Für und wider das Kino. Mit sechs Bildern.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1921
Autor: K. X. Meran., Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunst, Kultur, Kino, Film, Kunstfreunde, Filmtheater, Heimkino, Leinwand, Bewegung, Landschaft
Keine andere Erfindung ist so hartnäckig wie das Kino angefeindet worden, und zwar nicht nur von kurzsichtigen Leuten, sondern vom ehrlichsten guten Willen, wenn es auch in diesem Kampf der Meinungen sogar unter namhaften Kunstfreunden Verteidiger fand. Offenbar geht der Streit um Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten, die mit dem Kern der Sache nichts zu tun haben und nur so lange im Vordergrund stehen, wie jener nicht zur Hauptsache gemacht ist.

Worauf beruht die Macht des Kinos auf die große Menge, die es aus den Theatern herauszog, so dass diese trotz der ernstesten Bemühungen heute kaum mehr zur Hälfte zu füllen sind? Die dramatische Kunst, die ernste wie die heitere, ist eine „Zwei-Sinnen-Kunst“ und verlangt als solche die Aufmerksamkeit von Auge und Ohr, was umso größere geistige Tätigkeit und Regsamkeit erheischt, je feiner die Mittel der Darstellung sind. Sie kann daher voll nur auf Leute von geschulter und daher gesteigerter Aufnahmefähigkeit wirken; viel weniger ist dazu der Durchschnittsmensch und selbst der Gebildete befähigt, wenn dieser nach der Kärrnerarbeit des Tages Ausspannung und Erholung sucht. Das Kino aber ist eine „Ein-Sinn-Kunst“ wie die Musik und teilt daher mit dieser die bezwingende Wirkung auf die Menge.

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Als reiner „Augenschmaus“ aber vermag das Kino nur durch die Wandlung, den Wechsel, zu wirken; die Bewegung ist sein Element. Allerdings muss hier gleich betont werden: es ist keine wirkliche Bewegung, die es zeigt; sie wird nur vorgetäuscht und beruht auf dem Wechsel der Verhältnisse von Größe und Lage. Indem ein Mensch auf der Leinwand klein auftaucht und rasch größer wird, bis er schließlich förmlich auf den Zuschauer loszuspringen scheint, oder indem ein großes Auto immer kleiner und kleiner wird, während sich die Landschaft oder sonstige Staffage kulissenartig zusammen- oder auseinanderschiebt, wird der Eindruck der Bewegung hervorgerufen.

Wird nun wie in den zahllosen Trickfilmen der Beschauer aus seiner Ruhe gerissen, indem er sich über die gewohnten Möglichkeiten von Vorgängen, die sich in Raum und Zeit abspielen, hinaussetzen soll, so erhöht das noch ganz beträchtlich die Wirkung. Nicht zur ruhigen Betrachtung kommen lassen, sondern mitreißen und zur höchsten Neugier auf immer neue Wandlungen, Entwicklungen spannen, das ist das Wesen des Films, und seine Wirkung auf die Menge ist darum noch stärker als die der mehr auf passives Genießen eingestellten Musik, zumal da diese wenigstens für ihre künstlerischen Schöpfungen noch ein Mindestmaß von Schulung verlangt. Das Auge aber ist als der Sinn, der für sich allein fünf Sechstel aller Beziehungen unseres Innenmenschen zur Außenwelt vermittelt, von Kindesbeinen an zwar nicht geschult, aber doch hochgradig geübt in der Aufnahmefähigkeit.

Hier klafft nun die große Kluft zwischen dem Kino von heute und den Künsten, für die längst mehr oder weniger allgemeingültige Normen entwickelt worden sind. Für den Künstler bestand fast vom Anfang an der Zwang, sich gewisse Grundprinzipien zu erfühlen oder zu erdenken.

Wie ist nun das, was von den anderen Künsten geschaffen wurde, von den Pionieren der Filmkunst ausgenützt worden?

Sechsundzwanzig Jahre der Entwicklung der Filmtechnik sind eine geringe Zeit, gemessen an der Geschichte anderer Künste. Dennoch kann man sagen: es wurde technisch Außerordentliches geleistet, und ohne das Missgeschick verfrühter Erfolge wären wir vielleicht sogar bedeutend weiter.

Die Amerikaner boten zuerst Bewegung in allen erdenklichen Formen: Rennen, Klettern, Fallen, Reiten, Fahren, zerstiebendes Wasser und so fort bis zu zusammenstoßenden Lokomotiven und ähnlichem mehr. Auch der burleske Film und der Überraschungs- (Trick-) Film bewegten sich in diesen Bahnen. Aber da die neuen Darbietungen trotz ihrer kindlichen Anfänge sogleich die Massen aus den Theatern lockten, hielt sich das Kino für berufen, der Nebenbuhler der Bühne zu sein, ihr Nachfolger und schließlich ihr Besieger zu werden. Ein gröblicher Missgriff, der sich rasch rächte! Nun war man gezwungen, Wege zu gehen, die das Theater schon zurückgelegt hatte.

Aus den Bock- und Satyrspielen der alten Griechen am Dionysosfest entwickelten sich die Dramen der Blütezeit; als aber diese fast religiöse Kunst sich in breite Alltäglichkeit und Sophistik wandelte, verlief sich der Strom rasch und versandete.

Aus den Rüpel- und Hanswurstkomödien des Mittelalters erwuchsen nach und neben dem Zwischenspiel französischer Deklamationsdramen die Tragödien eines Shakespeare und unserer Klassiker. Mit steigender Kenntnis der geschichtlichen Vergangenheit und wachsendem Sinn für naturalistische Darstellung gelangte man immer mehr zur Betonung von Äußerlichkeiten. Die Meiningerei mit ihrem Pomp und dem Streben nach historischer Treue und Realistik hub an, und daneben entwickelte sich das naturalistische Konversationsstück.

Auch das Kino begann sozusagen als Hanswurst und Rüpel in den Darbietungen drastisch wirkender Bewegungsfilme. Als diese doch zu eintönig wurden, entschloss man sich zum szenischen Aufbau, zur „Handlung“. Aber da in jener wichtigen Zeit bedeutende Schriftsteller die Berührung mit dem Kino noch mieden, standen dem neuen Filmstück nur Winkelschmierer und Pfuscher zur Verfügung. So entstanden Sensationsfilme, Missgeburten von Kolportagephantasie und Wimmertheatralik, die heute noch nicht überwunden sind. Mit Recht hat sich jedes künstlerische, überhaupt jedes gesunde Empfinden dagegen aufgebäumt. Wie einst beim Theater griff man dann zur Wirkung mit äußerlichen Mitteln; es entstand der historische Film, der vorläufig als Gipfelpunkt der Kinokunst gilt. Das Volksempfinden entschied richtig, sobald ihm Besseres geboten wurde. Als der deutsche „Dubarry-Film“ in Rom zufällig mit einem amerikanischen zusammentraf, der denselben Stoff in der alten kitschigen Sensationsmache behandelte, trug der deutsche den Sieg davon. Noch mehr: als man ihn vorsichtshalber in „neutraler" Verkleidung nach Amerika brachte, feierte er dort dieselben Triumphe. Deutscher Kunstsinn zeigte sich dem amerikanischen Geschmack überlegen.

Aber das höchste künstlerische Ziel der Kinokunst ist der historische Film noch nicht. So unentbehrlich die Staffage für die maßstäblichen Verhältnisse im Bilde sein kann, um die Illusion der Bewegung hervorzuzaubern, der künstliche szenische Aufbau ist, auch wenn er die Glanzleistung eines Architekten ist, letzten Endes doch Nebensache. Auch die Massenszene ist nur ein Nebenher, so lebendig und prächtig beispielsweise der „Opernball“ im „Dubarry-Film“ oder die zwischen den hohen, giebligen Häusern der Judengasse im „Golem“ hervorquellende Menge wirkt. Die Massenszenen sind eigentlich Ruhepunkte in der Handlung, aus der sich das Schicksal einer oder weniger Personen packend heraushebt. Der einzelne Mensch, sein Schicksal sind auch im Film das wichtigste, und da der Mensch sein Erleben nur durch Gebärden verdeutlichen kann, sind diese — also wieder Bewegung — die Hauptsache. Je meisterhafter die Schauspieler zum Ausdruck bringen, was ihnen die Dichter- eingaben, desto tiefer ist die Wirkung.

Wie sich sonst das Kino seinem Wesen gemäß weiter entwickeln könnte, das auch nur anzudeuten, fehlt hier der Raum. Wenn es gelingen sollte, den Film in Naturfarben zu bringen, wäre viel erreicht. Ein anderes Ziel ist die Verbindung mit dem Phonographen. Aber damit würde das Kino wieder „Zwei-Sinnen-Kunst“, und ob ihm das nicht die Massen zum Teil wieder entfremden würde, liegt nicht außerhalb des Möglichen.

Der ganze Streit für und wider das Kino galt nur dem Film als Ausdrucksmittel einer neuen Kunstform; sein erzieherischer Wert ist nie bestritten worden. Der „Lehrfilm“ wurde ja bewusst dem „Schaufilm“ als Kampfmittel gegenübergestellt. Unschätzbar sind die Dienste, die der Kinematograph fast allen Wissenschaften geleistet hat. Unablässig ist die Kinotechnik bemüht, Forschungsergebnisse weiten Kreisen zugänglich zu machen. Das kleine Hauskino ist schon seit Jahren von der Firma Ernemann in Dresden immer mehr vervollkommnet worden; noch bequemer scheint der neue amerikanische Spirograph zu sein, der sich statt des Filmbandes einer Filmscheibe nach dem Vorbild der Tonplatte des Grammophons bedient. Die Petra-Gesellschaft in Berlin hat mit ihrer „Petrawand“ die Möglichkeit geboten, Filmbilder jederzeit, auch bei Tageslicht, vorzuführen und will damit besonders dem Unterricht in den Schulen dienen. Technische Firmen aller Industriezweige fangen an, statt schreiender Reklametafeln die Vorführung ihrer Betriebe mittels des Films zu Werbezwecken auszunützen. Kurz, das Kino ist ebenso wichtig wie unentbehrlich geworden. Der von beachtenswerter Seite erhobene Vorwurf, dass das Kino, weil es bloß durch rasche Handlung, starke Effekte und heftiges Umbiegen in den Vorgängen wirkt, ein völlig neues Geschlecht heranziehe, das sich des Denkens ganz entschlägt und nur nach Augenblickseindrücken urteilt, ist sicher nur zum Teil berechtigt, und der Fehler wird sich mit der Vervollkommnung des Kinos ständig noch verringern.

Aus dem Film „Der Golem“
Pariser Guillotineszene (1793) aus dem Film „Madame Dubarry“ Pola Negri in der Titelrolle.
Henny Porten als Anna Boleyn
Paul Wegener und Pola Negri in „Sumurun“.
1. Der Spirograph, ein leicht zu bedienender Hauskinoapparat.
2. Reisekino der Industrie-Film-Gesellschaft m. b. H., Berlin.

Kino, Aus dem Film „Der Golem“

Kino, Aus dem Film „Der Golem“

Kino, Pariser Guillotineszene (1793) aus dem Film „Madame Dubarry“ Pola Negri in der Titelrolle.

Kino, Pariser Guillotineszene (1793) aus dem Film „Madame Dubarry“ Pola Negri in der Titelrolle.

Kino, Henny Porten als Anna Boleyn

Kino, Henny Porten als Anna Boleyn

Kino, Paul Wegener und Pola Negri in „Sumurun“

Kino, Paul Wegener und Pola Negri in „Sumurun“

Kino, 1. Der Spirograph, ein leicht zu bedienender Hauskinoapparat.

Kino, 1. Der Spirograph, ein leicht zu bedienender Hauskinoapparat.

Kino, 2. Reisekino der Industrie-Film-Gesellschaft m. b. H., Berlin.

Kino, 2. Reisekino der Industrie-Film-Gesellschaft m. b. H., Berlin.