäre doch zu viel für ein sterbliches Dasein, nur in Verzweiflung würde es enden, denn was kann der Himmel unserem beschränkten Geiste Höheres verheißen nach einem solchen Leben auf Erden? Was könnte über solches Scheiden trösten?

Unten am Ufer des Sees gestaltete sich alles zur höchsten idyllischen Anmut, was oben so herrlich, so prachtvoll mir erschienen war. In einem kleinen, von einem einzigen Fischerknaben geführten Nachen schiffte ich einsam über das Wasser hin und überließ meinen Leuten die lärmende Sorge für das Herüberbringen der Pferde und Wagen. Der See war spiegelglatt, nur hie und da tauchten einzelne Wellen auf, spielten ein paar Sekunden lang im Sonnenschein und verschwanden dann schnell wieder. Die Insel Mainau, das Ziel meiner Schiffahrt, schwamm bald in ihrem grünen Frühlingsschmuck ganz nahe vor mir auf der silberhellen Flut; das kleine Eiland liegt so still vertraut im leuchtenden See, und in immer lichterer Klarheit schwebte Gabrielens schönes Bild vor mir hin auf den Wogen! Ich glaubte in seliger Wehmut zu vergehen.

Plötzlich sang es hell und wunderfremd über mir in der Luft und halb flatternd, halb taumelnd sank ein Vögelchen mit müden, hängenden Flügeln zu meinen Füßen in den Kahn hin. Ich nahm das arme kleine Geschöpf auf, zu meiner Verwunderung war es ein Kanarienvogel, zahm und furchtlos wie Ihr kleiner Liebling, Gabriele, der mir so oft den guten Morgen entgegen sang. Damals! Ach damals – „Hat auch dich der Ausflug in die fremde Welt schon ermüdet und du sehnst dich zurück in die warme Heimat?‹ fragte ich ihn. Das arme Ding neigte das Köpfchen zur Seite und blickte so klug aus den schwarzen Korallenäugelein mich an, als verstände es mich. Wir haben ein langes Gespräch miteinander geführt; Ihr Edelknabe, teure Gabriele, war wieder einmal recht kindisch, aber ich weiß, Sie schelten ihn deshalb nicht.

Wir landeten an der Insel und ich wendete mich, den kleinen Reisegefährten auf der Hand, den nahen schattenden Bäumen zu; da regte er sich, zwitscherte und flog plötzlich auf und davon. Ich blickte besorgt ihm nach und sah jetzt alle Zweige von unzähligen Vögeln seiner Art belebt; sie hatten ihre Nester dort erbaut und waren völlig wie daheim; leider zerstörte ungebeten ein vorübergehendes Mädchen die schöne Illusion des Augenblicks, die mich in andere Zonen versetzte. Sie erzählte mir: die Vögel würden winters in einem nahen Hause verpflegt, zur Sommerzeit aber ließe man sie frei auf der Insel herumfliegen, da ihre schwachen Flügel es doch nicht vermöchten, sie über den breiten See der Insel fortzutragen. Ich blickte nach dieser Erläuterung mit wahrer Betrübnis die armen kleinen Fremdlinge an, die in ihrer Beschränktheit die ganze Welt sich zu Gebote wähnen. Ach Gabriele, ist es denn mit uns anders? Auch uns halten unsichtbare Bande und wehe uns, wenn wir den kühnen Flug über sie hinaus wagen wollen. Mit gelähmtem Fittich sinken auch wir dann nur zu bald dem lauernden Abgrunde zu, wenn nicht ein seltnes Wunder beizeiten uns rettet, wie jenen armen Vogel, den ein glücklicher Zufall über meinen Nachen wegführte.

Ich wandelte immer weiter und vermied sorgsam die menschlichen Wohnungen dieses kleinen Eilandes. Die hellen Mauern des Schlosses, einer ehemaligen Komturei des Malteserordens, schimmerten durch die Bäume; ich wandte mich ab. Lange war es mir nicht so wohl ums Herz gewesen! An der meinem Landungsplatze entgegengesetzten Seite der Insel warf ich mich ins hohe Ufergras. Niedern Wellen gleich schlug es über mich zusammen, ich sah nicht Himmel, nicht Erde, nur grüne dichte Dämmerung um mich und leise schlich es über den Wellen zu meinem Ohr heran, wie fernes Hörnertönen. Ich lauschte ihm mit stillem Entzücken.

O Gabriele, da ward dies Tönen immer lauter und lauter. Und Lachen und helles Jauchzen und kurzes, abgerissenes Singen scholl dazwischen. Ich sahe auf. Eine ganze Flotte von Kähnen zeigte sich dicht neben meinem Ruheplätzchen, fast schon im Begriffe, zu landen. Es war ein hochzeitlicher Zug, gewiß, gewiß, ich erkannte den Nachen, der die Braut trug, an den Blumenkränzen, die ihn schmückten, an den bunten fliegenden Wimpeln. Ich sah sie selbst, Arm in Arm mit dem Geliebten.

Da erwachte der Schmerz und riß mich fort wie die Furie den Orest. Ich floh gemartert, verwildert vor den freudigen Tönen. In furchtsamer Hast, als folge das Verderben mir auf den Fersen nach, suchte ich nach einem Auswege, um dem Anblicke der Glücklichen zu entkommen; ich fand ihn, in einer Entfernung von wenigen Schritten, wo ein sehr langer schwankender Steg mich über den dort schmäleren See zum festen Lande führte. Dort folgte ich dem ersten Wege, der sich mir bot. Nur fort! Nur fort! Weiter dachte ich nichts, aber kalte Tränen der Verzweiflung füllten mein Auge. So gelangte ich nach Konstanz, ohne es zu wollen oder zu wissen.

Gabriele, Sie behaupteten einst, daß der Schmerz edlere Naturen noch mehr veredelt und erhebt, sie noch milder und gütiger macht, und wer, der Sie und Ihr Geschick kennt, möchte daran zweifeln! Warum denn, o warum mußte mich der Anblick jener Beglückten so schmerzlich verletzen? Warum jenen Ingrimm in mir erregen, den der gefangene Verbrecher fühlt, wenn er aus dem Gitterfenster seines kalten Kerkers auf die Glücklichen schaut, die in der warmen, blühenden Welt in Freiheit sich ergehen? Neid, Haß und alles diesem Verwandte waren meinem Herzen sonst so fremd! O Gabriele, soll ich auch noch mich verlieren, da ich alles verloren habe, was mich beglückte? Ich flehe, lassen Sie mich nicht in mir selbst untergehen; Sie retteten mich von einem furchtbaren Abgrund, lassen Sie mich jetzt nicht wieder sinken, wahrlich nur die Gewißheit, daß Sie Ihre Hand nicht ganz von mir abziehen, daß Sie mich noch Ihrer Sorge wert achten, kann mich noch oben erhalten.

Düster und einsam sitze ich jetzt in dieser düstern öden Stadt. Ich bin noch einmal an den See hinausgegangen, ich blickte hinüber zu jenen jetzt in Nebel verhüllten Bergen, die diesen Morgen mir im Sonnenstrahl so freudig entgegenglänzten. Jetzt konnte ich sie nur als die Scheidewand betrachten, die sich, von morgen an, zwischen mir und dem glücklichen Lande erhebt, wo Gabriele atmet. Morgen ergreife ich den Wanderstab, die Schweiz zu durchziehen. Auf einem andern Wege soll mein Wagen mir folgen, ich gehe zu Fuß. Die Entfernung zwischen mir und Ihnen wächst von nun an mir fühlbarer, mit jedem Schritte, den ich tue. Ich könnte darüber verzweifeln, doch ich befolge auf das pünktlichste Ihren Willen; der Gedanke daran ist ja alles, was mir übrigblieb. Selbst in dem Schmerze, der mir die Seele zerreißt, finde ich eine wilde Freude, denn Sie waren es, Sie Gabriele! die ihn mir auferlegte.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele