Fortsetzung: Kindheit und Jugend

Sie schwor, nie wieder zu Ball zu gehen, besann sich aber eines Bessern, als es im nächsten Winter einem Maskenball galt. Alt- und Jung-Stavenhagen erschien hier in den abenteuerlichsten Verkleidungen, Tante Christiane als „siebenzehnhundertjährige Braut“, unser Fritz als Schornsteinfegerjunge, mit Leiter, Hacke und Besen ausgerüstet. Um seinen Charakter auch dramatisch zu betätigen, erstieg er den Rücken einer Königin der Nacht, die im gewöhnlichen Leben eine jüdische Kaufmannsfrau war, und bearbeitete nun, mit Besen und Hacke den Kopfputz von Madame Levin, bis er nicht nur den Sternenschleier, sondern auch die Perücke heruntergefegt hatte, zum Ergötzen der übrigen Gesellschaft; nur Tante Christiane sah sich genötigt, dieses Kunststück mit ein paar derben Backenstreichen zu belohnen. Verstimmt schlich er von dannen, mit ihm sein treuester Freund und Spielgenosse, Karl Nahmacher, dem seine Mutter ein gleiches Unrecht zugefügt hatte. Mitternacht war vorüber und der Ball neigte sich seinem Ende zu, als man die beiden Jungen vermisste, die nun die ganze Gesellschaft eifrig zu suchen begann. Vergebens durchstöberte man alle Zimmer und Winkel des weitläufigen Hauses, und eine Unglücksprophetin ließ sich bereits vernehmen: die Knaben seien aus gekränktem Ehrgefühl wahrscheinlich ins Wasser gegangen. Wieder wurden die beiden Nachtwächter ausgeboten, zu denen sich noch der Stadtdiener Luth und sämtliche Knechte und Tagelöhner des Bürgermeisters und die des Pächters Nahmacher gesellten, welche nun in drei verschiedenen Trupps die ganze Stadt und deren Umgegend durchstreiften. Alles vergeblich! Die schwer geängstigten Eltern und Verwandten kehrten nach dem Ballhause zurück, wo noch in einem Nebenzimmer zwei mittelalterliche Ritter, der Ratsherr Herse und der Postmeister Stürmer, an einem Schenktische saßen und tapfer zechten und sangen. Unter diesem Schenktische entdeckte man nun auch die beiden Knaben, wie sie in brüderlicher Umarmung dalagen und den Schlaf der Unschuld schliefen.

Den Besuch des Theaters hatte man bequem, denn die Vorstellungen fanden im eigenen Hause, im großen Rathaussaale statt, gleichfalls unter Leitung des Herrn Stengel, der also nicht nur Tanzmeister, sondern auch Schauspieldirektor und zugleich sein erster Akteur war. Kein Stück hat auf den kleinen Fritz größeren Eindruck gemacht als „Lorenz Kindelein, der arme Poet" von Kotzebue. Der Knabe zerfloss in Tränen, und neben ihm weinte Tante Christiane, hinter ihm Onkel Herse. Dieser unterbrach seine Rührung durch den wiederholten Ausruf: „En olles dämliches Stück!" während Jene, um ihren kleinen Neffen zu beruhigen, ihm von Zeit zu Zeit einen Rippenstoß versetzte. — Aber wie hungerte und wimmerte auch der dicke schweißtriefende Poet auf den Brettern umher! Auf unsern Fritz machte die Misere des Poetentums einen solch abschreckenden Eindruck, dass, wie er selber sagt, „er erst dann jenen dornenvollen Pfad zu betreten sich entschloss, als er alles Mögliche versucht hatte: Klutentreten und Dungfahren, Schulmeisteriren und Kinderschlagen und zuletzt gar noch städtische Angelegenheiten." — Trotz alledem machte er schon damals Verse, wie denn sein erstes Gedicht folgendermaßen lautete:


Im Frühling? blühen die Rosen;
Im Sommer verlieren die Gänse ihre Posen.

Tante Christiane gehörte zu den wenigen Bewohnern Stavenhagens, die sich auf den Gesang verstanden. Abends auf der Bank vor der Haustür sang sie mit vielem Zittern und Tremulieren:

Komm, Lina, komm! Im Dunkeln
Sieh, wie die Sterne funkeln
und:
Stolz durchschwimmt der Schwan
Den blauen Oce — an.

Fritz hörte andächtig zu und versank jedesmal in eine sehr elegische Stimmung. Aber Tante Christiane ließ es bei diesen lyrischen Vorträgen nicht bewenden, sie sang eine ganze Operette, indem ihre Stimme bald zum Bass herunterstieg, bald den Alt oder gar Diskant erklomm; „fin und grow" nannten es die kleinen Zuhörer. Der Bass war ein junger Offizier, der ungeduldig an das Tor eines Klosters klopft, bis ihm der Alt in Gestalt der Pförtnerin öffnet. Er verlangt die Priorin zu sprechen, die dann auch als Diskant erscheint und sich zugleich als sein hübsches Bässchen ausweist; worauf zwischen Bass und Diskant ein etwas verfänglicher Zwiegesang sich entspinnt, den jedoch die Frau Bürgermeisterin mit Rücksicht auf die lauschenden Kinder regelmäßig unterbrach, so dass Tante Christiane diese schöne Operette niemals zu Ende bringen konnte.

Über die musikalischen Bestrebungen ihres Neffen brach sie ohne Gnade den Stab, indem sie versicherte, er würde nie ein Sanger werden, und diese Prophezeiung ist auch wirklich eingetroffen. Aber ebenso wenig ist er ein Tänzer geworden, trotz aller Anstrengungen des Herrn Stengel.

Den von der Mutter erteilten Unterricht setzte Mamsell Schmidt fort, die eine Schule für Töchter gebildeter Eltern hielt. Fritz fühlte sich hier sehr unbehaglich, denn er war der einzige Junge unter den gebildeten Mädchen, die ihn alle „schuhriegelten", mit denen er in den Zwischenstunden heftige Kämpfe bestand, und wo er schmachvoll unterlegen wäre, hätten ihn nicht zwei der Ältesten und Hübschesten unter ihre Flügel genommen.
Seine späteren Lehrer waren zahlreich und sehr verschiedener Art. Es unterrichteten ihn nach- und nebeneinander: der Handlungsbeflissene Rutenick, der Studiosus — jetzt Medizinalrat Caspar zu Bützow, der Apotheker Sparmann, der Schneider Krenz, der Uhrmacher Droz, der Herr Rektor und Onkel Herse; bis dann endlich ein Hauslehrer angenommen wurde.

Der Schneider Krenz erteilte den Unterricht im Französischen, denn er hatte sieben Jahre in Paris als Schneidergeselle gearbeitet. Sein Unterricht erwies sich jedoch mangelhaft; denn bei einer mit den Zöglingen vorgenommenen Prüfung konjugierten alle drei Knaben hartnäckig: Je suis été. Herr Krenz wurde entlassen, und Herr Droz trat an seine Stelle.

Dieser entstammte der bekannten Uhrmacherfamilie aus Neufchatel und hatte ein abenteuerliches, wechselvolles Leben geführt. Zuerst Schweizersoldat, geriet er mit dem damaligen Fechtmeister Augerau, der ihm die rote Jacobinermütze aufnötigen wollte, in Streit und schlug ihn braun und blau, worauf dieser auf einem geliehenen Pferde nach Paris reitet, aber binnen Kurzem als kommandierender General zurückkehrt. In Furcht, dass Augerau ihn aufsuchen und sich an ihm rächen werde, desertierte Droz und trieb sich längere Zeit als Wildschütz umher, bis er diesen Erwerbszweig für unsicher erachtete und nun gleichfalls französische Dienste nahm. Er konnte es aber nicht bis zum General, nicht einmal bis zum Korporal bringen, weshalb er auch hier desertierte und nach Berlin ging, woselbst er als Kammerdiener in die Dienste einer Dame trat, die dem Prinzen Louis Ferdinand sehr nahe stand. Nach dem Tode des Prinzen wurde Droz entlassen, ohne dass man ihm den rückständigen Lohn auszahlte, worauf er nach Stavenhagen pilgerte und hier eine Uhrmacherwitwe mit mehreren Kindern heiratete.

Herr Droz war ein vorzüglicher Lehrer für die französische Konversation, denn er wusste viel und fesselnd zu erzählen. Jagdabenteuer wechselten mit Soldatengeschichten, eigene Erlebnisse mit denen Anderer; und während die Kleinen sich an diesen lustigen Geschichten ergötzten, lernten sie ganz unvermerkt die fremde Sprache.

Noch größere Verdienste um Fritzens Ausbildung erwarb sich Onkel Herse. Er war eigentlich kein geborener, sondern nur ein adoptierter Onkel, der Nachbar und Hausfreund der Reuter'schen Familie, daher ihn die Kinder „Onkel" nannten. Für Andere war er der „Herr Ratsherr Herse", der sein Geschäft als Apotheker niedergelegt hatte und nunmehr von den Errungenschaften der Medizinaltaxe zehrte. Man denke sich aber keinen dürren spitznasigen pedantischen Neunundneunziger, sondern einen großen starken Mann mit blühendem Antlitz, von quecksilberner Beweglichkeit, unerschöpflich an wunderlichen Einfällen und von einer Gemütlichkeit, die, wie sein dankbarer Schüler sagt, sich nach Ellen messen ließ.

Onkel Herse unterrichtete unseren Fritz im Schön- und Rechtschreiben, im Rechnen, Zeichnen und Turnen. Aber er war kein gewöhnlicher Lehrer. Im Schönschreiben begann er mit der Fraktur und bunten Initialen, im Zeichnen mit allerhand Malereien in Aquarell, Gouache, Öl und Email; wogegen er in den orthographischen Lehrstunden einen vollständigen Roman mit allen möglichen Ingredienzien erfand. Der Roman, „Waldmann" betitelt, begann mit einem Bären, der einen Jäger verfolgt. Dieser rettet sich mit großer Mühe und entdeckt hinterher in seiner Jagdtasche ein kleines nacktes Kind, welches eben „Waldmann" ist und im Laufe der Jahre zum Helden des Romans heranwächst. Mönche und Nonnen beeifern sich wechselweise, ihn unglücklich zu machen, was ihnen aber nicht gelingt, weil „Waldmann" von einem Eremiten die Kunst erlernt hat, sich unsichtbar zu machen. Hier wurde der Dichter von seinem Schüler unterbrochen. — In welcher Weise sich „Waldmann" unsichtbar gemacht habe? forschte Fritz. — „O", entgegnete Onkel Herse, der um eine Antwort nie verlegen war, „er rauchte Bilsenkraut."

Diese Erklärung beschäftigte den Knaben lange, und er beschloss, sie praktisch zu erproben, nicht an sich selber, sondern an dem alten Hausknecht Friedrich. Er stopfte ihm eine Pfeife mit Bilsenkraut, das er unter einer dünnen Lage von des Vaters Tabak verbarg, und wartete nun gespannt auf den Moment, wo der unbefangen Rauchende verschwinden werde. Statt dessen begann Friedrich wiederholt kurz auszuspucken, Unrat zu merken und den kleinen Naturforscher am Kragen zu nehmen. „Du hast mich vergiften wollen!" schrie er, und schleppte ihn vor den Bürgermeister, wo nun Fritz ein umfassendes Geständnis ablegte. Der Vater verlangte das Manuskript des „Waldmann" zu sehen und begann es sofort durchzulesen. Es war der erste und einzige Roman, den der Bürgermeister in seinem Leben gelesen; aber er erklärte ihn für das dümmste Zeug von der Welt, und ersuchte den Ratsherrn, den Schluss zu unterdrücken.

Noch schneller und unglücklicher endigte der Turnunterricht, nämlich schon nach der ersten Stunde. Onkel Herse hatte von den Bestrebungen Vater Jahns gehört und beschloss, dem großen Manne nachzueifern. In Ermangelung anderer Turngerätschaften bediente man sich einer Leiter, die vor dem Kuhstall stand und nach dem Heuboden führte. An dieser vollführten die Reuterschen Knaben ihre gymnastischen Evolutionen, vor- und rückwärts, mit den Händen und Füßen, während Onkel Herse unten stand und kommandierte. In seiner Herzensfreude rief er nach „Tanten", damit diese sich auch an den Turnspielen erlaben möge. — „Tanten" nannte er seine eigene Frau, die ihn zum Dank dafür „Unkel" nannte. — „Tanten" verkündigte kopfschüttelnd Unheil, aber Onkel Herse wollte nicht daran glauben, bis der kleine Fritz wirklich herunterfiel, glücklicherweise ganz weich, nämlich auf den Düngerhaufen. Aber die Turnspiele hatten damit doch ein Ende, denn „Tanten" untersagte sie aufs Nachdrücklichste.

Welch ein köstliches Original dieser Onkel Herse! Ebenso köstlich wie Tante Christiane und der Amtshauptmann Weber, von dem wir bald ein Näheres melden werden. Jeder dieser Drei war dem offenen, eindrucksfähigen Geiste des Knaben eine buntschillernde imposante Erscheinung, die seine lebhafte Phantasie immer wieder herausforderte und zu den verschiedensten Gebilden anregte. Vornehmlich Onkel Herse, und zwar schon in Tracht und Gebaren. Mochte er Morgens in seinem Schlafrock einherstolzieren — es war der einzige Schlafrock, den Stavenhagen aufzuweisen hatte, und dazu ein hellblauer — oder am Nachmittag in Corduanschuhen, gelben Nankinghosen und Hemdärmeln mit der langen brennenden Pfeife quer über den Markt zu seinem Gevatter Grischow gehen; in beiden Fällen war er Ritter Toggenburg. Am Morgen setzte ihn Fritz auf das Handpferd seines Vaters, den alten Hans, hing ihm einen Gendarmeriesäbel am gelben Bandelier über den hellblauen Schlafrock, gab ihm eine Landwehrpike als Lanze in die Hand und ließ ihn in die Welt auf Abenteuer hinaustraben. Am Nachmittag war er zu „Tanten" zurückgekehrt und spazierte zu Grischow, um sich von den ausgestandenen Strapazen durch ein Glas „Schurr-Murr" zu erholen, ein Getränk, das Gevatter Grischow aus sieben roten grünen blauen und gelben Flaschen zusammengoss. Und Abends saß er vor der Haustür unter den Lindenbäumen und erzählte seine Abenteuer, wobei er sich mit der fleischigen Hand über das behagliche Gesicht strich und zuweilen in ein fröhliches, über den Markt hinschallendes Gelächter ausbrach, während seine beiden Hunde Rollo und Tippo, um die Gunst des Herrn eifersüchtig, sich zu seinen Füßen herumbalgten, oder mit ihren schmutzigen Pfoten an seinen gelben Nankinghosen herauskrochen.

Aber abgesehen von der ritterlichen Gestalt, umflossen von einem romantischen Nimbus — Onkel Herse war ein Universalgenie, nicht nur Dichter, sondern auch Maler und Musiker, und außerdem in hundert anderen Künsten des Krieges und des Friedens geschickt. Den Reuter'schen Kindern war er nicht nur Lehrer und Ratgeber, ein lebendes Konversations-Lexikon, worin sie nach Belieben blättern konnten, sondern auch der treueste Freund und Spielgenosse. Immer heiter und unverdrossen lehrte er die Knaben tausend kleine praktische Handgriffe, bald ein Gewehr laden und es abschießen, bald Klammern schneiden und Stöcke beizen, bald Blumen und Bäume pflanzen, bald Mäuse und Ratten fangen. Er machte ihnen die ersten Drachen und malte wunderschöne abscheuliche Gesichter darauf, ließ sie selbst steigen und freute sich, wenn seine Medusengesichter auf die Stadt herabblickten und die alten Weiber mit Bewunderung und Schrecken erfüllten. Er führte sie in die Felder und wusste für jedes Unkraut einen hübschen lateinischen Namen; er führte sie in den Wald und legte den Vogelmelodien einen Text unter. „Hürt Ji woll, Jungs“, sagte er, wenn der Krammetsvogel beim Sonnenuntergang lustig in den Ästen umhersprang und sein abgebrochen Lied in den dunstigen Herbstabend herniedersang; „sei raupen mi orndlich. — Hürt Ji woll: — Ratsherr Hers' — kumm hir her! — kumm hir her! — Scheit mi dod! — Jck bün hir — Wo's Grischow? — Wo's Grischow? — Scheit mi dod!“ —

Die Familie Reuter hatte, schon wegen der Krankheit der Hausfrau, nur geringen Umgang; außer mit dem Ratsherrn Herse und dem Amtshauptmann Weber nur noch mit dem Pächter Nahmacher, der auf dem hart an der Stadt gelegenen Alt-Bauhofe wohnte. Dennoch war Fritz als der Kronprinz von Stavenhagen in jedem Hause bekannt, mit allen Knaben seines Alters eng verbrüdert. Vornämlich mit Karl Nahmacher, mit dem er, gewöhnlich gegen den Willen der Eltern, ausgedehnte Streifzüge durch Flur und Wald unternahm, z. B. nach dem Eulenberge, der Priesterkoppel, dem Schlossgarten mit seinen Kastaniengängen und lockenden Obstbäumen, sogar nach dem herrlichen Tiergarten zu Ivenack mit seinen stattlichen Hirschen und tausendjährigen Eichen. Die Rückkehr erfolgte gewöhnlich sehr spät und deshalb im Steeple-chase, durch Gräben und Moore, Pfützen und Lachen, über Hecken und Zäune, bis man glühend und keuchend endlich vor dem Alt-Bauhofe eintraf. Hier wurde zunächst eine Besichtigung der Schuhe und Hosen vorgenommen. Ach, sie waren vor Schmutz und Wunden kaum kenntlich! jedenfalls mussten sie im nahen Rohrteiche gewaschen werden, und nun hinauf in die Wipfel der hohen Obstbäume, um hier besser trocknen und daneben ein wenig naschen zu können. — Endlich, endlich wagte man sich zögernd nach Hause, die kleine Brust voll banger Ahnung, die selten trog, meistens von dem Pantoffel der Madame Nahmacher, von dem Rohrstöckchen des Herrn Bürgermeisters eine nachdrückliche Bestätigung erfuhr.

Ein paar Schritte rechts um die Ecke des Rathauses, und ein mit Kastanien bepflanzter Weg zieht sich den Hügel hinan, auf welchem das Amtsgebäude, ein früheres Jagdschloss, umgeben von einem schönen Garten liegt, woselbst der Herr Amtshauptmann Weber mit seiner Gattin „Neiting" und einer alten dicken Beschließerin, Mamsell Westphalen, Haus hält. Seht doch den großen stattlichen ehrenfesten Herrn mit den langen blankgewichsten Stiefeln, den gelben Beinkleidern, dem sauberen blauen Rocke, und vor Allem mit dem niedlichen Zöpfchen, das ihm an jedem Morgen seine liebe Frau dreht. Er stützt sich auf einen Ziegenhainer, den er zum Andenken an die schöne Jenenser Studentenzeit bewahrt, wo er als Mitglied des Amicistenordens wirkte, nimmt von Zeit zu Zeit eine Prise aus der Dose von gelbem Buchsbaummaser; und aus dem pockennarbigen Gesicht blicken zwei große blaue Augen so treu und bieder, aber auch so jovial und schelmisch. Fritz ist sein Pate, und der Vater oder die Mutter schicken ihn öfters mit einer Bestellung nach dem Schloss hinauf. Hat er sich dieser glatt entledigt, dann tätschelt ihm der alte Herr wohlgefällig den Kopf und spricht: „Fix, Jung', as en Füerslott! Dat möt nich lang hacken un knarren, as Du losdrückst, möt't ok blitzen. — Nu gah hen nah Mamsell Westphalen un lat Di en Appel gewen."

Ja, dieses Schloss mit den Spuren seiner alten Befestigung war wieder ein anziehendes Stück Romantik, und Onkel Herse deutete es dem Knaben, ganz wie die kindliche Phantasie es wünschte. Er zeigte ihm den Wall und den breiten Graben, wo man gerade das schönste Gras mähte; der Misthof sei die alte Zugbrücke, der Schweinekoben das ehemalige Fallgatter, herse auf Französisch, wovon er, der Ratsherr Herse, seinen Namen habe; und dort über die Mauer hätten die Burgfräuleins und Rittermamsells gekuckt und mit den Taschentüchern gewedelt, wenn die Herren Ritter auf Raub ausgingen, und hier wären sie herausgeritten, die Hufeisen immer verkehrt unter den Rossen; und das Burgverließ würde jetzt von Mamsell Westphalen als Apfelkammer benutzt; und von der grünen Pforte hätte ein unterirdischer Gang nach Ivenack geführt, damals ein Nonnenkloster, und die Ritter und Nonnen wären häufig zusammengekommen und hätten vielen Commers mit einander gehabt; und er, der Ratsherr Herse, müsse das wissen, denn er sei zu Ivenack geboren und erzogen.

Je nun, das war Alles handgreiflich, und diese Geschichten viel zu schön, als dass sie nicht wahr, unzweifelhaft wahr sein sollten! Und was Onkel Herse nicht wusste, das wussten die Knechte und Mägde in der Gesindestube zu erzählen: von Leuten, die es der Bequemlichkeit halber vorziehen, den Kopf unter dem Arme zu tragen, von dem schwarzen Pudel mit den feurigen Augen, der den Eingang zum unterirdischen Gange bewache, von der nächtlichen Illumination des Schlosses und hundert anderen Spuk- und Gespenstergeschichten, Sagen und Märchen. — Der kleine Zuhörer war ganz Ohr; Neugier und Schrecken, Furcht und Freude machten ihm den Kopf brausen, das Herz hämmern. — —

Wir haben bei dieser Periode so lange verweilt, Manches mit Fritz Reuters eigenen Worten wiedererzählt, weil in dem Lebenslaufe eines Dichters Nichts wichtiger ist als die erste Umgebung, die frühesten Erlebnisse und Handlungen. Der Beweis hierfür liegt bei unserem Dichter auf der Hand, denn er kommt auf jene Geschichten bei jeder Gelegenheit und mit sichtlicher Vorliebe zurück, die meisten seiner Dichtungen spielen in der engeren Heimat, und wir begegnen in ihnen immer wieder den Freunden seiner Kindheit, sei's unter ihrem wahren, sei's unter einem anderen Namen. Diese Freunde sind längst tot, aber der Dichter hat ihnen Unsterblichkeit verliehen, indem er sie in warmer Verklärung zu neuem Leben erschuf.

Den goldenen Spieljahren folgt die prosaische Schulzeit. Der Vater, der bisher der Ansicht gewesen, sein Sohn könne auch von Schneidern und Ratsherren profitieren, fing doch an, in Onkel Herses pädagogische Befähigung Zweifel zu setzen, und eine straffere und mehr geregelte Disziplin für nötig zu erachten. Den Übergang zu diesem Umschwung der Dinge bezeichnete ein Ereignis, das zuerst die heiteren Illusionen des Knaben in der empfindlichsten Weise störte.

Der alte Amtshauptmann hatte auf einem Spaziergange durch die Felder eines seiner Kleinode, die Schnupftabaksdose von gelbem Buchsbaum-Maser, verloren. Fritz hatte das Glück, sie zu finden, und überbrachte sie dem Eigentümer. Die Freude des alten Herrn war groß, denn er hatte die Dose von einem längst verstorbenen Freunde erhalten. Wiederholt tätschelte er dem Knaben den Kopf und sprach: „Ne, wat denn, Fritz? Ne, wat denn? Min Sähn, dat will ik Di gedenken!" — Nach einiger Zeit wurde er aufs Schloss beschieden, und der Amtshauptmann überreichte ihm als Fundgeld für die Dose drei dicke Bücher. Voll froher Erwartung springt der Knabe mit seinem Schatz nach Hause. Gewiss sind es Märchen- oder gar Bilderbücher! Er öffnet und findet — Schellers Lexikon.

Bald nach dem Lexikon kam ein Kandidat der Theologie ins Haus, der Fritzen und seinen beiden Vettern Privatunterricht erteilte, bis alle drei Michaeli 1824 das Gymnasium zu Friedland in Mecklenburg-Strelitz bezogen. Geschichte, Geographie und Mathematik waren die Lehrgegenstände, die dem Knaben am meisten zusagten; vornämlich beschäftigte er sich aber mit Turnen und Zeichnen, denn der Same, den Onkel Herse gesäet, war lustig aufgegangen. Nach drei Jahren erklärte Fritz seinem Vater die Absicht, Maler werden zu wollen. Dies stimmte aber schlecht zu den Wünschen des Vaters, der aus ihm einen Juristen machen wollte. Deshalb und weil die Schule inzwischen stark herabgekommen, musste Fritz zweien seiner besten Lehrer, dem nachherigen Direktor Zehlicke und dem noch lebenden Konrektor Gesellius, an das neu organisierte Gymnasium nach Parchim folgen, die Zeichnenstunden aber quittieren. Hier blieb er, bis er um Michaeli 1831, fast 21 Jahre alt, die Universität Rostock bezog, wo er denn auch, allerdings lässig und mit innerem Widerstreben, Institutionen und Rechtsgeschichte hörte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz Reuter und seine Dichtungen - Fritz Reuter