Abschnitt. 2

Bänkelsänger und fahrende Leute, die solche Gesänge vortrugen, zogen viel durchs Land, denn die Zeit zeitigte beständig dergleichen, weil man, im Gegensatz zu der gewöhnlichen Annahme, mehr erlebte wie heutzutage, wo sich das Dasein ausschließlich in große Politik und kleines und kleinstes Haus- und Privatleben teilt. Damals aber gab es noch etwas Dazwischenliegendes, das nicht groß und nicht klein war, das war der nie ruhende Kampf der Stadt- und Adelsgruppen unter- und gegeneinander. Dazu das reiche kirchliche Leben. Alles sprach zu Gemüt und Phantasie. Versuch ich beispielsweise in nachstehendem aufzuzählen, was man auf Burg Quitzöwel in einem Zeitraume von zehn Jahren, und zwar im Umkreise weniger Meilen, erlebte.

1375 weilte Kaiser Karl IV. fast beständig in dem nahe gelegenen Tangermünde, das er beflissen war in einen Kaiserhof umzugestalten. Ein Schloß entstand und eine Kapelle, deren Edelsteinpracht ans Märchenhafte streifte. Mehr als einmal war man von Quitzöwel aus drüben, um den fortschreitenden Bau zu verfolgen und anzustaunen, und wenn dann Dietrich und Johann, und Kaspar Gans mit ihnen, wieder daheim und ihre Herzen und Sinne von dem Erschauten erfüllt waren, so spielten sie, des Reiches Herrlichkeit unter sich teilend, Kaiser und König. „Und so kindisch diese Spiele waren, sie riefen doch allerlei Ideen von Macht und Größe wach, die Wurzel schlugen und fortwuchsen.“


1378 starb der Kaiser, und das ganze Land trauerte, zumeist aber Altmark und Prignitz, denen der Heimgegangene durch alles das, was er für Tangermünde getan hatte, vielfach eine Quelle des Wohlstandes geworden war. Das Jahr darauf erschien der siebzehnjährige Sigismund in der ihm zugefallenen Markgrafschaft Brandenburg, um Eid und Huldigung in Empfang zu nehmen und den Städten und Ständen ihre Privilegien zu bestätigen. Am 17. März war er in Salzwedel, am 27. zu Tangermünde. Von allen. Seiten her strömte man daselbst zusammen, und unter denen, die, zujubelnd, auf dem Markt- und Rathausplatze der Stadt standen, waren auch die Quitzowschen Junker, ahnungslos, daß sie bestimmt waren, sich dereinst der Majestät ebendieses Sigismund gegenüberzustellen. Und abermals ein Jahr, und Berlin ging in Flammen auf: das Rathaus, die Marien- und Nikolaikirche brannten nieder, und ein lateinisches Distichon ging von Mund zu Mund, das in Übersetzung lautete:

Am Tiburtiustag verheerte, Berlin, dich ein Feuer,
Und in Asche versenkt, trauert der Städte Zier.

Das war 1380 am 11. August. Im selben Jahre stand ein Komet am Himmel und predigte Krieg. Und der Krieg kam, und auch die Prignitz sah ihn.

Am 4. März 1381 zog ein von Bassewitz vor Kyritz und bestürmte die Stadt. Und siehe da, schon waren die Mauern erstiegen, als sich die Bürgerschaft noch einmal zu verzweifelter Gegenwehr zusammentat und in einem Ausfall den Feind zurückschlug und besiegte. Dieser aber getröstete sich, „daß ein Engel auf der Mauer gestanden und irdische Kraft und Tapferkeit zuschanden gemacht habe“.*)

Das Jahr darauf brachte gleiche Streif- und Raubzüge, die sich diesmal aber gegen das nur zwei Meilen von Quitzöwel entfernte Perleberg richteten. Auch waren es keine Bassewitze, sondern etwelche Königsmarcks (deren einer damals Landvogt der Prignitz war), von denen die Stadt „gehudelt“ wurde, wie der Chronist sich ausdrückt.

1383 starb Herzog Heinrich von Mecklenburg auf seinem Schlosse zu Schwerin. Er wurde betrauert als ein großer Verfolger der Räuber und Diebe, „deren er manche selber hängete, damit er sie von ihren Tagen brächte“, Worte, die die Junker auf Quitzöwel in der noch Unbedrohtheit ihrer Hälse lächelnd nachsprachen.

All das waren Vorgänge zwischen 1375 und 85, das eigentliche große Geschehnis jener Zeit aber, insonderheit, soweit die Prignitz mitspricht, war doch die Zerstörung Wilsnacks und der Aufbau der Wilsnacker Wunderblutkirche. Sehen wir, wie sich beides zutrug.

1383, am 16. August, steckte Heinrich von Bülow – ganz nach Art der Bassewitz und Königsmarck, deren Fehde sich gegen Kyritz und Perleberg gerichtet hatte – Dorf Wilsnack in Brand, bei welcher Gelegenheit auch das Kirchlein ausbrannte. Der Priester des Dorfes aber grub einige Zeit danach im Schutt umher, um das eine oder andere vielleicht noch zu retten, und fand auch in einer Vertiefung des steinernen Altars eine Hostienbüchse, deren drei geweihte Hostien weder verbrannt noch verkohlt, sondern wie mit Blut gefärbt waren.**) Er machte davon Anzeige nach Havelberg hin, und der Bischof Dietrich Mann kam, um sich über das Mitgeteilte zu vergewissern. Er fand alles bestätigt; auch der Erzbischof von Magdeburg stimmte zu, so daß schon 1384, ein Jahr nach dem Brande, das Wallfahrten begann. Als bald danach Johann von Wepelitz, an Dietrich Manns Stelle, den Havelberger Bischofsstuhl bestieg, war das „Heilige Blut von Wilsnack“ schon in der ganzen christlichen Welt berühmt. Es kamen Pilger nicht nur aus der Mark und allen Teilen Deutschlands, auch aus Schweden, Dänemark, Norwegen, Polen und Ungarn. Die Ungarn kamen alle Jahr an 400 Mann stark und unterhielten ein Wachslicht von solcher Größe, daß es oben von dem hoch gelegenen Orgelchor her angesteckt werden mußte. Der Andrang war so groß, daß die durch den Dorfbrand verarmten Bauern sich als Gastwirte wieder auftaten, Handwerker gesellten sich ihnen, um für das Sorge zu tragen, was die Tausende von Pilgern brauchten, und so wuchs die Stätte derart daß man ihr Wall und Mauern und ein Stadtrecht gab. Allerlei Mittel dienten ebenso zur Bereicherung der Wilsnacker Kirche wie des Havelberger Stifts überhaupt. Eines dieser Mittel war die Sündenwaage. Jeder wußte mehr oder weniger genau, wieviel er wog; das war sein einfach leiblich Gewicht. Ergab sich nun, daß das Aufsetzen einer entsprechenden Anzahl von Steinen außerstande war, das Gleichgewicht der Waage herzustellen, so rührte das von der Sündenschwere her, deren Extragewicht durch allerlei Gaben balanciert werden mußte. Waren es Reiche, so traf es sich immer so, daß diese Sündenextraschwere ganz besonders groß war. Unter der Waage nämlich befand sich ein unsichtbar in das Kellergewölbe hinabführender Draht, mit dessen Hilfe man die Waage nachgiebig oder widerspenstig machte. Der Zweck rechtfertigte die pia fraus. Eine vielleicht noch größere Einnahmequelle bildeten die „bleiernen Hostien“, die man als „Pilgerzeichen vom Heiligen Blut“ in Wilsnack kaufen konnte. Der Ertrag, der hieraus floß, war so groß, daß nicht nur die Wilsnacker Wunderblutkirche, sondern auch eine Prachtkapelle zu Wittstock (wo der Bischof meist residierte) davon bestritten werden konnte, des gleichzeitigen Domumbaus zu Havelberg ganz zu geschweigen. Täuschungen, wie die mit der Sündenwaage, liefen beständig mit unter und in ihrem Gefolge selbstverständlich auch Mißhelligkeiten und Verlegenheiten aller Art. Ein böhmischer Graf, der eine lahme Hand hatte, weihte genesungshalber dem Wunderblut eine silberne Hand, ohne daß die Weihgabe helfen wollte. Trotzdem wurde gepredigt, die silberne Hand habe geholfen, welcher Lug und Trug freilich auf der Stelle bestraft wurde. Denn der Kranke, den man irrtümlich abgereist glaubte, hatte Wilsnack noch nicht verlassen und hob, als er die Lüge hörte, seine lahme Hand auf, um sie dem Volk unter Verwünschungen zu zeigen.

Aber solche Verlegenheiten, so viel ihrer sein mochten, erfuhren immer rasch ihren Ausgleich. Ein von Wenckstern auf Lenzerwische hatte das Wunderblut verspottet und erblindete. Zitternd kam er, seine Sünde zu beichten und seinen erneueten Glauben zu bekennen, und in derselben Stunde kehrte dem Reumütigen das Augenlicht zurück. Unter allen Umständen aber, und das war die Hauptsache, setzten sich die Wallfahrten fort, die, soweit sie von Süden und Westen kamen, an Burg Quitzöwel vorüber mußten und das Ihrige dazu beitrugen, das ohnehin bewegte Leben daselbst immer bunter und anregender zu gestalten. Am meisten für die beiden Söhne Dietrich und Johann.

*) Dies 1381er Ereignis fällt in der Überlieferung mit einem gerade dreißig Jahre später stattfindenden, ebenfalls von einem von Bassewitz unternommenen Angriff auf Kyritz zusammen. Dieser zweite von Bassewitz, der des 1381 seitens der Bürgerschaft so tapfer abgeschlagenen Sturmes gedenken mochte, beschloß, diesmal mittelst eines unterirdischen Ganges in die Stadt einzudringen. Es traf sich aber, daß ein schwerer Verbrecher im Stadtturme saß, der hörte das Wühlen und Klopfen und ließ dem Bürgermeister melden, daß er ihm etwas Wichtiges entdecken wolle, wenn man ihm das Leben schenke. Das wurde zugestanden. Und nun erzählte der Gefangene von dem Wühlen und Graben, das er in der Tiefe gehört habe. Zur Sicherheit ließ man eine Trommel bringen und streute Erbsen darauf. Da begannen diese hin und her zu springen von der Erschütterung, die die unterirdische Arbeit verursachte. Nun war man sicher, und als bald danach der von Bassewitz, statt in der Kirche, wie sein Plan gewesen war, auf offenem Marktplatz zutage stieg, wurd er gefangengenommen, entwaffnet und mit seinem eigenen Schwerte hingerichtet. Schwert und Panzer aber befinden sich bis diesen Tag im Rathause, während die Stadt selbst alljährlich am Montage nach Invocavit ihr doppeltes Bassewitzfest feiert.

**) Diese drei Wunderbluthostien blieben der Wilsnacker Kirche bis 1552 erhalten, in welchem Jahre sie der erste lutherische Geistliche, Johann Ellefeld, als Teufelswerk und papistischen Unfug verbrannte. Von seinem Standpunkt aus mit Recht; heute freilich würden uns die drei Hostien als „historisches Kuriosum“ aufrichtig interessieren. Zugleich mit ihnen (den Hostien) ist vieles aus der alten Wunderblutzeit zerstört worden, anderes dagegen hat sich bis in unsere Tage hinein gerettet darunter ein etwa zwanzig Fuß hoher Leuchter, der das Opferlicht der ungrischen Pilger zu tragen pflegte, die holzgeschnitzte buntfarbige Statue des Bischofs Wepelitz, die Sündenwaage, vor allem das ausgebrannte Kirchlein selbst, dessen bei der Zerstörung von 1383 stehengebliebene Feldsteinwände beim Bau der Neukirche mit in diese hineingezogen und zur „Wunderblutkapelle“ hergerichtet wurden. Alle diese Dinge sind historisch interessant, ohne künstlerische Bedeutung beanspruchen zu können. Von künstlerischer Bedeutung ist nur eins: ein kleiner bronzener Klappaltar (Bestimmung unbekannt), hinsichtlich dessen Professor Bergau darauf drang, daß er aus der Kirche, darin er sich befand, in die Sakristei genommen werde, weil sonst der Tag zu berechnen sei, wo dies bemerkenswerte Kunstwerk, Rarität und Bijou zugleich, der Leidenschaft eines Kunstenthusiasten zum Opfer fallen müsse.