Haft: Silberberg, Glogau, Magdeburg, Berlin, Graudenz,

Trotz der Reklamation der Mecklenburgischen Regierung, welche im Laufe der Jahre noch öfter, jedoch immer vergebens erfolgte — wurde Fritz Reuter am 15. November 1834 nach der Festung Silberberg abgeführt. Man denke sich seinen Seelenzustand. Zwei und zwanzig Jahre alt, ein kräftiger feuriger Musensohn, lechzend vor Lebenslust und Tatendurst, in jedem Augenblicke bereit, eine neue Welt zu erschaffen, und nun — dreißig Jahre Gefängnis! Dreißig Jahre, und jedes Jahr hat dreihundertfünfundsechzig Tage, jeder Tag vierundzwanzig Stunden, und jede Stunde ist eine Ewigkeit. Erst nach dreißig Jahren wird sich die Kerkerpforte ihm wieder erschließen; aber dann ist sein Haupt grau, das Mark verdorrt, das Blut trübe und dick; mit zitternden Knien wankt er hinaus in den grellen lauten Tag, dessen volles Licht sein blödes Auge nicht mehr zu ertragen vermag; die Welt hat ihn vergessen, und er weiß sich in ihr nicht mehr zurechtzufinden; er ist zu nichts mehr nütze, als um sich niederzulegen und — zu sterben!!!

Zu solchen Gedanken stimmte seine Umgebung. Er saß in der niedrigen düsteren Kasematte; unter ihm brauste und heulte der Sturmwind durch den langen unterirdischen Gang, der durch die ganze Festung ging; links von ihm war die Festungskirche und hinter ihm ein dunkles Loch, wo der Raubmörder Exner, von dem Pitaval erzählt, in Ketten und Banden gesessen. Oder er ging um Mitternacht durch die Festungskirche, die in Friedenszeiten als eine Art Montierungskammer benutzt ward. Hier hingen die Wände entlang alte weiße österreichische Mäntel, über jedem Mantel hing ein Czakot, unter jedem Mantel standen ein Paar Stiefel, und wenn nun der Nachtwind durch die offenen Fenster strich, dann wehten und schwebten die weißen Mäntel unter dem Czakot und über den Stiefeln die Wand entlang, und es war, als ob die Geister der Österreicher, die bei Prag und Leuthen gefallen, noch einmal in Reih und Glied ständen und wieder im Sturmschritt vorrückten.


Oder er träumte. — Was kann der Gefangene besser tun als schlafen und träumen! — Eine Zukunft gab es für ihn nicht, oder sie war doch eine endlose Nacht; darum träumte er von der holden rosigen Vergangenheit. Wieder war er ein Kind und saß vor seines Vaters Haustüre, neben ihm Tante Christiane, die ihre schmelzenden Lieder in den Abend sang. Wieder strich er mit Onkel Herse durch Feld und Wald, und sie horchten auf die Vogelstimmen. Wieder stand er auf dem Markte zu Jena, und die Schläger rasselten und die Banner flatterten und die Freiheitslieder erfüllten die Luft. — — Da lässt die Schildwache draußen auf dem Korridor das Gewehr auffallen, und auf den nahen Wällen ertönt der Werdaruf und pflanzt sich von Posten zu Posten fort. — Der Träumer ist erwacht. Vor ihm steht die nackte Wirklichkeit und gähnt ihn an; ihr Atem ist Grabeshauch und lässt ihn frösteln.

Zwei und ein viertel Jahr saß er auf Silberberg, dann kam er im Februar 1837 nach Glogau, wo er indes nur sechs Wochen verblieb, um darauf nach Magdeburg versetzt zu werden. Aber auch hier ließ man ihn nicht. Er sollte alle Preußischen Festungen kennen lernen, alle Sorten Preußischer Gefängnisse durchkosten. Hatte er irgendwo Bekannte, mitleidige Herzen gefunden, dann schleppte man ihn fort, oft hundert Meilen weit, durch Schnee und Sturm, ohne dass er erfahren konnte, wohin die Reise ging. Gleich einem eingefangenen Raubtiere saß er in einem alten Planwagen, neben ihm ein Gendarm mit geladenem Gewehr, oder auch zwei Berittene, bis an die Zähne bewaffnet, zu beiden Seiten des Schlages. So kutschierte man ihn als „abschreckendes Beispiel" durch die Lande, immer von Landratsamt zu Landratsamt und von Bürgermeister zu Bürgermeister. Im Leichenwagenschritt fuhr er durch die Dörfer und Städte, begleitet von einem Haufen Straßenjungen, die ihm regelmäßig das Geleit gaben und ihn mit „Spitzbub!" und anderen Ehrentiteln begrüßten. Hielt der Wagen vor dem Wirtshause, dann umdrängten ihn beim Aussteigen Groß und Klein und beguckten ihn von allen Seiten, so dass er sich selber wirklich „gefährlich vorkam". Unter demselben Aufzuge ging's nun zu dem Herrn Landrat oder zum Herrn Bürgermeister, denen er seine Aufwartung machen musste, und die ihm dann ein paar „ehrwürdige ausrangierte" Bürger in das Wirtshaus mitgaben, damit „sie ihm die Nacht über von ihrem Tabak vorrauchen und nebenbei darauf sehen sollten, dass er nicht weglief und den Königlich Preußischen Staat an allen vier Ecken ansteckte." Meistens waren's „lauter brave alte Herren", die ihn mit ihren Fragen beinahe totquälten und als letztes Wort die Ansicht aussprachen: „Je, äwer unsen König hewwen Sei doch dodmaken wullt!" — Inzwischen saßen unter ihm in der Wirtsstube die Honoratioren der Stadt und nötigten sich den Gendarm herein; der musste trinken und dazu die gräulichen Taten seines Gefangenen erzählen.

Mehrere Male drängte sich ihm die Verlockung auf, zu entfliehen; niemals stärker als auf dem Transport nach Magdeburg, wo er in dem Gastwirt einer kleinen Stadt einen wohlwollenden Landsmann fand. Aber er musste der Warnungen und Bitten seines Vaters gedenken, und Das hielt ihn zurück. In jedem Briefe beschwor ihn der Vater, doch nur auf keinen Fluchtversuch zu verfallen; er wäre ein alter Mann, und wenn der Sohn flüchtig würde, kriege er ihn sein Lebtag nicht wieder zu sehen; er müsse ja doch nun bald freikommen. Diese Hoffnung auf Gnade wurde dem Gefangenen von allen Seiten gesungen, und wie gern nahm er sie nicht hin! Aber die Gnade kam nicht eher, bis Friedrich Wilhelm der Gerechte tot war, und jene fortlaufend getäuschte Hoffnung nagte wie ein Wurm an der Seele des Jünglings. — Mehrere seiner Kameraden entkamen glücklich, so Massow aus Kolberg, Böminger aus Silberberg, Wagner und Reinhard aus Magdeburg. „Aber“, sagt er, „dass sie dadurch viel glücklicher geworden, habe ich nicht gehört. Was soll ein halber deutscher Jurist oder Theologe, und wenn's auch ein Mediziner ist, in der Fremde?" — Für Reuter war's jedenfalls gut, dass er den Plan aufgab; den anderen Morgen waren 16 bis 17 Grad Kälte, und der Schnee lag kniehoch; er wäre sicher erfroren.

In Magdeburg nahm ihn das Inquisitoriatsgefängnis auf, in welchem außer den gemeinen Verbrechern auch 24 — 30 „Demagogen" saßen, unter denen er mehrere Studienfreunde und ehemalige Couleurbrüder antraf. Aber wie hatten die frischen kräftigen Burschen sich verändert! Lauter abgezehrte erdfahle Jammergestalten, an Leib und Geist dahinsiechend. Acht bis zehn lagen augenblicklich im Lazarett, aber krank waren Alle; die Übrigen mussten warten, bis sie dort ein Unterkommen fanden, denn der Raum war nur knapp. Einer litt an Lungentuberkeln, ein Anderer an Rückenmarksdarre, ein Dritter an der Leber, ein Vierter an Blutandrang, ein Fünfter an den Augen; Zwei hatten entlassen werden müssen, Einer wegen Schwindsucht und der Andere, weil er im Gefängnis verrückt geworden. — „Unseliger Mensch, wie kommst Du hier her?!" Mit diesem Gruß empfingen ihn die alten Freunde. Ja, er musste einsehen, dass er's auf dem Silberberg doch besser gehabt, weit besser, als diese hier. Der erste Kommandant, Graf H., war ein „Menschenschinder", ein Spielkamerad Friedrich Wilhelms des Gerechten; darum hielt er's für seine Schuldigkeit, die „Demagogen" nach Kräften zu schikanieren. Sein größtes Leid war, dass über die jungen Leute keine Beschwerden einlaufen wollten. — „Wieder nichts zu melden?!" fuhr er den Gefängnis-Inspektor auf der Parade an. „Melden Sie was, und ich werde Ihnen zeigen, wie man mit Hochverrätern umgehen muss!" — Der Gefängnis-Inspektor war ein guter Mann, konnte aber Nichts tun, denn er zitterte einerseits vor seinem Oberen, dem Kommandanten, andrerseits von seinem Untergebenen, dem Schließer, der bei Jenem den Zuträger machte.

Ehe Fritz Reuter in die ihm überwiesene Zelle gebracht wurde, musste er sich bis aufs Hemde entkleiden, sich und seine Sachen einer genauen Visitation unterwerfen, ob er nicht Messer oder Pistolen oder gar — Geld bei sich habe. Ein neusilberner Pfeifendeckel, eine kleine goldene Tuchnadel wurden konfisziert; ebenso Schreibzeug und Zeichenmaterialien.

Die Zelle war von ähnlicher Beschaffenheit wie sein früheres Quartier in der Hausvoigtei. Zwölf Fuß lang und sechs Fuß breit; ohne Ofen, aber dafür mit einer Luftheizung bedacht: die warme Luft strömte durch ein Loch von oben, die kalte durch ein anderes von unten ein, so dass der Insasse immer kalte Füße und einen recht warmen Kopf hatte. Das war eine neue Erfindung, die jetzt an den „Demagogen" erprobt wurde. Das kleine Fenster hoch oben in der Wand sah nach Norden und war rechts und links mit hölzernen Scheuklappen versehen, um der Sonne den Eintritt zu versperren, die aber wegen der hohen Mauer, die den Gefängnishof umgab, und wegen der nahen Festungswälle ohnehin nicht herein konnte. Fritz Reuter hatte seiner angegriffenen Augen wegen eine Versetzung von dem Silberberg gewünscht, aber das hier einfallende Dämmerlicht war noch schwächer als dort, und dazu Alles beengter und verzwickter. In der Türe befand sich eine Klappe, um die Gefangenen in jedem Augenblick beobachten zu können. Der frühere zweite Kommandant, Oberst von B., der nachher wegen schamloser Niederträchtigkeiten selbst auf die Festung kam, hatte sich häufig dieses Privatvergnügen gemacht und dazu noch gute Freunde mitgebracht, mit denen er sich vor den Käfigen verlustierte. Messer und Gabel wurden gleich nach dem Essen wieder fortgenommen, und Fritz Reuter trachtete schon wieder nach einem Blechlöffel, um sich daraus ein Messer zu fertigen, als ihm sein Mitgefangener Gr. ein solches zuzustecken wusste.

Es war eine strenge Hausordnung, aber ein einziges Pfund Tabak stieß sie ganz und gar um. Er scheine ihm „ein dreister, kratzbürstiger Bursche" zu sein, hatte der Schließer gesagt; aber so wären Viele gewesen; er würde ihn wohl auch „zahm kriegen." Indes diese Prophezeiung ging nicht in Erfüllung. Nicht machte der Schließer unseren Reuter zahm, sondern umgekehrt Dieser Jenen, und zwar durch das vorhin erwähnte Pfund Tabak, um dessentwillen der Schließer alle seine strengen Grundsätze vergaß, und dem jungen Manne eine Freiheit nach der anderen gestattete; zumal als dieser ihn bald darauf betraf, wie er einem seiner Freunde Zigarren mauste. Und als der Inspektor hinter diese Dinge kam, fürchtete er sich nicht mehr vor dem Schließer und gestattete den Jünglingen noch größere Freiheiten, so dass diese ungeniert mit einander verkehren konnten, und Fritz Reuter als eine Art Vizeschließer fungierte. Ja, es kam zu einem großen Commers in Rheinwein auf der Stube des Herrn Inspektors, wo einer der „Demagogen" präsidierte, und wo man den Herrn Inspektor als „forschen Fuchs" zustutzte und ihn funditus trinken lehrte, was er denn auch sehr bald begriff.

Inzwischen hatte man dem jungen Manne Schreibzeug und Zeichengeschirr wiedergegeben, und nun begann er seine Kunst praktisch zu verwerten, sich aufs Porträtieren zu werfen. Zunächst porträtierte er sich selber, dann seinen Freund Gr., dann den Herrn Inspektor, dann seine übrigen Freunde und endlich sogar den Platzmajor. Letzteres hielt am schwierigsten, denn der Herr Platzmajor war ein „Flachskopf" und hatte keine Augenbrauen, und bei den Augenbrauen pflegte Fritz Reuter anzufangen. Er wusste sich aber zu helfen und begann mit dem Schnurrbart, wo dann die Ähnlichkeit nicht ausbleiben konnte. Eine neue und größere Schwierigkeit bereiteten ihm aber die blaue Uniform mit dem roten Kragen und den blanken Knöpfen. Das Berliner Blau gab einen ganz himmelblauen Rock, der allenfalls noch passieren konnte; aber der Zinnober, der, bei Licht besehen, nur Mennig war, gab statt des roten Offizierskragens nur einen orangefarbigen Postmeisterkragen, der unter keinen Umständen passieren konnte. Ein Stückchen Zucker, das der Maler dem Pseudo-Zinnober zusetzte, verwandelte endlich den Postmeister in einen Platzmajor; das Bildnis kam glücklich zu Stande, wurde vortrefflich gefunden und brachte dem Künstler Ehre und neuen Einfluss.

Waren diese Intermezzos auch Lichtblicke, die in die Gefängnisnacht fielen und den Lebensmut des Jünglings wieder anfachten, so konnten sie ihn doch nicht mit seiner Lage versöhnen, noch weniger ihn davor bewahren, gleich seinen Kameraden in der kalten, faulen Kerkerluft dahinzusiechen.

Die Hoffnung auf Begnadigung wurde wieder lebendig, als Friedrich Wilhelm der Gerechte im Herbst 1837 das Jubiläum seiner vierzigjährigen Regierung feierte, bei welcher Gelegenheit man allgemein eine Amnestie erwartete. Wirklich kam die Sache auch im Staatsrat zur Sprache, aber der Herzog Karl von Mecklenburg erklärte sich gegen die Begnadigung der „Königsmörder" und gab als Vorsitzender den Ausschlag. Bald darauf starb der große Staatsmann.

Diese neue Täuschung war dem Gesundheitszustande der Gefangenen nicht günstig, und ihr Siechtum nahm einen immer gefährlicheren Charakter an. Wieder verfiel einer von ihnen, Namens Z., ein großer, stattlicher Jüngling, in Irrsinn. Sein Geist hatte schon bei der Verkündigung des Todesurteils gelitten, jetzt begann er mit Prophezeiungen, indem er aus den Gebärden von Krähen, Spatzen und Kanarienvögeln die wunderbarsten Dinge vorhersagte. Z., der unter seinen Mitgefangenen den Spitznamen „Franzose" führte, kam zunächst ins Lazarett, dann in die Charité nach Berlin, wurde hier als geheilt entlassen, worauf man ihn wieder auf die Festung setzte.

Auch die anderen „Demagogen" kamen auf Antrag des Stabsarztes ins Lazarett, mit ihnen Fritz Reuter, für den nun endlich auch eine Stelle dort frei wurde. Gleichzeitig brach die Cholera in der Stadt aus, und das Lazarett war mit Cholerakranken überfüllt. Hier war es nun, wo die beiden Jünglinge Wagner und Reinhard die herrschende Aufregung und Unruhe benutzten und aus dem Lazarett entflohen. Mit Hilfe eines früheren Kameraden, Namens Br., der erst vor einem Vierteljahre freigekommen, jetzt diese Freiheit zu Gunsten seiner Freunde schon wieder aufs Spiel setzte, entkamen sie glücklich nach England. Mit ihnen verließ der edle Br. Vater und Vaterland, soll aber jetzt als einer der beliebtesten Schriftsteller in Wien leben.

Diese Flucht ließ den ersten Kommandanten, Grafen H., vor Wut schäumen. Damit die übrigen „Demagogen" dem Beispiel ihrer Kameraden nicht zu folgen vermöchten, wurden sie Knall und Fall ins Inquisitoriatsgefängnis zurückversetzt, mit Ausnahme von Dreien, deren Transport als lebensgefährlich aufgegeben werden musste, und die noch im Lazarett verblieben, wo bei Tage und bei Nacht das Sterbegewimmer der von der Cholera Befallenen aus nächster Nähe zu ihren Ohren drang.

Graf H. drohte, den humanen Stabsarzt zur Untersuchung ziehen zu lassen, weil er „Gesunde ins Lazarett aufgenommen", aber dieser beantragte eine Kommission, die den Gesundheitszustand der jungen Leute begutachten sollte. Die Kommission trat zusammen, und ihr Ausspruch lautete einstimmig: Es mangle in den Zellen der politischen Gefangenen an den notwendigsten Lebensbedingungen, nämlich an Licht, Wärme und frischer Luft; auch sei das Trinkwasser, da es von unterhalb der Stadt komme, nicht zu genießen. Eine Versetzung der durchweg kränkelnden Gefangenen sei daher geboten.

Sonach behielt der Stabsarzt gegen den Grafen H. Recht, was diesem vielleicht so nahe ging, dass er bald nachher starb. Es war eine gemeine Seele, die ihr Mütchen durch die elendesten Quälereien an den armen Jünglingen zu kühlen suchte. Beispielsweise zwang er sie, sich den Bart scheren zu lassen, und titulierte sie in seinen amtlichen Mitteilungen stets als „Demagogen", bis ihn auf Beschwerde eines der Gefangenen das Berliner Kammergericht zwang, fortan die Adresse: „An den Herrn Demagogen X." mit der „An den Herrn politischen Verbrecher X.“ zu vertauschen. Er hatte sich über die Wohnung der Gefangenen nie mit eigenen Augen unterrichten mögen, ihnen nicht einmal den Besuch der Kirche gestattet oder ihnen einen Seelsorger geschickt, trotzdem sie darum wiederholt nachsuchten. Erst unter seinem Nachfolger gelangten sie Einmal in das Gotteshaus, natürlich in Begleitung einer entsprechenden Anzahl von Gendarmen. Bemerkt zu werden verdient noch, dass die Detention im Zellengefängnis eine ganz ungesetzliche war, da das Urteil auf Festungshaft lautete; indes hatte es sich ja bei dem ganzen Verfahren nicht um Recht und Gesetz, sondern um Willkür und Rache gehandelt.

Bald nach dem Tode des Grafen H., im Februar 1838, verließ Fritz Reuter sein bisheriges Gefängnis, um es mit einem andern, ihm einstweilen noch unbekannten, zu vertauschen. Er war der einzige unter seinen Leidensgefährten, der noch nicht graues Haar aufzuweisen hatte, aber er hatte in diesem Höllenkerker auch nur Ein Jahr gesessen, die übrigen vier Jahre. Will man von seinem damaligen Menschen ein Bild haben, so entwirft er sehr humoristisch selber eins davon: „Ein erbarmungswürdiges Subjekt, von einem zerrissenen Schlafrock umhüllt, zerrissene Pantoffeln an den Füßen und in der Hand eine lange Pfeife. Hinter ihm ein Königlich Preußischer Unteroffizier, der ihm, sobald er reden will — schwapp! — auf das Maul schlägt." Seinen Schlafrock vergleicht er mit dem Schilde des Achilles. Wie dieser aus neun Ochsenfellen bestand, so jener aus neun „Stockwerken" oder „Häuten", die man im Laufe der Zeit übereinander gezogen, die nun aber schon alle zahlreiche Risse und Brandwunden aufzuweisen hatten.

Wieder ging es durch Schnee und Kälte mehrere Tage, bis der Wagen um Mitternacht in Berlin hineinrasselte und vor der — Hausvoigtei hielt. Wieder nahm ihn die kleine Zelle auf, in der er während der Untersuchungshaft gesessen; aber diesmal fehlte der Strohsack, auch war sie ungeheizt, obgleich es draußen 15—18 Grad Kalte gab. Dem Gefangenen blieb nichts übrig, als sich auf die nackten Dielen zu legen und mit seinen Kleidungsstücken zu bedecken. Am andern Morgen guckte der Gefängnis-Inspektor zur Türe herein und fragte grinsend, „wie man geruht habe?" Der Jüngling verschluckte den grausamen Hohn und verlangte den Hausvoigt zu sprechen. — Das war sein alter Freund, Herr Dambach, den man wegen seiner Verdienste um den Staat inzwischen mit dieser Stelle belohnt und nebenbei zum Kriminal-Direktor ernannt hatte. — Der Inspektor erwiderte, der Herr Kriminal-Direktor lasse sich nicht sprechen; worauf der Gefangene ein Bett, wenigstens einen Strohsack verlangte, nötigenfalls von seinem Privatgelde, das der Hausvoigt in Gewahrsam hatte. — Nichts davon. Der Herr Kriminal-Direktor hätten bestimmt, der Gefangene solle sich von seinem Tractament so viel zusammensparen, bis er sich ein Bett mieten könne. — Von seinem Tractament! — Das betrug fünf Silbergroschen täglich, wovon der Schließer für den Morgenkaffee vier erhielt, so dass für die andern Mahlzeiten noch Ein ganzer Silbergroschen übrig blieb.
Vier Nächte lag der Jüngling auf dem bloßen Fußboden in der ungeheizten Zelle; vier bitterkalte Nächte. Neben ihm wimmerte sein Mitgefangener, den der Fieberfrost schüttelte und dann umhertoben ließ. In dieser Nacht schlug die Verzweiflung ihre Krallen in das Herz des jungen Mannes und wühlte gierig darin umher. Er wollte seinen Kameraden beruhigen, trösten, ihm Hilfe bringen, und da er Das nicht vermochte, begann er, die Welt und sich selber zu verwünschen.

O, hätte er doch ein wenig in die Zukunft sehen können! Hätte er sehen können, wie sein Name auf den Flügeln des Dichterruhms einst durch das große weite Vaterland fliegen, in derselben Stadt, in der er jetzt ein armer Gefangener war, einst auf tausend Lippen schweben werde! Hätte er in jenen hell erleuchteten Saal schauen können, wo vor einem halben Jahre Hunderte von hübschen Mädchen und jungen Frauen saßen, Alle trunken von der Schönheit seiner Dichtungen, die ein begeisterter Dolmetscher vor ihnen entrollte; deren Herzen er nach Gefallen lenkte, in deren Augen er süße Tränen mit sonnigem Lächeln wechseln ließ! — Aber er sah nichts von alledem; denn um ihn, in ihm war es kalte schwarze Nacht. Er sah nicht einmal sich selber, wie er zwanzig Jahre später auf dem Hausvoigteiplatze stand, neben ihm sein liebes Weib, das sich dicht an ihn schmiegte, denn er zeigte ihr seinen ehemaligen Kerker. Aber rings um ihn — es war während des Berliner Turnfestes — aus allen Fenstern flatterten jetzt mächtige Fahnen in Schwarz-Roth-Gold, frei und stolz blähten sie sich im Winde, dieselben Farben, um derentwillen er einst zum Tode verurteilt; und selbst die Geheimräte, vielleicht dieselben, die einst das Todesurteil niedergeschrieben, schrien jetzt laut: „Gut Heil!"

Aber auch die längste bangste Nacht muss ein Ende nehmen, und man wird ihn ja nicht für immer hier festhalten. Oder doch!? — Er wendet sich an einen Unterbeamten. Der Schuft — denn er kam später wegen Unterschleif auf die Festung — der alte Schuft mit dem gedunsenen Gesicht weidet sich an der Angst des Jünglings und antwortet mit Grinsen: „Versteht sich! Sie bleiben immer hier. Glauben Sie, dass Seine Majestät alle diese großen Gebäude hier leer stehen lassen will? Nein, Sie bleiben hier, und Ihre Kameraden kommen alle nach." —

Also doch! — Noch fünf und zwanzig Jahre in diesem Loche, auf dem nackten Fußboden, unter der väterlichen Obhut des Herrn Kriminal-Direktors Dambach!! — Also doch!!!

Der Verzweifelte glaubt an das Unwahrscheinlichste, zumal wenn es das Entsetzlichste ist.

Da öffnet sich die Türe, und der hereintretende Gendarm spricht: „Meine Herren, machen Sie sich bereit; in einer halben Stunde reisen wir."

Ach, dieser alte baumlange pockennarbige Gendarm erschien den Jünglingen wie ein schöner rosiger Engel, vom Himmel zu ihrer Erlösung heruntergesandt, und sie sanken sich freudetrunken in die Arme.

In diesen jammervollen Tagen war der alte Vater nach Berlin gekommen und winselte an den Stufen des Thrones um Gnade für seinen Sohn. Sie wurde ihm nicht gewährt. So wollte er sein Kind wenigstens einmal sehen. Nur Eine Türe trennte ihn von seinem Sohne, aber der Herr Kriminal-Direktor Dambach ließ ihn nicht hinein, und der Gefangene erfuhr nicht einmal, dass sein alter Vater dagewesen.

Diesmal ging die Reise nach Osten, immer nach Osten, bis man an die breite Weichsel kam, die eben mit großen Eisschollen trieb. Der Übergang war geradezu lebensgefährlich; Fritz Reuter weigerte sich und meinte: der Preußische Staat könne von ihm, als einem Ausländer, nicht verlangen, dass er großen Heldenmuts aufwende, bloß um glücklich nach einer neuen Preußischen Festung zu kommen. Aber die Gendarmen entgegneten, wenn sie ihr Leben wagen sollten, könne es der Gefangene wohl auch. Also ging's in den Kahn, und man erreichte mit Mühe und Gefahr das jenseitige Ufer.

Die neue Festung war Graudenz, und der Kommandant empfing sie mit den Worten: „Ich sehe aus Ihren Papieren, dass Sie ordentliche Leute sind, und Sie sollen's hier auch gut haben, denn meine Sache ist es nicht, Leute, die im Unglück sind, noch mehr zu treten." — Das war eine andere Sprache, als man sie von dem Grafen H. und dem Kriminal-Direktor Dambach gewohnt war. Und zum Schlusse sagte der alte brave Westfale: „Und denn ist hier noch Einer von Ihren Kameraden, er heißt Schr. — Sie werden ihn wohl kennen — Der hat hier den dummen Streich gemacht, dass er sich mit einem Mädchen verlobt hat — ein ordentlich Mädchen und ordentlich verlobt — Dem habe ich die Erlaubnis gegeben, dass ihn seine Braut in Begleitung ihres Bruders wöchentlich drei Mal besuchen kann; aber darauf werden Sie sich nicht berufen, denn die Erlaubnis kann ich Ihnen nicht geben."

Allerdings kannten sie den Schr. Es war ja der Denunziant, der seine ehemaligen Couleurbrüder an Herrn Dambach verraten und zum Dank dafür nun schon seit vier Jahren hier in Frieden und Wohlleben saß, während seine Kameraden auf dem Silberberg und in Magdeburg schmachteten.

Nun, der Kommandant hielt sein Wort und behandelte auch die beiden Ankömmlinge mit aller Humanität. Bald nach ihnen trafen mehrere ihrer alten Kameraden ein, und nun begann in den düstern Kasematten ein bewegliches, fast fideles Leben. Einer nach dem Anderen verlobte sich, ohne die Erlaubnis des Kommandanten einzuholen; zuerst „Don Juan", ein ehemaliger Buchhändler, mit einer Schankmamsell; dann der „Erzbischof", ein ehemaliger Schriftsetzer, mit einer Bäckerfrau; endlich der „Capitain", ein alter Auscultator, mit der Proviantmeisters-Tochter, die er aber später seinem Kollegen „Kopernikus" abtrat, um dafür in der Stille die Tochter des Majors anzubeten. Nur Fritz Reuter verlobte sich nicht, einmal weil in der Nähe kein Mädchen mehr vacant war, und dann hatte er andere Dinge zu tun. Er legte sich nämlich aus die Kochkunst, kochte für sich und seinen Stubenkameraden; daneben fing er eine Milchwirtschaft mit großer Butterei und Käserei an, die aber gründlich verunglückte; endlich fertigte er Transparente zu den Familienfesten der Festungsbeamten.

Sein Schicksal hatte sich freundlicher gestaltet, und es sollte noch besser werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz Reuter und seine Dichtungen - Fritz Reuter
Festung Silberberg 1842

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Festung Silberberg, Kasematte

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Festung Silberberg, Zelle von Fritz Reuter

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