Stemhagen (1810—1824) Stavenhagen

Alle meine Gedanken sind einmal von dieser engen Welt ausgefüllt worden,
alle Fibern meines Empfindens haben einmal dies kleine Heimwesen umsponnen und daran gesogen wie ein Kind an Mutterbrüsten, und das vergisst man nicht.
      Schurr-Murr. (Meine Vaterstadt Stavenhagen.)

Wer von der mächtigen Ostseehandelsstadt Stettin jenem anderen großen Nordsee-Emporium des deutschen Handels: Hamburg oder dem „Nürnberg des Nordens": Lübeck auf dem nächsten Wege zueilt, den führt das Dampfross bei Neubrandenburg („Nigen-Bramborg“), der größten Stadt des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz, in eine freundliche Gegend, die durch grün geschmückte Höhenzüge und malerisch gelegene Seen mit den weiten und kahlen Flächen der eben passierten Uckermark auf das Lieblichste kontrastierend, sich hinein in das Mecklenburg-Schwerin'sche Land bis Teterow fortsetzt, hier noch an landschaftlicher Schönheit gewinnt und von der Bevölkerung den Namen der Mecklenburgischen Schweiz erhalten hat. In diesem von der einheimischen Schuljugend auf ihren Turnfahrten namentlich häufig besuchten Landstriche liegt zwischen Neubrandenburg und Malchin, gleichfalls an der Mecklenburgischen Friedrich-Franz-Eisenbahn, das jetzt ca. 2.500 Einwohner zählende Landstädtchen Stavenhagen. „Stemhagen" nennt es der Plattdeutsche oder, wenn er es dem Hochdeutschen gegenüber hochdeutsch bezeichnen will, auch wohl „Steffenhagen".


Die Stadt, welche bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts urkundlich genannt wird, bietet weder in architektonischer noch sonst einer Beziehung irgend Bemerkenswertes, macht aber durch eine ziemlich regelmäßige, gefällige Bauart, durch gut gepflasterte und wohlgehaltene Straßen einen angenehmeren Eindruck als manche ihrer mecklenburgischen Schwestern und darf auch für einen Ort gelten, welcher seine Einwohner recht gut nährt. Die Umgebung von Stavenhagen ist eine sehr freundliche; Anhöhen umschließen dasselbe fast vollständig, schöne, der Stadt gehörige Waldungen laden zu Spaziergängen ein und ¾ Meilen in nordöstlicher Richtung liegt der große und anmutige gräfliche Landsitz Ivenack, wohin auch ein Fußpfad durch den mit prächtigen uralten Eichen gezierten Ivenacker Tiergarten führt.

Von den Gebäuden „Stemhagens" nehmen zwei, n u r zwei unser besonderes Interesse in Anspruch, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der Personen, welche in ihnen gelebt und gewirkt haben, und der Begebenheiten, deren Schauplatz sie sein sollten. Ich meine das Stavenhägener Rathaus und das Amtsgebäude oder Schloss, beide allen Freunden der Reuter'schen Dichtung wohlbekannt durch „Ut de Franzosentid“.

Ersteres, ein großes, massives Gebäude, liegt am Marktplatz und wird in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut sein. Hier hat im Jahre 1808 der Vater unseres Dichters Bürgermeister Georg Johann Jacob Friedrich Reuter sein Daheim „von Amtswegen" aufgeschlagen und fast 40 Jahre hindurch — er starb am 22. März 1845 — in demselben als ein wahrhafter Vater der Stadt gesorgt und geschaffen.

Der Bürgermeister Reuter war kein Stavenhägener Kind; vielleicht stammte seine Familie gar nicht einmal aus Mecklenburg, wenigstens war der Großvater in Pritzwalk ansässig gewesen. Der Vater dagegen hatte Amt und Würden in Mecklenburg erworben, er war Landpastor zu Demen bei Crivitz, dann zu Konow bei Dömitz. Im ersteren Orte wurde 1776 der Vater unseres Dichters geboren. Nachdem derselbe seinen ersten Unterricht im elterlichen Hanse erhalten, kam er auf die Schule zu Parchim, welche Bildungsanstalt wohl mit aus dem Grunde gewählt wurde, weil die Mutter, eine geborene Fanter, aus Parchim stammte und in dieser Stadt noch verwandtschaftliche Verbindungen hatte*). Nach vollendetem Schulkursus besuchte darauf Reuter die Universitäten Rostock und Göttingen, um Jurisprudenz zu studieren, und nach Beendigung seiner akademischen Studien trat derselbe als Auditor beim Domanialamte zu Grabow ein. Von hier kam er nach 1 ½ Jahren, im Jahre 1806 in gleicher Eigenschaft nach Stavenhagen an das dortige Domanialamt; seine ausschließliche Wirksamkeit an demselben dauerte jedoch nicht lange, denn bereits im Jahre 1808 berief ihn der Herzog Friedrich Franz I. zum Bürgermeister und Stadtrichter von Stavenhagen. Nebenbei musste Reuter auch als Amtsregistrator und fast während der ganzen Zeit seiner Amtsführung auch als sein eigener Sekretär in städtischen Angelegenheiten fungieren. Das Feld, welches so der Tätigkeit Reuters eröffnet wurde, war, wie man sieht, ein sehr umfängliches, durch die Zeitverhältnisse sollte es aber auch noch zu einem sehr schwer bestellbaren werden.

*) Es lebte hier in Parchim ein Bruder der Mutter, der Kaufmann Fanter, welcher mit dem Senator, Kommerzienrat J. H. L. Hoffmann verschwägert war. Beide Familien gehörten zu den angesehensten der Stadt. Die kaufmännische und industrielle Tätigkeit Hoffmanns wie Fanters fanden in Mecklenburg wie auch im Auslande verdiente Anerkennung, — Bemerken will ich hierbei sogleich, dass auch die Pastorin Reuter nach dem Tode ihres Mannes nach Parchim übersiedelte.

Als Johann Georg Reuter an die Spitze der städtischen Verwaltung trat, seufzte Mecklenburg unter dem Drucke des französischen Joches. Im November des Jahres 1806 waren die Franzosen in Mecklenburg eingerückt, und wenn dieselben auch schon am 1. Dezember 1807 das Land bis auf ein zur Küstenbewachung zurückgelassenes Bataillon wieder verließen, so hatte doch dieser kurze Aufenthalt hingereicht, das Land fast völlig zu erschöpfen. Waren doch allein in der ersten Hälfte des Jahres 1807 in Mecklenburg-Schwerin von den Franzosen requiriert worden nicht weniger als 2.120 Pferde, 1.200 Geschirre für Artillerie, 103.000 Paar Schuhe, 2.000 Paar Stiefel, 20.000 Zentner Weizen und Roggen, 18.000 Zentner Heu, 12.000 Ztr. Stroh, 8.000 Ztr. Hafer, 600.000 Pfund Rindfleisch, 75.000 Pinien Branntwein, 600 Futtersäcke 20.000 Ztr. Rindfleisch in lebendigen Ochsen nach Thorn und Danzig, 400.000 Rationen Zwieback nach Anklam, beliefen sich doch die im ganzen Lande vom 24. Oktober 1806 bis zum 10. Februar 1807 durch Requisitionen, Plünderungen, Einquartierungen etc. entstandenen Kosten und Schäden bereits auf 7.217.917 Thaler. Dass die Franzosen in Mecklenburg arg gehaust, gibt das 29. Bülletin der großen Armee d. d. Berlin, 9. November 1806 selbst zu, indem es kaltblütig referiert:

„Mecklenburg ist gleichmäßig von den französischen und den [fliehenden und die Neutralität Mecklenburgs nicht respektierenden] preußischen Truppen verwüstet. Die große Anzahl von Truppen, welche dies Gebiet in jeder Richtung und in Eilmärschen durchkreuzten, konnten ihren Unterhalt nur auf Unkosten dieser Gegend finden." —

Bei Gelegenheit der Invasion im Jahre 1806 hatte denn auch Stavenhagen die Schrecken des Krieges gründlich durch eine Plünderung kennen gelernt*), welche vermutlich von Teilen des über Friedland einrückenden Kavalleriekorps unter dem Großherzog von Berg vorgenommen wurde. Murats Kürassiere waren überhaupt wegen ihrer Räubereien in Mecklenburg berüchtigt. Ein Augenzeuge erzählt von ihnen, dass dieselben nach vollbrachtem Tagewerke das Geld scheffelweise auf den Scheunendielen ausgeschüttet hätten, um es nach dem Augenmaß unter sich zu teilen. — Nach dem Anschluss Mecklenburgs an den Rheinbund (22. März 1808) und dem Abzug der letzten Franzosen trat zwar bis 1810 ein ruhigerer Zustand für das Land ein, die Lage der Bevölkerung blieb aber trotzdem eine sehr traurige. Die Kontinentalsperre lähmte den Handel, an eine Ausfuhr der Produkte, auf welche ein Land wie Mecklenburg vor allem angewiesen, war nicht zu denken. Demgemäß waren die Getreidepreise je nach dem Bedürfnis im Lande selbst und dem Ertrag der Ernte im stetig wechselnden Steigen und Sinken begriffen. Im Mai 1808 hatte der Berliner Scheffel Roggen den für damalige Begriffe sehr hohen Preis von 3 Thalern 8 Gr. Gold, im August 1810 sank sein Preis auf 10 Gr. Cour. Kaffee und Zucker wurden, Dank der Kontinentalsperre, mit mehr als 1 Thaler Gold pro Pfund bezahlt; Leder war derartig im Preise gestiegen, dass man jetzt ein Paar Stiefel, für welches man sonst 5 Thaler gegeben, mit 7 Thalern und ein Paar Sohlen, sonst für 18 Gr. zuhaben, mit 1 Thlr. 4 Gr. bezahlen musste. Für die Elle Tuch, die man bisher für 3 Thlr. gekauft hatte, wurden jetzt 5 Thlr. verlangt. In den allgemeinen Jammer über Nahrungslosigkeit, Teuerung und schlechte Einnahmen mischte sich bald auch noch die Klage über freche Verletzung des Eigentums durch zahlreiche wohlorganisierte Gaunerbanden, welche die Verwirrung und Verwilderung des Krieges als Frucht gezeitigt hatte.

*) Vgl. Raabe. Mecklenb. Vaterlandskunde, Bd. I. pag. 395.

Die folgenden Jahre führten die französischen Truppen wieder nach Mecklenburg. Schon im August 1810 wurde längs der ganzen Grenze eine Douanenlinie gebildet, und im Jahre 1811 wurde das Land gar nicht mehr frei von ab- und zuziehenden Truppen, auch erreichten in diesem Jahre die Kontributionen die enorme Höhe von 1.800.000 Thalern. Als dann nach dem verhängnisvollen Feldzuge Napoleons gegen Russland, welcher auch von Mecklenburg das Leben von Hunderten seiner Söhne gefordert hatte, sich endlich Deutschland gegen die französische Gewaltherrschaft erheb und dieselbe siegreich bekämpfte, da galt es von Neuem Jahre hindurch große und schwere Opfer zu bringen. Der Friede kam, aber mit ihm kehrte der nationale Wohlstand noch nicht zurück, lange noch bluteten die Wunden, welche der Krieg dem Lande gebracht, und neue sollte ihm die nächstkommende Zeit schlagen. Auf den Notstand der Kriegs- und ersten Friedensjahre folgte im Anfang der zwanziger Jahre ein Zustand allgemeiner bitterer Armut, veranlasst durch das auf zwei überreiche Ernten folgende rapide Sinken der Getreidepreise, welches den mecklenburgischen Landwirt an den Rand des Verderbens führte und gleichzeitig die Existenz der von der landwirtschaftlichen Industrie abhängigen Städter bedrohte.

Ich habe diese Kalamitäten der mecklenburgischen Bevölkerung während und nach der Franzosenzeit etwas ausführlicher besprochen, einmal weil sie den Hintergrund der Jugendzeit unseres Dichters und eines seiner besten Werke bilden, andererseits, weil es nur so möglich war, meinen Lesern ein recht deutliches Bild von den Schwierigkeiten zu verschaffen, mit welchen der Bürgermeister Reuter während der ersten Hälfte seiner Amtsführung zu kämpfen hatte. Es bedurfte in der Tat der Einsicht und der Energie eines Reuters, um in solchen Zeitläuften das Steuer des kleinen Gemeindewesens ohne Havarie zu lenken, wie andererseits eine so unermüdliche Arbeitskraft wie die seine erforderlich war, um den verschiedenartigen Anforderungen seines Amtes gerecht zu werden. Zu einem wahrhaften Vater der Stadt aber, wie ich ihn genannt habe, machte ihn erst das warme Herz, welches in seiner Brust für das Wohl und Wehe seiner Mitbürger schlug und seinem ganzen Handeln die Richtung gab.

Der Tätigkeit Reuters im Einzelnen, aller seiner Verdienste um die Stadt Stavenhagen zu gedenken, kann hier nicht meine Aufgabe sein, auch würde dazu eine eigene Abhandlung erforderlich werden. Ich beschränke mich auf einzelnes besonders Charakteristisches, indem ich im Voraus bemerke, dass das Bild, welches Fritz Reuter von dem Wirken seines Vaters als städtischen Beamten entworfen hat*), von allen, die den letzteren gekannt, als völlig zutreffend bezeichnet wird. Es ist wahr, dass er „Triebfeder und Unruh in der Uhr des städtischen Lebens und zugleich ihr Pendel und Regulator" gewesen ist. „Eine unermüdliche Arbeitskraft", fährt der Sohn fort, „machte seine nie rastende Spekulation für seine nähere und weitere Umgebung fruchtbar; eine peinliche Ordnungsliebe in Lebensweise und Geschäftsführung hielt diesem Vorwärtsdrängen und Streben das glückliche Gleichgewicht. Was für das städtische Wohl gewonnen wurde, ward durch ihn gewonnen und erhalten, und zwar durch ihn allein und nach seinem Willen; denn dass sich bei ihm in dem langen Verlauf seines Willens und bei fast vollkommenem Mangel an anderer Einsicht und Hilfe ein starker Eigenwille ausprägen musste, war nicht mehr als natürlich.“**)

*) Schurr-Murr „Meine Vaterstadt Stavenhagen“. Schluss.
**) Beachtung verdient auch das Bild, welches Fritz Reuter in „Ut de Franzosentid“ Kap. 7. von dem Gange der städtischen Verwaltung in Stavenhagen entwirft, obgleich auch hier die an der ganzen Erzählung stark beteiligte dichterische Phantasie ein Übriges getan haben wird. — Unbedingt richtig ist jedoch, dass Stavenhagen damals wie heute nur einen rechtsgelehrten Bürgermeister und zwei nicht studierte Ratsherren besaß. Bis in das 6. oder 7. Dezennium des vorigen Jahrhunderts hatte sich die Stadt, welche bis 1762 „amtssässig“ d. h. der Jurisdiktion des dortigen Großherzoglichen Amtes unterworfen war, sogar mit einem Bürgermeister allein beholfen.


Einer Errungenschaft, welche die minder begüterten Bürger Stavenhagens der Umsicht und Willensfestigkeit ihres Bürgermeisters Reuter verdanken, will ich an dieser Stelle umso mehr gedenken, als dieselbe in den vaterstädtischen Schilderungen Fritz Reuters nicht erwähnt wird; sie wirft ein besonders Helles Licht auf Reuters treues, dem Wohle aller seiner Mitbürger zugewandtes Streben. Reuter gelang es nämlich das sogenannte Altbauhofsfeld vom Großherzoglichen Amte unter sehr günstigen Bedingungen für die Stadt zu erwerben und es dadurch zu ermöglichen, dass noch heute allen mit Grundbesitz nicht angesessenen Einwohnern von diesem Kartoffelcaveln zu sehr niedrigen festen Pachtsätzen angewiesen werden können. Aber nicht ohne schwere Kämpfe wurde dies erreicht, denn die Ackerbürger, welche sich hierdurch in ihrem Erwerbe geschädigt glaubten, opponierten Anfangs auf das Heftigste, mussten schließlich aber vor ihrem einsichtsvollen und energischen Stadtregenten die Waffen strecken. Bürgermeister Reuter hat sich durch die Gewinnung dieser Länderei ein bleibendes Verdienst um den sogenannten „kleinen Mann" in Stavenhagen erworben.

Aber auch indirekt, durch das gute Beispiel, welches er gab, hat Reuter für das Wohl der Stavenhägener gewirkt. Als in den vorerwähnten zwanziger Jahren die Kornpreise auf die niedrigsten Summen sanken*), ging er den verzagten Ackerbürgern seiner Stadt wie vielen nicht minder hoffnungslosen mecklenburgischen Gutsbesitzern mit der Einführung fremder Kulturen mutig voran. Außer dem Raps, der an vereinzelten Stellen gebaut wurde, kultivierte man damals nämlich in Mecklenburg noch keines der sogenannten Handelsgewächse. Reuter suchte nun letztere bei uns heimisch zu machen, und die Versuche, welche er in seinem eigenen umfänglichen und musterhaften landwirtschaftlichen Betriebe u. a. mit dem Anbau des Kümmels anstellte, fielen so günstig aus, dass der Kümmelbau in Stavenhagen und in vielen anderen Teilen des Landes bald bedeutende Dimensionen annahm und manchem Landwirte die Not der Zeit überwinden half. Nicht minder glückten Reuters Experimente mit dem Krapp**), der Weberkarde, der Runkelrübe etc. Diesen Gegenständen der landwirtschaftlichen Industrie Eingang verschafft zu haben, ist ein Verdienst, welches sich Reuter nicht nur um seine Mitbürger, sondern auch um das ganze Land erworben hat. Für die hilfsbedürftigen unter den ersteren, denen ihre Verhältnisse es verwehrten, die Versuche Reuters im Anbau neuer Kulturpflanzen oder überhaupt das von ihm gegebene Beispiel einer guten, rationellen Ackerbestellung nachzuahmen, sorgte unser Bürgermeister ferner in der Weise, dass er ihnen, zu Zeiten sogar in der Stärke von 120 Personen pro Tag, in seiner Wirtschaft Beschäftigung und Lebensunterhalt gewährte. So wurde in Stavenhagen vermieden, was in vielen anderen Städten des Landes unter diesen Zeitverhältnissen sich leider als unvermeidlich herausstellte, das Eintreten einer eigentlichen Armut.

*) Im Januar 1822 schwankte in Rostock der Marktpreis für Weizen zwischen 24 und 36 ßl N 2/3, (etwa 19 bis 29 sgr) und für Roggen zwischen 16 und 20 ßl. (ca. 13 bis 16 sgr.) pro großen Scheffel. Im Mai desselben Jahres galt zu Rostock der große Scheffel Gerste 8 ßl (noch nicht 6 ½ sgr.) und der gr. Scheffel Hafer 4 ßl (etwa 3 ½ sgr.).

**)Dem von Reuter produzierten Krapp wurde seiner Zeit von vielen mecklenburgischen Färbern der Vorzug vor dem französischen gegeben.


Die landwirtschaftlichen Erfahrungen aber, welche Reuter in seiner eigenen Praxis sammelte, suchte er für weitere Kreise fruchtbar zu machen, indem er darüber in populär gehaltenen, meistens im Kalender veröffentlichten Artikeln berichtete.

Endlich war es wiederum Reuter, welcher die erste bayrische Bierbrauerei in Mecklenburg errichtete. Sein Sohn Fritz bezeichnet dieselbe als eine Wohltat für das Volk*), und das mit Recht, denn in Ländern, wo wie bei uns der Stock nicht kelterbare Trauben trägt, ist allerdings ein kräftiges Bier zumal für die minder und mindestbegüterte, sonst auf das schale, gehaltlose, magenbeschwerende „Haustrinken" (Dünnbier) oder den noch viel schädlicheren Fuselschnaps angewiesene Bevölkerung eine wahre Wohltat, von seiner gewiss nicht gering anzuschlagenden Bedeutung als sozialem Bindemittel für alle Stände gar nicht zu reden.

*) S. Schurr-Murr „Meine Vaterstadt Stavenhagen“, Schluss. An dieser Stelle sagt Reuter, die Tatsache der Errichtung einer bayrischen Bierbrauerei in Stavenhagen anlangend, wörtlich: „mein Vater braute in Stavenhagen das erste bayrische Bier", und diese Worte haben C. Müller-Fürstenwalde in seinen durch die Sonntagsbeilage der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" 1874, Nr, 33. ff. veröffentlichten biographischen Mitteilungen über Fritz Reuter zu der Annahme geführt: „Der Vater des Dichters sei seines Zeichens ein Bierbrauer und Bierwirt (!) gewesen.“ Wie die Sache wirklich liegt, veranlasste Bürgermeister Reuter seinen später noch zu erwähnenden Neffen Ernst Reuter, als dieser in Berlin als Apothekergehilfe konditionierend die Praxis verlassen und sich ausschließlich dem Studium widmen wollte, vorzugsweise solche Kollegien zu hören, durch welche er Kenntnis des Brauprozesses erlangte, und verschaffte ihm auch Zutritt zu den ersten Brauereien in Berlin, Ernst Reuter kehrte — bin ich recht berichtet — im Sommer 1836 nach Stavenhagen zurück, und nach seinen Angaben baute nun der Onkel die Brauerei, welche er darauf dem Neffen in Pacht gab. Bürgermeister Reuter hat somit die Anregung und die Mittel zur Anlage dieser Brauerei gegeben, mit dem Braugeschäfte sich dagegen natürlich nie befasst. Fritz Reuters Äußerung: „Mein Vater braute in Stavenhagen das erste Bier“ darf darum auch nicht allzu wörtlich, richtiger nicht in einem anderen als dem durch den Zusammenhang gegebenen Sinne genommen werden; der alte Reuter war ebenso wenig ein Bierbrauer wie der Crivitzer Bürgermeister Schlüter, von dem unser Dichter in demselben Satze berichtet: „Bürgermeister Schlüter pflanzte Weinberge an“, ein Winzer war. Nicht minder verkehrt aber als die Müller'sche Annahme ist, wie sich ans Vorstehendem ergibt, die von Friedrich Friedrich in seiner Berichtigung der Angabe Müllers (Sonntagsbeilage der „Nordd. Allg Ztg.“ Nr. 37) aufgestellte Behauptung: „Reuters Vater hat mit dieser Brauerei nie etwas zu tun gehabt“. Die Entdeckung Müllers, dass Johann Georg Reuter eine Bierstube in Stavenhagen gehalten habe, welche seinem Sohne Fritz eine günstige Gelegenheit gab, die Typen der Stavenhagener Gesellschaft kennen zu lernen, wird alle Verwandten und Bekannten der Familie Reuter sicher höchlichst ergötzen, und halte ich den Abdruck der betreffenden Stelle aus der Müller'schen Skizze für nicht übel angebracht in der Biographie eines Humoristen, Müller schreibt: „Fritz Reuter war am 7. November 1810 zu Stavenhagen bei Demmin in Mecklenburg-Schwerin (!) geboren. Sein Vater war allda Bürgermeister, Bierbrauer und Ackerbürger, ein kenntnisreicher, geachteter Mann. In der gemütlichen Bierhalle, die im untern Erdgeschoss des weitläufigen Hauses lag, herrschte, besonders an den Markttagen, ein reger Verkehr. Hier trat mit großen Stulpenstiefeln, mit einem gewissen air noble der Mann vom Stande, der Mecklenburg’sche Edeling ein und sprach, je nach seinem Temperament und Stammbaum, in gutem Plattdeutsch einige oder mehrere Worte mit dem gestrengen, ober beliebten Herrn Bürgermeister. Hier saß der braungebrannte Inspektor neben dem stattlichen Bauer, die rundliche Wirtschaftsmamsell neben dem gesprächigen Hausierer, alle redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Hier stieg auch der Herr und die Fru Pastern ab. Es war ein lebendiges, naturgetreues Bild, welches sich hier Jahr ein, Jahr aus in ansprechenden Farben geräuschlos aufrollte. — So hatte Fritz Reuter von frühester Jugend an Gelegenheit, aus dieser väterlichen Arena Persönlichkeiten kennen zu lernen, die er später in seinen Schriften mit vielem Glück und großem Geschick verwenden konnte.“

Es gibt Menschen, die in ihrem Beglückungsstreben über die weiteren Kreise die ihnen nächstliegende engere Sphäre vergessen und in der Sorge um des Nachbars Haus das eigene verfallen lassen. Der alte Reuter gehörte nicht zu diesen schlechtorganisierten, ebenso weitsichtigen wie engherzigen Naturen; die Liebe zu seinen Mitbürgern ließ ihn das Wohl der eigenen Familie nicht aus den Augen verlieren, und die glücklichen Gesichter der ersteren hätten ihn nicht über die kummervollen Mienen der Hausgenossen zu trösten vermocht. Ein liebevoller Gatte und Vater, suchte er das Glück seiner Mitmenschen, für welches er strebte, vor allem auch dort zu begründen, wo er zunächst dazu berufen war: im eigenen Heim, im Schoße der eigenen Familie. Und gedenkt der Stavenhagener dankbaren Herzens der aufopfernden und segensreichen Tätigkeit seines Bürgermeisters Reuter, so klingt uns aus den Berichten von Kind und Pflegekind nicht minder voll und warm das Gefühl des Dankes für die bewiesene treue Liebe des Vaters entgegen.

Fassen wir das über Johann Georg Reuter Berichtete noch einmal zusammen, so stellt er sich uns als eine höchst würdige, Achtung gebietende und verdienende Persönlichkeit dar. Hoher sittlicher Ernst, herzliche Liebe zu seinen Mitmenschen, ein ungemein scharfer praktischer Verstand, fester Wille, eine nie ermattende Arbeitskraft und stetiger Hang zur Tätigkeit sind die hervorragenden Eigenschaften dieses von allen, welche mit ihm in nähere Verbindung traten, hochverehrten Mannes, dem der eigene Sohn in „Ut de Franzosentid" und „Meine Vaterstadt Stavenhagen" ein monumentum aere perennius errichtet hat.

War des alten Reuters ganzes Sinnen und Trachten, entsprechend der Sphäre und der Zeit, in welcher er zu wirken bestimmt war, vorzugsweise auf das Reale, das Praktische gerichtet, so vertrat die Mutter unseres Dichters das mehr dem Idealen zugewandte Element im Stavenhagener Bürgermeisterhausw; verkörperte Jener das männliche Prinzip in der erfreulichen Fülle seiner Kraft, aber auch nicht ganz ohne die Rauheit desselben, so repräsentierte diese das ewig Weibliche in seiner ganzen lieblichen Milde und Zartheit. Johanna Luise Sophia Reuter, Tochter des Bürgermeisters Oelpcke zu Tribsees und dort im Jahr 1790 geboren, war eine gemütvolle, geistreiche und gebildete Frau. Trotz ihres schweren Leidens — eine ernste Krankheit während der ersten Zeit ihrer Ehe hatte eine Lähmung zur Folge gehabt, welche sie an ihren Stuhl, häufig sogar an das Bett fesselte — hörte man sie niemals klagen, eine völlige Ergebung in ihr Geschick hatte ihrer Seele eine Heiterkeit zurückgebracht, welche für Jedermann den Umgang mit ihr zu einem wohltuenden machte. Gerne saßen selbst gelehrte Männer wie der Amtshauptmann Weber in den Abendstunden an ihrem Stuhle und fanden in ihrem Geplauder einen reichen Genuss, war doch Frau Johanna Reuter eine literarisch wohl gebildete Dame, die sich gerne in die Werke der Heroen unserer Literatur vertiefte und sogar, falls nämlich ihr Sohn Fritz nicht ein anderes Buch für den Marc Aurel angesehen hat*), der Philosophie nicht fremd blieb. Dabei war sie eine gute Hausfrau, welche von ihrem Krankenstuhle aus die ganze Wirtschaft lenkte. Die Executive überließ sie für gewöhnlich ihrer lebenslustigen Schwester Christiane („Tanten Schäning"), einer Dame voll Mutterwitz und Spruchweisheit, und nur von Zeit zu Zeit hielt sie es für geboten, selbst einmal überall zum Rechten zu sehen. Zu diesem Zwecke trug sie dann der bei seinem Vorgesetzten mit Recht beliebte Stadtdiener Luth durch die Wohnungsräume. Was ferner es im Hause zu nähen und zu schneidern gab, selbst das Tuchzeug für den männlichen Nachwuchs, wurde von ihrer Hand beschafft, und noch auf dem Friedländer Gymnasium trugen die Reuter'schen Knaben von ihr gefertigte Röcke und Mützen. — Johann Georg Reuter war mit dieser seltenen Frau, welche Deutschland den großen, vielleicht den größten Humoristen schenken sollte, in Stavenhagen selbst bekannt geworden, als letztere dort bei dem von Fritz Reuter mehrfach erwähnten Gastwirt Toll, dem ersten des Städtchens, die Wirtschaft erlernte, und im Jahre 1809, also bald nach seiner Ernennung zum Bürgermeister, stand er mit ihr am Traualtare. Diese Ehe zweier sicher nicht gewöhnlicher Menschen, welche nach Schillers herrlicher Verheißung von der Verbindung des Strengen mit dem Zarten, des Starken mit dem Milden eine glückliche werden musste und wirklich auch wurde, ward am 7. November 1810 durch die Geburt eines Knaben, die Geburt unseres Dichters gesegnet.

„Döfft bün ick ok“, beginnt Fritz Reuter seine „Franzosentid", „un heww ok Pädings hatt: vir Stück. Un wenn min vir Pädings noch lewten un güngen mit mi äwer de Strat, denn würden de Lüd, still stahn un seggen: „kikt, wat sünd dat för dägte Kirls! Nah so'n Ort kann Ein up Stun'ns lang' säuken; dat sünd noch Pädings!“ Und es waren in der Tat „dägte“ (tüchtige) Männer, welche am 12. November 1810 den Reuterschen Knaben über die Taufe hoben. Da schritt zunächst von dem im Eingange dieses Abschnittes genannten Amtshause ein stattlicher alter Herr dem Rathause zu, das war der Amtshauptmann Johann Joachim Heinrich Weber „un hadd en saubern blagen Rock an un 'ne gellrige Hos' un lange blankgewichste Stäweln, un was sin Gesicht ok von Pocken terreten, un hadd de Düwel ok sin Arwten dorup döscht, dat hei utsach, as hadd hei mit dat Gesicht up en Ruhrstaul seten; up sin breide Stirn stunn schreben, un ut sin blagen Ogen kün’n Ji lesen: „kein Minschenfurcht, woll äwer Gottesfurcht!“ Mit ihm aber traten heran zu dem Täufling der Pächter Otto Ludwig Roggenbau zu Scharpzow*) und der Amtsmitarbeiter Johann Christian Koch, und sie gaben ihm die Namen Heinrich, Ludwig, Christian; seinen Hauptvornamen aber Friedrich oder Fritz brachte ihm erst der vierte Pate, Postmeister Christian Friedrich Toll, der Amtsvorgänger des in „Schurr-Murr“ und „Ut mine Festungstid“ geschilderten „Postcommissarius" Stürmer. Ob einer dieser Männer es geahnt, dass er hier Zeugnis ablegte für einen bedeutenden Mann der Zukunft, einen der gefeiertsten unter Deutschlands Dichtern? Sicherlich nicht, und am wenigsten wohl der körperlich und geistig hervorragendste von ihnen, der originelle Amtshauptmann Weber, welcher selbst dereinst eine der köstlichsten Figuren für eines der besten Werke dieses Dichters abgeben sollte.

*) Vgl. „Ut de Franzosentid“, Kap. 1 , wo Reuter seiner unter dem Namen Roggenbom als eines sehr vermögenden Mannes gedenkt.

Über die früheste Jugendzeit, welche der junge Weltbürger mit Namen Heinrich Ludwig Christian Friedrich Reuter im Mutterarme verlebte, wird uns so gut wie gar nichts berichtet, und dürfen wir daraus wohl den Schluss ziehen, dass dieselbe einen in jeder Beziehung normalen Verlauf genommen. Die erste uns überlieferte Kindheitsanekdote weist uns auf das Frühjahr von 1812, wo die gegen Russland marschierenden französischen Truppen Mecklenburg durchzogen, also auf das zweite Lebensjahr des Dichters zurück. Viel und nicht ohne Besorgnis wurde damals im Reuter'schen Hause von dem Anrücken der nur zu wohl bekannten schlimmen Gäste gesprochen. So oft nun unser Fritz seine Eltern von der drohenden Gefahr, den bösen Franzosen reden hörte, tröstete er, auf sein Spielzeug, eine kleine Holzflinte, deutend, die Mutter mit den Worten: „Lass die Franzosen nur kommen! Ich schieß' sie alle tot mit meiner Puh-Schieß!" Sein Wunsch sollte bald erfüllt werden, nicht lange mehr währte es, da durchhallte französischer Trommelschlag die Straßen Stemhagens. „Mutter, was ist das?", fragte der neugierige Knabe. — „Fritz, jetzt kommen die Franzosen", war die Antwort, und: „Mutter, soll ich nicht hinter Dein Bette kriechen?", die unmittelbar folgende, ängstliche Frage des jugendlichen Franzosenfressers. Fritz Reuter hat diese Geschichte später noch recht oft hören und sich viel Neckerei darum gefallen lassen müssen.

Während dieser Kriegsstürme verlebte unser Reuter die erste Jugendzeit unter den liebevollen Augen der Mutter. Sie, die ihm das unendlich reiche Gemüt, den bis an seinen Lebensabend bei ihm ausharrenden kindlich-frohen Sinn geschenkt, sie war es auch, die dem Knaben die Hände zum ersten Gebete faltete und in sein Herz den Keim jener tiefwurzelnden, wahren Religiosität pflanzte, die uns in seinen Dichtungen erquickt und erhebt.

Doch nicht nur um die Bildung des Gemütes ihres Söhnleins, sondern auch um diejenige des Verstandes machte sich Frau Reuter verdient, indem sie ihm die Kunst des Lesens und Schreibens, die wichtigste für einen Mann unseres Jahrhunderts, erschloss, ihn spielend einführte in die Geheimnisse des ABC und ihm die Hand lenkte, als er den ersten Buchstaben zu schreiben versuchte.

Es liegt hier die Vermutung nahe, dass die Mutter den Knaben, welchen sie erzog, gleichzeitig verzog und aus dem Zöglinge der Mutter mit der Zeit auch ein Muttersöhnchen machte. Nahe allerdings liegt nach täglich zu machenden Erfahrungen diese Vermutung, trifft aber nicht zu bei der Frau Bürgermeister, welche weit davon entfernt war ihr Kind zu verhätscheln und, je lieber sie den Knaben hatte, desto unnachsichtiger seine kleinen Sünden strafte. Nicht selten musste er „als büßender Fakir" in der Ecke stehen und zuweilen wurden auch noch durchgreifendere Korrektionsmittel in Anwendung gebracht. So züchtigte, wie sich ein Jugendgenosse Reuters erinnert, die Mutter einmal von ihrem Lehnstuhle aus mit einem Rohrstocke unseren Fritz, während das Stubenmädchen den jungen Delinquenten vor ihr auf den Armen hielt. Wegen der Umständlichkeit dieses Strafverfahrens wurden jedoch für gewöhnlich die schwereren Verbrechen vor das Forum des Vaters verwiesen, der, auch in solchen häuslichen Angelegenheiten ein strenger Richter, stets für die nötige Exekution ein kleines unscheinbares Instrument bereit hatte, welches sich für gewöhnlich auf dem Pfeifenstande hinter den Pfeifen verbarg, bei besonderen Gelegenheiten aber sich unnötiger Weise abscheulich sichtbar machte und die hassenswerte Gestalt eines rock- und buckelsausklopfenden Rohrstöckchens annahm."*)

*) Vgl. Schurr-Murr. 6. Aufl. pag. 149.

Soweit der Bürgermeister Reuter sich an der Erziehung seines Knaben beteiligen konnte, suchte er ihn von früh auf zu einem gesunden, tüchtigen Mann zu erziehen. Alles, was Körper und Geist verzärtelt, war ihm ein Gräuel, Alles dagegen, was jene stärkt und erfrischt, willkommen. Darum predigte er auch stets gegen Kuchen und Süßigkeiten und verbot den Kindern den Genuss derselben, darum sah er es andererseits gar nicht ungern, wenn der flügge gewordene Knabe mit seinem treuen Jugendgenossen Carl Nahmmacher*), dem Sohne des Stavenhägener Altbauhofpächters, in munterem Spiele die schöne Umgebung seiner Vaterstadt durchstreifte. Wurden aber solche Exkursionen heimlich, ohne die väterliche Sanktion unternommen und folgten die Knaben dabei zu sehr ihrem kindlichen Entdeckungstriebe, indem sie sogenannte Richtsteige ausfindig zu machen suchten und in Gräben und Moore gerieten, dann, ja dann machte der junge Verbrecher, an welchem Stiefel und Beinkleid zu Verrätern wurden, von neuem die Bekanntschaft des unheimlichen Instrumentes auf dem Pfeifentischchen, der Vermahnungen und Strafen seitens der Mutter, welche die Sache vom Standpunkte der Kleiderordnung nicht weniger streng nahm, gar nicht zu gedenken.

*) Carl Nahmmacher starb als Kaufmann zu Güstrow im Jahre 1870.

Nach den gleichen Grundsätzen wie das eigene Kind erzog das Reuter'sche Ehepaar die Knaben Ernst*)und August**) Reuter, Söhne des Rektors Reuter zu Dömitz, eines Bruders unseres Bürgermeisters, welche der letztere nach dem frühen Tode des Vaters (1812 oder 1813) zu sich nahm. Auf diese beiden Pfleglinge übertrugen Reuter und Frau die ganze Liebe, welche sie ihrem zweiten Sohne zugewandt haben würden, wäre ihnen derselbe nicht frühzeitig wieder durch den Tod entrissen worden.***)

**) Ernst Reuter wurde Apotheker und lernte beim Dr. Grischow in Stavenhagen, von welchem letzteren später noch berichtet werden soll. Von seinem Lehrherrn mit dem Zeugnisse eines guten Gehilfen, entlassen, erhielt er darauf Kondition in einer Berliner Apotheke und hörte in seinen freien Stunden Kollegien. Wie derselbe sich dann auf Anregung des Pflegevaters dem Brauereigeschäft zuwandte und Leiter und Pächter der Brauerei in Stavenhagen wurde, ist bereits an anderer Stelle mitgeteilt worden. Nach dem Tode des Bürgermeisters Reuter (1845) ging die Brauerei in seinen Besitz über und blieb es, bis er 1856 starb. Ernst heiratete Fritz Reuters jüngere Schwester Sophie, welche auch nach dem Ableben ihres Mannes ihren Wohnsitz in Stavenhagen bis heute behalten hat. — Übrigens erhielt Ernst den ersten Unterricht bei seinem Onkel, den, Pastor Reuter in Jabel, und kam dann erst in das Stavenhagener Bürgermeisterhaus.

*) Jetzt Pastor zu Tessin,
**) Dieser jüngere Sohn war am 6. Januar 1812 geboren und erhielt die Namen Friedrich Ludwig August Ernst. Er starb am 27. November 1813, Fritz Reuter erinnert sich in „Meine Vaterstadt Stavenhagen“ (Schurr-Murr, 6 Auflage pag. 157) noch der Grabstätte dieses Bruders.


Das Dolce far niente unseres jungen Wildfanges: Fritz Reuter, welches durch den, wie wir wissen, spielend betriebenen Unterricht der Mutter nicht zu sehr geschmälert wurde, sollte zu Ende gehen, als der Knabe das sechste Lebensjahr erreicht hatte. Zur Bekanntschaft mit den Anfangsgründen aller Wissenschaft hatte ihm die Mutter verholfen, jetzt sollte sich Fritz an regelmäßigen Schulbesuch und regelmäßige Tätigkeit gewöhnen, und obgleich er die bisherige Unterrichtsmethode für die beste, weil am wenigsten beschwerliche, hielt und nur mit Widerstreben der herrlichen Kindheitsvakanz entsagte, musste er sich doch eines schönen Tages mit seiner älteren Schwester Lisette zur Schule der Mamsell Schmidt auf den Weg machen. Diese Mamsell Schmidt, eine liebe, gute und in Fritzens Augen damals sogar „sehr schöne" Dame, welche häufiger im Reuter'schen Hause verkehrte, hatte eine Töchterschule für gebildete Stände, in welcher nun der kleine Reuter einzig und allein das männliche Element vertreten sollte. Eine frühzeitige Neigung für das schöne Geschlecht haben diese Unterrichtsstunden bei ihm nicht zur Folge gehabt, im Gegenteil, sie erfüllten den Knaben mit Furcht und Grauen vor der Frauenwelt, welche ihm hier durch ihre jugendlichen Repräsentantinnen auf jede Weise das Leben verbitterte. „Jede Zwischenstunde", schreibt der Dichter in seinen Jugenderinnerungen *), „hatte ich mit den sich erschließenden Blüten des schönen Geschlechtes die heftigsten Kämpfe auszufechten, und halte das Lied: „Als ich noch im Flügelkleide in die Mädchenschule ging . . ." für ein sehr dummes Lied, und den albernen lateinischen Hexameter: „Est bellum bellum, bellis bellare puellis" mag Derjenige für schön erklären, der's nicht durchgemacht hat; mir bleibe man damit vom Leibe, denn ich weiß, wie mir diese kleinen gebildeten Megären zugesetzt haben. Eule unter Krähen zu sein, ist ein schreckliches Los." Nur zwei der jungen Mädchen, Minchen Schmidt, die Tochter des Pastors Schmidt, und Auguste Sparmann, des Dr. med. Sparmann Tochter, nahmen des Dichters damals noch sehr schwächlichen Mannesmut unter ihren Schutz.

*) Schurr-Murr pag. 210

Persönlicher Mut war überhaupt in jener Zeit bei unserem Reuter eine nicht sonderlich stark vertretene Tugend, und ahnte man in dem Knaben von damals noch nicht den späteren „forschen" Studenten, der das „Mit Männern sich geschlagen" gar wohl beherziget hatte. Kam es beim Spielen oder sonst wie zu einem Streit zwischen den Bürgermeisterkindern und anderen Vertretern der Stavenhagener Jugend, so entfaltete unser Fritz zwar anfangs eine gewaltige Kraft der Rede, wenn ihm aber diese nicht den Sieg verschaffte und die Fäuste den Ausschlag geben sollten, so nahm er schleunigst Reißaus. „Kratzfußaus" war daher auch eine Zeitlang sein Spitzname. Zu Reuters Entschuldigung muss jedoch hervorgehoben werden, dass hier nicht „der Starke zurückwich", dass vielmehr der Dichter das Prädikat „knendlich" (zart, schwächlich, schmächtig), welches er sich selbst einmal für diese Lebenszeit beilegt *), mit vollem Rechte verdiente. Der junge Reuter war zwar nicht gerade kurz gewachsen, aber von sehr zartem Körperbau und das fast weiße Haar hing schlaff um das blasse Gesicht.

*) Schurr-Murr pag. 224

Die Unterweisung, welche Fritz in der Töchterschule der Mamsell Schmidt empfing, genügte aber dem Bürgermeister Reuter nur beziehungsweise, so dass er sich veranlasst fühlte, für einzelne Fächer noch besondere Lehrkräfte zu gewinnen. Er nahm dieselben, wo er sie fand. So erhielt Anstellung als Lehrer der französischen Konversation der Schneider Krenz, welcher als Geselle sieben Jahre in Paris gewesen war. Sein Unterrichtskursus sollte jedoch ein baldiges Ende erreichen. Als nämlich der biedere Deutsch-Franzose, welcher sich überdies auf seinen Wanderungen allerlei sonderbare, speziell in Bezug auf Frauen nicht gerade vorteilhafte, Anschauungen angeeignet hatte, seinen Zöglingen ein Parfait: Je suis été einpaukte, und dieses grammatikalische Verbrechen gelegentlich eines Besuches der Knaben bei ihrem Onkel, dem Pastor Reuter in Jabel, durch letzteren entdeckt wurde, da erlitt die Stellung dieses Pädagogen eine bedenkliche Erschütterung und — bientôt Monsieur Krenz était-il aussi été. An seine Stelle trat zu längerem und erfolgreicherem Wirken der allen Freunden der Reuter'schen Muse aus: „Ut de Franzosentid" bekannte Uhrmacher Droz, dessen Namen die Stavenhäger Bevölkerung in ihrem Akklimatisierungsbestreben zu einem „Droi" umgewandelt hatte. Pierre Humbert*) Droz war zu Locle im Kanton Neufchatel geboren und stammte aus der bekannten, dort ansässigen Uhrmacherfamilie; der berühmte Automatenverfertiger Jaques Droz war sein naher Verwandter. Vor seinem Vorgänger Krenz hatte Herr „Droz" nicht nur die französische Nationalität, sondern auch eine bewegte, romantische Vergangenheit voraus, welche ihm von vornherein das Interesse seiner Zöglinge gewinnen musste. Was konnte dieser Lehrmeister nicht Alles erzählen!

*) So werden die Vornamen im Stavenhagener Kirchenbuch angegeben. Fritz Reuter in Schurr-Murr pag. 212 nennt ihn Jean Jaques Humbert.

Frühzeitig schon ein leidenschaftlicher Jäger wurde er später Soldat in schweizerischen Diensten. In dieser Eigenschaft geriet er eines Tages mit dem Fechtmeister Augerau in Streit, welcher ihm, dem den Freiheits- und Gleichheits-Ideen der ersten französischen Revolution durchaus Abholden, die rote Jakobinermütze octroyren wollte. Von Worten ging man bald zu Tätlichkeiten über, und Herr „Droi" traktierte den Fechtmeister unter dem Beistande seiner Kameraden ganz jämmerlich mit einem Scheite Holz. Augerau, welcher am anderen Morgen den Söhnen eines reichen Kaufmanns Stunden geben sollte, genierte sich zu erscheinen, entschuldigte sich mit dringenden Geschäften und bat den Kaufmann endlich um ein Reitpferd. Seine Bitte wurde gewährt, Augerau ritt von dannen, um — als Marschall von Frankreich und Herzog von Castiglione dereinst in die Schweiz zurückzukehren. „Droi", welcher den Fechtmeister zum Marschall geschlagen hatte, glaubte nicht recht an die Erkenntlichkeit des Herzogs für die ihm wider Willen erwiesene Wohltat und machte sich bei seinem Anrücken aus dem Staube. Er desertierte ins Bernische und von da nach Mümpelgart, wo er eine Zeitlang sein Leben als Wildschütz fristete, bis ihn die mit diesem Metier notwendig verbundenen Unannehmlichkeiten bestimmten, bei den Neufranken einzutreten, in deren Reihen er mehre Siege mit erfechten sollte. Bald jedoch trennte er sich wieder von diesen und kam mit Überwindung von allerlei Gefahren nach Berlin, wo er bei einer dem Prinzen Louis Ferdinand sehr nahestehenden Dame als Kammerdiener angestellt wurde. Nach der Schlacht bei Jena und dem Heldentode des Prinzen bei Saalfeld wurde Droz entlassen, ohne jedoch seinen rückständigen Gehalt ausgezahlt zu erhalten, und kam darauf nach Stavenhagen, wo er sich mit einer Uhrmacherwitwe verheiratete*) und auf ein unstätes, nicht immer makelloses Leben ein redliches Philistertum folgen ließ.

Bei einem solchen Lehrer, der den Knaben bald eine Jagdgeschichte (im ursprünglichen Sinne des Wortes), bald eine Kriegsepisode und dann wieder Bilder aus seinem Schweizer Heimatlande zum Besten gab, war es ein Vergnügen Französisch zu treiben, und die Konversationsstunden, welche von Herrn „Droi" ebenso wie von seinem Vorgänger bei günstiger Witterung im Freien ambulando erteilt wurden, gehörten damals zu den angenehmsten Lektionen unseres Dichters, und wenn sich Fritz Reuter später beim Abiturientenexamen im Französischen als „nicht genügend" erwies, so haben das seine Friedländer und Parchimer Lehrer zu verantworten, Herr „Droi" ist daran unschuldig.**)

*) Vgl. die Mitteilungen Fritz Reuters in Schurr-Murr pag. 212-215. denen ich in Vorstehendem ziemlich genau gefolgt bin.
**) Droz starb am 16. Oktober 1625 in einem Alter von 66 Jahren.


Das war der Unterricht, welcher den Reuter'schen Knaben in der französischen Sprache zu Teil wurde. Für das Lateinische wurde der Herr Rektor Schäfer requiriert, ein erschrecklich vielseitiger Dilettant: Blumist, Musiker, Optiker, Papparbeiter, Verfasser eines Reimlexikons etc. etc.*), welcher, da er als geborener Sachse nur des Hochdeutschen mächtig war, zu den ausnehmend Gebildeten der Stadt gezählt wurde und jedenfalls einer der ergötzlichsten unter den öffentlichen Charakteren Stemhagens war. Ihm sekundierten der stud. Med. J. H. Caspar, ein Sohn des Kaufmanns Caspar, und Fritz Sparmann, der Bruder der uns schon bekannten Beschützerin unseres Dichters. Ersterer, welcher als hochgeachteter Medizinalrat im Jahre 1863 zu Bützow verstarb, benutzte wohl während der akademischen Ferien die Reuter'schen Knaben, um seine lateinischen Kenntnisse aufzufrischen, und Christian Friedrich Sparmann, welcher seinen sich auch auf Geschichte erstreckenden Unterricht am Rezeptiertische in der Apotheke erteilte, folgte dabei vermutlich dem alten Satze: docendo discimus, denn er selbst bereitete sich damals privatim auf das Studium der Medizin vor, nach dessen Beendigung er sich als praktischer Arzt in Stavenhagen niederließ und daselbst 1859 als Medizinalrat starb.**) — Fritz Reuter bekennt selbst, dass er sich gegen alle diese Angriffe auf die „natürliche feste Stellung seiner Unbildung" tapfer gewehrt habe, und auf manchen Punkten war dieser Widerstand denn auch ein erfolgreicher, wie in Schurr-Murr pag. 216 nachzulesen ist.

*) Ich verweise auf Schurr-Murr pag. 197.
**) Über den Unterricht bei dem Handlungsbeflissenen Rutenick, dessen Fritz Reuter gedenkt, sind mir keine Mitteillungen geworden. Derselbe, an welchem anscheinend nur Fritz teilnahm, hatte vermutlich das Rechnen zum Gegenstande und war jedenfalls von sehr kurzer Dauer.


Nachdem Fritz Reuter die Schule der Mamsell Schmidt*) verlassen, trat für ihn eine Art von „Interregnum" ein, welches ihm jedoch keineswegs als eine „schreckliche Zeit" erscheinen wollte, konnte er doch jetzt seinem Hange zur Schwärmerei — durch Feld und Wald wieder ungestört nachgehen. Anders aber dachte der Vater, dem Untätigkeit, weil seinem Wesen vollständig fremd, aufs Äußerste verhasst war, und der wohl einsah, dass dieses lucidum intervallum sehr geeignet wäre, den Knaben wieder um alle seine bisherigen wissenschaftlichen Errungenschaften zu bringen. Diesem nach Kräften vorzubeugen traktierte er, obwohl erschöpft von den Anstrengungen des Tages, Abends mit den Kindern, d. h. mit Fritz, August und dem jetzt schon in Stavenhagen befindlichen Ernst, denen sich auch Lisette zugesellt haben mag, die Anfangsgründe der Geographie nach Johann Baptist Homanns berühmtem Atlas, jener dem Geschlechte von heute meistens nur noch durch Riehls „Kulturstudien" bekannten Kartensammlung, von der sich zufällig ein Exemplar im Besitze von Reuters Amtskollegen, des Ratsherrn Susemihl befand.

Mehr aber als ein bloßes Buch steuerte Reuters zweiter Amtsgenosse zu diesem Interimsunterrichte bei, sich selbst, seine ganze liebe, drollige Persönlichkeit mit dem vollen Schatze ihres Wissens, allen ihren Kunstfertigkeiten, ihrer unendlichen Gutmütigkeit und ihrem ewigen Humor bot „Ratsherr Hers'" zur Erziehung der Knaben dar, und diese Offerte wurde von seinem Vorgesetzten und Freunde dankend angenommen.

*) „Mamsell Schmidt“, welcher das Verdienst zukommt unserem Dichter zuerst die segenbringenden Fesseln einer regelmäßigen Schule angelegt zu haben, verheiratete sich, soviel ich in Erfahrung gebracht, später nach Goldberg, ihre weiteren Lebensschicksale sind mir unbekannt.

Der Ratsherr („Onkel“) Herse ist eine Persönlichkeit, um deren Bekanntschaft man Fritz Reuter beneiden kann, und darf nach dem Inspektor Bräsig für die köstlichste Figur in Reuters Werken gelten, hat vor ersterem jedoch noch das voraus, dass sie in fast allen Zügen getreu dem Leben nachgezeichnet ist und „Fleisch und Blut" im eigentlichsten Sinne besitzt. Nimmt man noch hinzu, dass Herses Verkehr mit dem Knaben Reuter entschieden von bedeutendem Einflusse auf dessen spätere Entwicklung zum Humoristen gewesen ist, so wird es, hoffe ich, gerechtfertigt erscheinen, sich mit diesem originellen Manne unter Benutzung von noch anderen Quellen als den Reuter'schen Schriften hier etwas spezieller zu beschäftigen.

Herse, der im Jahre 1773, also wenige Jahre vor dem Bürgermeister Reuter, geboren sein wird, war von Hause aus Kaufmann und hatte als Handlungsgehilfe in einer Apotheke — irrt mein Gewährsmann nicht, so war es die Hirschapotheke in Rostock — Anstellung erhalten, um das nach der Sitte der Zeit mit derselben verbundene Materialgeschäft zu betreiben. Dann und wann wurde „Musch Herse", — „Musch", so lautete ja die damals übliche Titulatur für Leute seines Standes — auch zum Pflasterstreichen u. dgl. gebraucht, fand an dieser Beschäftigung Gefallen, lernte privatim soviel Latein, dass er die Pharmakopöe lesen konnte, und arbeitete sich so nach und nach in selbständiges Rezeptieren hinein. So vorbereitet, übernahm er im Jahre 1797 oder 98, nach dem Tode des Apothekers Grischow und während der Minorennität von dessen Sohn*) pachtweise die Apotheke in Stavenhagen, deren, bei der damaligen Richtung der Heilkunst sehr reichlichen, Erträge ihn nach einigen Jahren in den Stand setzten, sich als wohlhabender Mann vom Geschäfte zurückzuziehen.

*) Der von Fritz Reuter mehrfach und namentlich in Schurr-Murr pag. 290 als Entdecker des Stavenhäger Gesundbrunnens erwähnte Dr. Grischow ist dieser damals noch minorenne Sohn, welcher sich später besonders durch seine Analysen der Doberaner, Parchimer und Goldberger Stahlquelle den Ruf eines tüchtigen Chemikers erwarb, auch als Botaniker wissenschaftlichen Namen besaß und 1830 bei Gelegenheit des Jubiläums der Augsburgischen Konfession von der philosophischen Fakultät in Rostock zum Doktor honoris causa promoviert wurde.

Bedenkt man Herses autodidaktischen Bildungsgang, sein Emporkommen durch die eigene Kraft, so wird man es nicht gerade verwunderlich finden, dass sich bei ihm ein starkes Selbstbewusstsein, eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten herausgebildet hatte, welche noch gekräftigt werden mussten, als derselbe im Anfange des Jahres 1810 von Rat und Bürgerausschuss dem Herzoge Friedrich Franz I. für das Amt eines Ratsherrn in Vorschlag gebracht, am 19. März 1810 darauf allerhöchst wirklich zum Stavenhagener Ratsmann ernannt und am 9. April desselben Jahres in das Amt eingeführt wurde. Über seine Fähigkeiten und die Stellung, welche er unter seinen Mitbürgern einnahm, heißt es in dem vom Bürgermeister Reuter verfassten Berichte des Magistrats S. 6.14. Februar 1814, betr. die nachgesuchte Bestätigung der Wahl des Herse wörtlich: „Derselbe ist seit 12 Jahren höchsten Ortes bestätigter Pächter der hiesigen Apotheke, ist ein durchaus rechtschaffener, fleißiger, ordentlicher und von seinen Mitbürgern geachteter Mann, schreibt nicht allein eine sehr gute Hand, sondern ist auch fähig seine Gedanken gehörig und mit Ordnung zu Papier zu bringen. Derselbe hat ferner sein gutes Brot."*)

Um sich nun noch wenigstens den Anstrich eines Rechtsgelehrten zu geben, machte der neugeschaffene Ratsherr das Notariatsexamen, welches damals wohl leichter als jetzt zu bestehen war, und unterschrieb sich, stolz auf diese neue Errungenschaft, wo er nur immer konnte, Hersé qua notarius publicus immatriculatus. Hersé**), der Accent auf dem Schluss-e fehlte niemals, nicht weil die Franzosen damals die Welt beherrschten, dazu war der Mitregent von Stavenhagen ein zu guter Patriot, sondern, wie ich vermute, in Rücksicht auf eine Sprecheigentümlichkeit des mecklenburgischen Plattdeutschen, welche darin besteht, dass er das schwache e am Ende der Wörter entweder gänzlich wegwirft oder, besonders nach Kehllauten, durch i ersetzt. (Man sagt im Plattdeutschen z. B. stets Frehs' statt Frehse, und Lemcke muss sich entweder eine Verkürzung in Lemck' oder eine Umwandlung in Lemcki gefallen lassen.) Um seinen Namen vor einer solchen Amputation zu schützen, schrieb eben der Herr Ratsherr, der sich beiläufig auch gerne statt Ratsherr „Herr Senator" nennen ließ, seinen Namen konsequent mit einem e und einem accent, aiga darauf. In den Stavenhägener Ratsakten hat der gute Mecklenburger denn auch stets diesen den Stavenhägenern seiner Zeit mächtig imponierenden Accent und ebenso ist es in den Kirchenbüchern.

*) Aus den Stavenhagener Ratsakten.
**) Den Notarius public. wie den Accent anlangend, lässt Fritz Reuter den „Ratsherrn Hers“ in „Ut de Franzosentid“, Cap. 19. zu dem Müller Voß, für welchen er mit Hilfe eines Schreibfehlers die Methode entdeckt, in kürzester Zeit Millionär zu werden, sagen: „Hier steiht min Sigel unner – seihn Sei, hier! – en Hirsestengel, wil ik „Herse“ heit; ik hadd ok en Fallgatter dorup steken laten kunnt, will dat up Französch „hersé“ heit, äwer ik bün nich för de Franzosen – un hier drüm rüm steiht mine Befugnis: not. pub. im. caes. . . .“ Weiter erklärt „Unkel Hers“ in Schurr-Murr pag. 153, als er dem Knaben Fritz das Amtsgebäude als frühere Ritterburg darstellt: „. . . . dor was de Togbrügg un dor bin Swinkaben, dor was dat Fallgatter, hersé up Französch, wo ik minen Namen von heww . . .“ Von einem Notariat und der Bedeutung desselben spricht Rathsherr Herse außerdem noch in „Ut de Franzosentid“ Kap. 18, wo er dem Müller Voß sein Petschaft zeigt mit der Frage: „Känen Sei woll latinsche Schrift verkihrt lesen?“ – De oll Möller antwurt’t, hei künn s’ nich grad noch verkihrt lesen. – „Na 't schadt ok nich. Hir steiht: Not. Pub. Im. Caes., dat heit, ik bün Notarius publicus, un Im. Caes. heit so vel, ik kann in jeden Prozess üm Rat fragt warden.“ – Alles Beläge dafür, dass auch Fritz Reuter diese Accent-Schwäche, sowie das stolze Notariatsbewusstsein seines „Onkels“ wohl kannte.


Ratsherr „Hersé", von Natur mit einer sehr vollständigen Persönlichkeit ausgestattet, wusste sich ein Air zu geben, welches gewöhnlichen Leuten und Kindern imponierte, und imponieren, geehrt, bewundert werden, war für ihn Lebensbedingung. Wo man ihn erst als Stern zweiter Größe oder gar noch niedrigeren Grades betrachtete, fühlte er sich nicht behaglich: dem Kreise, in welchem er erschien, wollte er auch der leuchtende Mittelpunkt sein. Überall da aber, wo man ihm diese Stellung einräumte, lächelte seiner Umgebung die Sonne seines originellen Humors, und ringsumher wurden die wohltuenden Strahlen seiner unendlichen Gutmütigkeit entsandt. Denn gutmütig, grundgutmütig war Onkel Herse, das beweist namentlich auch seine große Hinneigung zu Kindern. Die Reuter'schen speziell hatte er, der selbst kinderlos war, ganz in sein Herz geschlossen, und jene dankten ihm damit, dass sie ihn als „Onkel" adoptierten und andächtig „seiner Weisheit Knie" umsaßen. Wie der Stavenhäger Bürger zu ihm als dem gar gelehrten Manne voll Respekt emporblickte und ihn nicht nur in rechtlichen und städtischen, sondern, mit Rücksicht auf seine pharmazeutische Vergangenheit, auch in medizinischen Fragen, bei Unpässlichkeiten als sein zuverlässiges Orakel betrachtete, welches ihm denn auch bald dieses, bald jenes Medikament als „remedium contra dolores omnia" mit vielem Pathos empfahl, so sahen die Reuter'schen Kinder in ihm den Inbegriff alles Wissens und Könnens, ihr lebendes Konversationslexikon, welches niemals die Auskunft schuldig blieb, ihre höchste Autorität. Ließ ihn hierbei sein in der Tat vielseitiges Wissen im Stich, so half er sich mit seiner reichen und kühnen Phantasie, welche ihn u. a. aus einem im Anfange des 18. Jahrhunderts erbauten Schloss, dem Amtshause, eine alte Ritterburg machen ließ.*) Dass er es in diesem Streben für Aufrechterhaltung seiner Autorität mit fremden Sprachen und fremden Wörtern nicht gerade genau nahm, bewerft das oben angeführte „remedium", zeigt die nachfolgende, für Herse und seine Stellung gegenüber den „Bürgermeisterkindern" überhaupt charakteristische Anekdote, welche uns Fritz Reuter zwar nicht aufbewahrt hat, die ich jedoch, wie das Meiste in diesen Mitteilungen, Jemandem verdanke, der dem würdevollen Ratsherrn seiner Zeit ebenso nahe stand als unser Dichter.

*) Vgl. Schurr-Murr pag. 153. Das in Rede stehende Amtshaus, neben der Stadt auf einer Anhöhe gelegen, war im Anfange des vorigen Jahrhunderts als Witwensitz für die Herzogin Magdalene Sibylle von Mecklenburg-Güstrow erbaut worden, welche dasselbe jedoch nie bezogen hat.

Einer der Reuter'schen Knaben hatte irgendwoher eine Armbrust mit verdecktem Lauf zum Geschenke erhalten. Dieses Schießinstrument erregte durch seine von der des gewöhnlichen „Flitzbogens" auffällig abweichende Beschaffenheit die höchste Verwunderung der Kinder, und sofort ging's zu dem Alles kennenden Onkel Herse. Letzterer, welcher wohl schon einmal von einer Balliste gehört oder gelesen hatte, besah das Ding mit gelehrter Kennermine, wandte es hin und her und sagte endlich in pathetischem Tone: „Die Waffe müsst Ihr hoch halten, Kinder, das ist eine Palaestra!“ „Wir hörten staunend mit offenem Munde zu“, fährt mein Gewährsmann fort, „und liefen alsbald zu Carl Nahmmacher: „Kik mal, Korl, wat hebben wi hier! Dat is 'ne Palästra! Ja, kannst dat glöwen, Unkel Hers' hett't seggt!" — „Unkel Hers' hett't seggt!", diente den Reuter'schen Knaben noch lange als Bannformel für jedweden Zweifel, der gegen ihre nach Kinderart häufig sehr kühnen Behauptungen auftauchte, Herse blieb ihre erste Autorität, bis sie herangewachsen waren und noch gelehrtere Männer als ihn kennen lernten.

Dieser interessante, joviale und zum Kinderfreund geschaffene Mann übernahm nun während des vorgedachten „Interregnums" den Unterricht im Schönschreiben, Rechnen, Zeichnen und in der Orthographie. Was den Schreibunterricht anlangt, so hatte Ratsherr Herse, der selbst bekanntlich eine „sehr gute“ Hand schrieb, schon für die erste, wie wir wissen, von der Mutter erteilte Unterweisung in dieser Kunst die Vorschriften geliefert und so in Gemeinschaft mit ihr die Knaben bis zur Fraktur oder, wie die Stavenhäger sagten, „Flaktur“ gebracht. Als er ihnen auch letztere einüben wollte, intervenierte der Vater, welcher dergleichen Schriftkünste für völlig überflüssig hielt. Unter diesen Umständen beschränkte sich Herse in den jetzigen Unterrichtsstunden denn darauf, das zu befestigen, wozu er früher den Grund gelegt, und zwar geschah dies rücksichtlich Fritzens jedenfalls mit dem besten Erfolge. Die männlich feste und dabei doch zierliche Handschrift, welche Reuters Manuskripte vor denen vieler seiner Kollegen auszeichnet, hat er seinem Onkel Herse zu danken. Noch günstiger waren die Resultate, welche der auch im Zeichnen und Malen bewanderte und von seinen Leistungen in diesen Künsten nicht wenig erbaute Ratsherr mit dem Zeichenunterricht erzielte, da Fritz ein beachtenswertes, vom Vater auf den Sohn vererbtes Talent zum Zeichnen und Malen besaß, welches ihn später sogar einmal den Plan entwerfen ließ, sich ganz der Malerei zu widmen. Bei dem Knaben die Neigung zu dieser Kunst, welche dem Manne dereinst in trüben Lebenstagen eine erheiternde Genossin werden sollte, geweckt zu haben, durfte Ratsherr Herse wiederum als sein Werk bezeichnen. — Auch der Unterricht im Rechnen war unserem Dichter, wie er selbst zugesteht, von Nutzen, wenn auch nicht von einem so auffallend großen wie derjenige in den beiden eben erwähnten Gegenständen. Die liebste von allen Stunden aber war den Kindern die orthographische, da Onkel Herse in den bitteren Kaffee der Orthographie soviel Zucker warf, dass er auch dem nicht daran gewöhnten Kindergaumen höchst lieblich schmecken musste." Er diktierte einen selbsterfundenen Roman mit allen Ingredienzien eines solchen, die Liebe allein ausgenommen, die ihm für das kindliche Alter seiner Zöglinge wohl noch nicht recht passend erschien. „Waldmann" nannte sich dieser Roman nach seinem Helden und fing mit einem Bären-Abenteuer an. Ein Bär verfolgt hartnäckig einen Jäger, welcher sich endlich auf ganz unwahrscheinliche Weise rettet und darauf unseren „Waldmann" als nacktes Kind in seiner Jagdtasche findet. Mönche und Nonnen geben sich nun wechselweise Mühe den Knaben sehr unglücklich zu machen, was ihnen jedoch nicht gelingt, weil Waldmann von einem Eremiten die Kunst erlernt hat, sich unsichtbar zu machen. — Diese leidige Kunst des Unsichtbarmachens! Sie ließ nicht nur zeitweilig den Helden der Geschichte, sondern auch für immer den ganzen Roman verschwinden und brachte so Fritz Reuter und uns um dieses einzige dichterische Erzeugnis des Ratsherrn Herse. Der Hergang war folgender: Als die Rede auf das Unsichtbarmachen kam, stellte Fritz die für seine Jahre durchaus natürliche Frage, wie man das denn angefangen habe, und Onkel Herse, nie verlegen um eine Antwort, entgegnete, die Leute hätten zu diesem Zwecke Bilsenkraut geraucht. Die Frage war, wie gesagt, ganz natürlich, ebenso natürlich war aber auch das Verlangen des Knaben, nun selbst einmal einen praktischen Versuch anzustellen mit diesem Zaubermittel, welches in Unmassen auf dem alten Bauhof zu finden war. Fritz beschloss, die Wirkung des wundertätigen Krautes an dem alten Kuhknechte Friedrich zu erproben, der früher auf der Gielower Mühle gedient hatte und mit dem sich die Knaben, namentlich wegen seiner Erzählungen vom alten Fritz, viel zu schaffen machten.*) Er stopfte ihm also eine Pfeife mit Bilsenkraut, welches er durch eine dünne Lage von des Vaters „Justus" verdeckte, und setzte sich dem arglos Rauchenden gegenüber in der Hoffnung ihn nun bald verschwinden zu sehen. Statt der erwarteten Wirkung erfolgte jedoch ein kurzes, wiederholtes Ausspucken, dann ein Herumschnüffeln in dem Rauche, und plötzlich packte der alte Friedrich den jungen Zauberer beim Rockkragen mit den Worten: „Verdammte Slüngel, wat hest Du mi för Düwelstüg in de Pip stoppt?“ Fritz beichtete seine Schuld, der Vater kam darüber zu, erfuhr, dass Onkel Herses „Waldmann“ die Veranlassung des Experimentes, und ersuchte nach der Lektüre jenes Romans, des einzigen, den er in seinem Leben gelesen hat und den er der Mutter gegenüber für das dümmste Zeug von der Welt erklärte, den Herrn Verfasser um Unterdrückung des Schlusses. So ist es gekommen, dass „Waldmann. Ein Roman vom Ratsherrn Herse in Stavenhagen" ein Fragment blieb.**)

*) Dieser Kuhknecht Friedrich ist das Original zu dem gleichnamigen Müllerknecht in „Ut de Franzosentid“, war jedoch bedeutend älter, als ihn Fritz Reuter dort darstellt.
**) Vgl. Schurr-Murr pag. 219 ff.


Fritz Reuter erzählt in Schurr-Murr (pag. 233) auch noch, dass Herse, der natürlich auch ein großer Verehrer des alten Jahn war, selbst jedoch seiner Körperfülle wegen das Turnen nur theoretisch kannte oder doch zu kennen glaubte, ihm und seinen Vettern auch eine Turnstunde, und zwar an einer Leiter auf dem Hofe erteilte, wobei Fritz, das „knendliche Kind", zu Fall kam, glücklicher Weise jedoch auf den weichen Kuhdünger, Will sich nun auch Einer, der dabei gewesen sein soll, dieses Vorfalles nicht mehr entsinnen, so wird mir doch von derselben Seite das ganze Unternehmen, bei dem der Ratsherr etwas lehren wollte, was er selbst nicht recht verstand, als so echt „Hersesch" bezeichnet, dass mein Berichterstatter gerne an eine Schwäche seines Gedächtnisses glauben will. Jedenfalls sind dergleichen Übungen einmal und nicht wieder angestellt worden. Fritz Reuter lässt Tante Herse mittels ihres ungemein empfindlichen Geruchsorganes Spuren jenes Turnunterrichtes entdecken und ihrem Ehegemahl ob solcher, obendrein gefährlicher Narrheiten eine Strafpredigt halten, und hätte der Bürgermeister Reuter etwas davon erfahren, er wäre sicherlich nicht weniger entschieden gegen eine Fortsetzung der sogenannten Turnstunden aufgetreten, obschon er sonst, wie uns bekannt, kein Gegner von körperlicher Bewegung war und es darum auch gerne gestattete, wenn Onkel Herse den Knaben auf eine andere Manier hierzu verhalf, indem er z. B. botanische Exkursionen (bei vielleicht etwas freier Behandlung der lateinischen Namen für die Stavenhagener Flora) mit ihnen machte und zur Gielower Benz, einem Walde, fuhr, oder im Herbste sie hinausführte, um die von seiner eigenen Hand mit allerlei Medusen-Gesichtern scheußlich schön bemalten Papierdrachen steigen zu lassen oder endlich im Winter ihr Schlittschuhlaufen auf dem Ivenacker See leitete. Zuweilen ging Herse auch mit den Knaben August und Fritz auf die Jagd, wobei August das größere Gewehr, Fritz als der schwächere dagegen die Vogelflinte trug, legte hierbei dem Gesange der Waldvögel einen menschlichen Text unter und erschloss so in seiner Weise dem künftigen Dichter des „Hanne Nüte" das Geheimnis der Vogelsprache. Zu gewaltigen Jägern vor dem Herrn aber bildete Herse seine jugendlichen Begleiter nicht heran, obgleich er sie auch im Laden und Abschießen eines Gewehres unterwies, denn er war selbst kein Nimrod.

Auch der Bürgermeister Reuter selbst sorgte dafür, dass sich seine Knaben in der frischen Luft herumtummeln konnten, indem er die Erholung jener mit seinen Geschäften als Landwirt vereinte. Hatte er nämlich seine streng geordneten Tagesbeschäftigungen*) absolviert, so ging oder ritt er Nachmittags mit den Knaben zu Felde. Hohes Entzücken rief es hierbei hervor, wenn der Vater einen seiner „Söhne" beauftragte den Braunen zu satteln, denn dann ritten die Knaben, bis der Vater fertig war, abwechselnd die nach dem Schloss führende Allee auf und ab. Der Beglückteste aber von ihnen war derjenige, welcher auf dem Spaziergange nach Hause geschickt wurde, um den Braunen nach einem Stelldichein, etwa der Ziegelei, zu bringen. Die übrigen mussten dann per pedes oder auf den Beipferden mit den Knechten zurückkehren.

*) Ich kann es mir nicht versagen an dieser Stelle die Tagesordnung mitzuteilen, welche Bürgermeister Reuter sich entworfen hatte und an der er fast unveränderlich festhielt: Morgens zwischen 4 und 5 Uhr stand er auf und schrieb, wie seine Kinder sich ausdrückten, bis 6 Uhr Akten, d. h besorgte seine schriftlichen Arbeiten als Richter und Kommunalbeamter. Dann kamen die Knechte und die als Statthalter fungierenden Tagelöhner und nahmen seine landwirtschaftlichen Anordnungen für den Tag entgegen. Bis die Gerichtstermine oder die Rats- und Bürgerausschusssitzungen angingen, schrieb Reuter darauf weiter. War es möglich, so ging oder ritt er vor Tisch noch einmal das Feld durch. Während des Mittagsmahles kamen dann die Knechte, welche für den Nachmittag Befehle zu erhalten hatten. Nach Tisch gönnte sich Reuter etwa eine Stunde Ruhe und schrieb darauf wieder, bis er mit den Knaben von neuem die Felder besuchte. Von dort kehrte er gegen 7 Uhr zurück, um welche Zeit zu Abend gegessen wurde, und ging um 9 Uhr zu Bett. Diese Tagesordnung erlitt nur während des Winters hin und wieder kleine, durch die Jahreszeit veranlasste Abänderungen.

Da wir hier einmal bei den „Leibesübungen" stehen, so müssen wir auch der Studien Reuters in jener Kunst gedenken, welche nach den Versicherungen eines mir vorliegenden vortrefflichen „Handbuches für die äußere Bildung“ aus dem Jahre 1791 dem Körper Adresse, Gewandtheit und Anstand gibt, unseren Stellungen das Holprige, Eckige, Linkische und Verdrehte nimmt, unsere Bewegungen symmetrisch, rund, geschmeidig und reizend macht."

In dieser hochgepriesenen Kunst des Tanzens hat es Fritz Reuter niemals zu sehenswerten Leistungen gebracht, und macht er hierfür sein Kindermädchen „Marieken Wienken" verantwortlich. Musizierte nämlich an Jahrmarktstagen der Stadtmusikus Grützmacher aus Malchin mit seiner Kapelle in den Straßen der Stadt, so benutzten Marieken Wienken und ihre Dienstgenossinnen die Gelegenheit, auf dem Kornboden des Rathauses zwischen Hafer- und Erbsenhaufen einen bal champêtre zu arrangieren. In Ermangelung eines Besseren musste Fritz bei diesem improvisierten Tanzvergnügen als Kavalier dienen und wurde von seiner Dame in die Geheimnisse des Beinsatzes eingeführt, die heilsamen Fesseln des Taktes verstand aber diese Lehrmeisterin ihm nicht anzulegen, und so, meint der Dichter, ist es denn gekommen, dass er trotz des ihm später wiederholt erteilten Unterrichtes „in genialer Taktlosigkeit und in allerlei fessellosen Sprüngen das Leben durchtanzt habe."*) Soweit die Ansicht des Dichters. Nach meiner Meinung ist an diesen Misserfolgen auf dem Gebiete Terpsichorens weniger Marieken Wienken, als Reuters wahrscheinlich sehr geringe musikalische Befähigung schuldig.

*) Schurr-Mur pag. 189.

Dass übrigens der Stavenhäger Tanzlehrer, dem Fritz nebst fernen Vettern nach langem Protestieren des Vaters anvertrauet ward, ein Herr Stengel, geeignet war, den Knaben, auch wenn er mehr musikalisches Talent besessen, zu einem eleganten Tänzer zu machen und seinen Stellungen „das Holprigte, Eckige, Linkische und Verdrehte" zu nehmen, muss man nach den Berichten seines Schülers in „Schurr-Murr" stark in Zweifel ziehen.*) Der Tanzkursus des Herrn Stengel endete mit einem Scholarenball im Toll'schen Saale, an dem auch die Reuter'schen Kinder: Lisette, Fritz, Ernst und August unter Leitung der Tante Christiane teilnehmen durften. Bürgermeister Reuter, der schon den Nutzen der Tanzstunden nicht einsehen konnte, vermochte in dem Besuch eines Balles noch viel weniger einen Gewinn für seine Kinder zu erblicken und, als er nach langen Verhandlungen endlich seine Einwilligung gab, geschah es nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass die jugendlichen Ballgäste mit ihrer Ehrendame präzise 10 Uhr in das Rathaus zurückkehrten. Tante Christiane versprach es, diese Bedingung zu erfüllen, hatte bei diesem Gelöbnis aber ihrer Autorität doch zu viel zugetraut, denn als die Uhr 10 schlug, waren die Bürgermeisterkinder nicht zum Heimmarsch zu sammeln, soviel Energie und Klugheit auch die Führerin bei dieser Aufgabe entfalten mochte. Vater Reuter, der nun schon eine Stunde seiner gewöhnlichen Nachtruhe geopfert hatte, ging verdrießlich in seinem Zimmer auf und ab, und, als die Ballgesellschaft ihren Urlaub immer weiter über die Zeit des Zapfenstreiches ausdehnen zu wollen schien, beauftragte er um 10 ½ Uhr den alten Nachtwächter Hirsch, der gerade am Hause vorüberging, mit der Rückführung seiner Hausgenossen.

*) Schurr-Murr pag. 239 ff. wo Fritz Reuter sagt, Stengels Füße wären zum Lehmkneten in einer Ziegelei geschaffen gewesen und, wenn er tempête getanzt, hätte das Rathaus in seinen Grundfesten gebebt.

Letzterer entledigte sich denn auch unter Mitwirkung seines Kollegen Netzband in bester Form dieses Auftrages, und — allgemeine Verstimmung war die Folge dieses Ballfestes. Tante Christiane namentlich erklärte, sie würde nie wieder zu Ball gehen; durch Nachtwächter vom Balle geholt zu werden, wäre ihr denn doch zu stark.

Die gute, lebenslustige Dame nahm es mit diesem Schwure nicht so genau; ein Maskenball, welcher bald darauf die ganze Stavenhägener Gesellschaft von Neuem zu Toll's führte, ließ sie ihrem Vorsatze ungetreu werden, und abermals nach langen Debatten zog Tante Christiane mit den vier Reuter'schen Kindern zu Maskenball. Fritz war als Schornsteinfeger maskiert und sollte auf Tante „Schänings“ ausdrückliches Geheiß sich auch als solcher gerieren, d. h. von seiner Leiter aus an den Wänden kratzen und fegen, auf den Ofen steigen und endlich auch an Personen hinaufklettern. So geschickt auch Fritz die beiden ersten Aufgaben löste, mit dem letzten Experimente wollte es ihm durchaus nicht glücken, weil sich nämlich keiner der Ballgäste zu demselben hergeben wollte. Endlich fand Tante Christiane in einer jüdischen Handelsfrau Levin eine mitleidige Seele, und der Knabe stieg an dem Rücken der als Königin der Nacht verkleideten Frau empor. Oben angelangt, fühlte er einen Durst nach Taten, er griff also zu seinem Besen und bearbeitete den Sternenschleier der Königin. Alles wäre gut abgegangen, wäre nicht unglücklicher Weise dieser Schleier nicht an natürlichem Haar, sondern an einer Perücke befestigt gewesen. So aber löste sich mit dem Schleier das Geheimnis des üppigen Haarwuchses. Frau Levin, die das Schwinden ihres Hauptschmuckes fühlte, eilte sich den Blicken der Versammlung zu entziehen, Fritz stürzte infolge dessen mit seiner Leiter kopfüber in den Saal, die ganze Gesellschaft drängte sich um ihn, und zwei kräftige Ohrfeigen verrieten dem jungen Schwarzkünstler den Zorn seiner Tante über solche Ungeschicklichkeit. Fritz, höchlichst entrüstet über dieses öffentliche Strafverfahren, zog sich mit Karl Nahmmacher, der ebenfalls mit den Händen seiner Mutter in etwas unsanfte Berührung gekommen war, unter einen tiefverhängten Teetisch des Schenkzimmers zurück, wo die beiden schwergekränkten Freunde bald in den festesten Schlummer versanken. Vergebens suchte inzwischen Tante Christiane ihren Neffen, und in nicht geringerer Aufregung befand sich die Familie Nahmmacher. Endlich wurde dem Bürgermeister Reuter Nachricht von dem Vorfalle gebracht, und dieser arrangierte nun unter Mitwirkung der eigenen wie der Nahmmacher'schen Knechte und Tagelöhner einen nächtlichen Streifzug durch Stavenhagen, der natürlich erfolglos blieb. Endlich sollte es dem Stadtdiener Luth und dem Reuter'schen Kuhknecht Friedrich vergönnt sein, die beiden Deserteure unter dem bewussten Tische sanft ruhend zu entdecken, zu Füßen ihres Onkels Herse und des Postmeisters Stürmer, welche, nachdem sich „der Schwarm verlaufen" hatte, noch als Ritter Tassilo von Hohenzollern und Kuno von Kyburg die Humpen schwangen und „eine treffliche Tafelrunde" hielten. — Fritz Reuter hat diese beiden Ballepisoden in Schurr-Murr pag. 249 ff. und 255 ff. wie fast alle dort mitgeteilten Jugendgeschichten bedeutend dichterisch ausgeschmückt erzählt.

Begleiten wir nun den Dichter von dem Herrschergebiete Terpsichoren's bis an das Reich Euterpen's, ich sage bis an das Reich, denn hineingekommen ist er niemals, da es ihm zum Eintritte in das Heiligtum dieser Muse an der nötigen Legitimation durchaus fehlte. Fritz Reuterbesaß einmal kein Talent für die Musik, und so musste denn das gute Beispiel, welches ihm Tante Christiane, Onkel Herse und die anderen musikalischen Größen Stemhagens gaben, ohne jeden Erfolg bleiben. Die gute Tante, welche mit Modulierung ihrer Stimme sogar eine kleine dramatische Gesangsscene zur Zither vortrug,*) brach denn auch über Fritz, wie über Ernst und Lisette Reuter ohne Bedenken den Stab und prophezeite, dass aus ihnen in dieser Richtung nie etwas werden würde, August Reuter dagegen stellte sie ein glänzendes Prognostikon als zukünftigem Sänger. Diese Prophezeihung ist in Bezug auf die drei erstgenannten zur Wahrheit geworden, nicht erfüllt aber hat sich Tante Christianens glänzende Hoffnung rücksichtlich des letzteren; August Reuter ist, wie wir wissen, kein Opernsänger geworden. An Unterweisung in der Musik wie an leuchtenden Vorbildern gebrach es, wie wir sehen, unserm Fritz keineswegs, namentlich zeichnete sich ja auch der sonst so einflussreiche Ratsherr Herse in der Musik aus. Ältere Stavenhagener erinnern sich noch sehr wohl, dass er die Geige spielte und — man denke sich diesen köstlichen Jubal! — zur Harfe sang, und nach Fritz Reuters Bericht in Schurr-Murr*) und „Ut de Franzosentid“ hatte er sogar ein kleines Dilettanten-Orchester um sich versammelt, welches vorzugsweise Variationen über das schöne Lied „Gestern Abend war Vetter Michel da“ zum Vortrage brachte. Wer unter so günstigen Leitgestirnen nicht zum Musiker wurde, dem musste überhaupt die Disposition dazu fehlen.

Befreundeter als mit der Musik wurde Fritz mit der dramatischen Kunst, obschon ihm diese hier unter sehr desolaten Umständen entgegentrat. Nach verschiedenen anderen Schauspielertruppen erschien endlich der uns schon bekannte Tanzmeister Stengel, um mit seiner Frau und Schwägerin auf dem Rathaussaale Vorstellungen im Gebiete des Rührspieles, des Lustspieles, der Operette und des Balletts zu geben. In jedem Genre waren die Leistungen schwach, selbst im Ballett, welches Stengel zu seiner eigenen Empfehlung kultivierte, am schwächsten aber in der Operette, welche daher auch bald vom Repertoire verschwand. So schlecht, wie gesagt, diese theatralischen Produktionen waren, die Stavenhägener kamen doch ins Theater und, da die Mehrzahl von ihnen in solchen Dingen noch ein kindlich zufriedenes Gemüt besaß, so waren sie ebenso erbauet von den Stengel'schen Darstellungen wie die Reuter'schen Kinder, denen der Bürgermeister nach langem Sträuben und wiederholten Vorträgen über die Schaubühne als Anstalt zur Erziehung des Menschengeschlechtes von Seiten des Onkels Herse und der Tante Christiane den Besuch der „Kemedie" gestattete.

*) pag. 232. In Stavenhagen wollen sich übrigens ältere Einwohner an dieses Orchester, welches Fritz Reuter in „Ut de Franzosentid“ wiederholt konzertieren lässt, nicht mehr erinnern.

Das erste Stück, welches Fritz Reuter zu sehen bekam, war Kotzebues „Der arme Poet", und schildert uns der Dichter den mächtigen Eindruck, welchen diese erste Schauspielvorstellung auf seine Kinderseele machte, selbst in Schurr-Murr*) mit folgenden Worten: „Es sind jetzt über vierzig Jahre her, als ich den „armen Poeten" als erste Darstellung gesehen habe, und als dies Stück vor zwei Jahren hier gegeben wurde, stand mir noch alles so deutlich vor der Seele, dass ich im Notfalle hätte soufflieren können. Aber was machte dies — im Ganzen so unschuldige — Stück auch für einen Eindruck auf mich! — Ich habe geweint, als wenn mir Vater und Mutter gestorben wäre, Tante Christiane weinte neben mir, Onkel Herse hinter mir und ab und an quoll durch seine Rührung der Ausruf durch: „En olles dämliches Stück!“ Und als Stengel als armer Poet den Verlust der Gattin auf offenem Meere erzählte und die Arme ausstreckte und der Verlorenen ein letztes Lebewohl nachrief, da weinte ganz Stavenhagen, 1ster und 2ter Platz (Kinder bezahlen die Hälfte) und bei mir wurde die Rührung so bedenklich, dass Tante Christiane sich in ihrer eigenen unterbrach und mir einen Rippenstoß versetzte: „Jung’, lat doch dat Hulen sin, Du rohrst jo as en Roggenwulf!“ — Aber wie spielte Stengel heut Abend auch schön? wie hungerte und wimmerte er in seiner armen Poeteneigenschaft auf den Brettern umher! — Da habe ich den ersten richtigen Begriff von den Nöten und Kümmernissen eines Poeten eingesogen und bin dadurch von der dichterischen Laufbahn so abgeschreckt worden, dass ich erst dann ihren dornenvollen Pfad zu betreten mich entschloss, als ich alles Mögliche versucht hatte: Klutentreten und Dungfahren, Schulmeisterieren und Kinderschlagen und zuletzt gar noch städtische Angelegenheiten. — — Als Beschwichtigungsmittel und Dämpfer setzte Stengel der allgemein eingerissenen Rührung am heutigen Abende „Das Landhaus an der Heerstraße" auf. — Hätte er wohl etwas Schöneres wählen können? — Für mich gewiss nicht. — Was habe ich über die gestörte Gemütlichkeit des Alten gelacht! Und wie machte Stengel das köstlich! Wie natürlich schimpfte er sich mit der Waschfrau herum! — Seine angeborene Grobheit, die er durch Übung in den Tanzstunden mehr ausgebildet hatte, kam ihm hier trefflich zu statten, und er überließ sich ihrem Zug um so mehr, als er improvisieren musste, weil er stets schlecht memorierte. Das Publikum lachte wie toll' und der 2te Platz, der zur Strafe für das nicht vollständig gezahlte Entree stehen musste, benutzte seine Stellung, um durch Trampeln mit den Beinen seine Freude auszudrücken, und zwar so, dass unten auf dem Flure der Kalk vom Boden siel und Luth hinaufkam, um Ruhe zu gebieten. Aber Luth! — ach, was war Luth in diesem Augenblicke? Auch der tüchtigste Polizeidiener ist nicht im Stande, die Ausbrüche der Heiterkeit einer Stadt zu arretieren, — Luth lachte und trampelte mit. — — Das war ein prächtiger Abend! Er hat lange in meinem Kopfe herumgespukt, und um dies besser zu können, warf er vor Allem erst die Aufmerksamkeit in den Schulstunden aus demselben und darauf folgte das Bisschen Wissen nach."

Mit diesen Schlussworten hat uns der Dichter selbst die Brücke geschlagen, welche uns wieder hinüberführt von dem heiteren Gebiete der Kunst in das der ernsten Wissenschaft. Von Fritz Reuters Beschäftigung mit den schönen Künsten wenden wir uns von Neuem zu seinen gelehrten Studien, zu den Schulstunden.

Wie das süße Nichts- oder Wenigtun der Kindheit sollte auch das beglückende „Interregnum" der Knabenzeit sein Ende erreichen. Onkel Herses redliche Bemühungen mochten zwar einer geistigen Verwilderung vorbeugen, sie mochten auch in vielfacher Beziehung wirklich anregend für seine Zöglinge sein und ihnen zu mancherlei Fertigkeiten verhelfen, aber auf das Endziel, welches sich der Vater bei der Erziehung seiner Knaben im Elternhause gesteckt hatte, auf die Vorbereitung für den Besuch eines Gymnasiums wirkten sie nicht hin. Dieses Ziel zu erreichen, musste ein anderer Weg eingeschlagen werden, und der Bürgermeister Reuter tat dies, indem er im Jahre 1819 den cand. theol. Simonis, einen Predigersohn aus Lüssow bei Güstrow, als Hauslehrer engagierte. Jetzt kam systematische Ordnung in den Unterricht, an welchem auch noch ein anderes Stavenhägener Kind, der als Kaufmann zu Güstrow verstorbene Bernhard Salomon und, natürlich mit Ausschluss der Stunden in den alten Sprachen, auch, Lisette Reuter teilnahmen. Von den Unterrichtsgegenständen fesselte nunmehr vorzugsweise die Geographie das Interesse der Kinder, da Simonis viele Reisen gemacht hatte und folglich manches zu erzählen wusste.

Nach einiger Zeit schied dieser Lehrer wieder aus dem Reuter'schen Hause, und an seine Stelle trat der Kandidat Schneider aus Crivitz. Unter seiner Leitung lasen die Knaben den Charles XII., worauf sich Fritz Reuter später auf dem Friedländer Gymnasium seinen Mitschülern gegenüber nicht wenig zu Gute tat und dadurch die Veranlassung zu dem Beinamen „Charles douze" gab, der ihm auch während seiner Universitätszeit treu blieb. Aber auch Schneider sollte die Knaben noch nicht bis zur Reife für die gelehrte Schule bringen, er wurde als Pastor nach Garwitz berufen und musste seine Stellung in Stavenhagen aufgeben.*) Ihm folgte als letzter Privatlehrer der Kandidat Scheibel aus Penzlin, welcher später im Penzliner Armenhause verstarb.

*) Schneider kam später als Pastor von Garwitz nach Herzberg und starb im Jahre 1873 als pastor emeritus in Parchim.

Die Knaben waren trotz des Interessanten, welches einzelne dieser Lektionen ihnen darboten, herzlich froh, wenn der tägliche Unterricht beendet war und sie wenig zu arbeiten hatten, obgleich ihnen dann keineswegs immer freie Zeit fürs Spiel gegönnt wurde. Denn, so lange die Jahreszeit für Feldarbeiten günstig war, richtete der Vater oft nach Schluss des Unterrichtes die Frage an seine Knaben: „Was habt Ihr zu tun?“, und war es wenig, so hieß es: „Ihr könnt morgen früh 5 Uhr aufstehen und bis halb acht Uhr Alles fertig machen! Nehmt die Hacken und geht zum Kümmelhacken, oder sammelt Steine von dem gemoddeten (gemoderten) Acker, oder forkt nach beim Einfahren, oder geht zu Heu etc.“ Unter Führung einer verständigen Frau oder eines zuverlässigen Mannes zogen dann die Knaben zu Felde, arbeiteten dort bis Dunkelwerden und erhielten in dieser anhaltenden Beschäftigung in frischer Lust vollen Ersatz für die früheren regelmäßigen Nachmittagsexkursionen unter der Leitung des Vaters. Auch während der Sommerferien verwendete Bürgermeister Reuter seine jugendlichen Hausgenossen in dieser Weise, er ließ jene Vakanz in die Zeit der Kümmelernte legen, und waren die Knaben dann oft von früh bis spät in Tätigkeit.

Es war nicht der Gewinn an Arbeitskraft, welcher den alten Reuter zu diesen Anordnungen bestimmte — dieser war selbstverständlich ein sehr geringer — als vielmehr der Wunsch, seine Kinder körperlich und damit geistig gesund und frisch zu erhalten, wie ferner das Bestreben jeden Angehörigen des Hauses nach seinem Vermögen für das Haus wirken zu lassen und ihn so zu lehren, sich als Teil eines Ganzen zu fühlen. Je früher letzteres Gefühl in uns wachgerufen wird, desto mehr werden wir dereinst in der Welt nützen; das wusste der alte Reuter wohl, und zu nützlichen, tüchtigen Männern wollte er seine Knaben heranwachsen sehen.

Dieser Unterricht durch Hauslehrer, der für unsern Fritz so viele Beschwerlichkeiten, so viele unangenehme Stunden bringen sollte, wurde in einer ganz eigenen, dem Knaben die schönsten Hoffnungen auf neue Annehmlichkeit erweckenden Art eingeleitet. Der Amtshauptmann Weber, jener gelehrte alte Herr voll drolliger Einfälle, voll aber auch von kleinen Pedanterien und mit komischen Angewohnheiten gesegnet*), hatte eines seiner Kleinode, eine Schnupftabaksdose von gelbem Buchsbaum-Maser, welche ihm ein verstorbener Freund geschenkt, auf einem Spaziergange durch die Felder verloren. Fritz war Begleiter seines Paten auf dieser Tour, wusste daher genau, welchen Weg er genommen, spürte nach und fand die Dose glücklich wieder. Der alte Herr war außer sich vor Freude und klopfte Fritz verschiedentlich auf den Kopf: „Ne, wat denn Fritz? Ne, wat denn? — Min Sähn, dat will ick Di gedenken." — Nach einiger Zeit wurde Fritz wieder auf das Schloss beschieden, und der Herr Amtshauptmann händigte ihm drei dicke Bücher als Finderlohn aus. Der Knabe, welcher von früheren Besuchen im Amtshause gewöhnt war mit sehr lieblichen Gaben heimzukehren**), vermutete in diesem umfänglichen Geschenke, welches ihm als Lohn für eine ganz besondere Dienstleistung eingehändigt wurde, auch etwas ganz besonders Angenehmes, also ein köstliches Unterhaltungsbuch; allein er sollte bitter enttäuscht werden, denn dieses dreibändige Werk war — Schellers Lexikon***).

*) Leider ist es mir trotz wiederholter Bemühung und trotz des freundlichsten Entgegenkommens, welches ich hierbei fand, unmöglich gewesen etwas Weiteres über den Amtshauptmann Weber in Erfahrung zu bringen, als dass derselbe am 15. Juni 1826 in Stavenhagen verstorben und am 18. desselben Monats auf dem dortigen Kirchhofe beerdigt ist. Zu Johannis 1826 sollte derselbe in den Ruhestand treten, (Akten des Domanialamtes Stavenhagen.) Nach Aussage von Personen, welche den alten prächtigen Herrn noch gekannt, ist das Bild, welches Fritz Reuter in „Ut de Franzosentid“ und „Schurr-Murr" von seinem originellen Paten mit vieler Liebe gezeichnet hat, ein ganz getreues.

**) Ich erinnere hier an das erste Kapitel von „Ut de Franzosentid“, wo Reuter von seinem Verkehr mit dem Amtshauptmann erzählt: „Un wenn ik denn 'ne Bestellung utrichten ded von minen Vader un hadd't glatt rut kregen, denn flog hei mi up den Kopp un säd: ,Fix, Jung', as en Füerslott! Dat möt uich lang' hacken un knarren un knacken, as Du losdrückst, möt't ok blitzen, — Nu gah hen nah Mamsell Westphalen un lat Di en Appel geben."

***) Vgl. Schurr-Murr pag. 226.


Der Unterricht der letzten vier Jahre hatte unserem Dichter die wissenschaftlichen Flügel soweit gekräftigt, dass er im Herbste des Jahres 1824, wenn auch mit innerlichem Widerstreben, den Aufflug zu höheren Zielen nehmen konnte. Ehe wir ihn jedoch auf diesem Fluge begleiten, werfen wir noch einen Blick zurück auf die bis jetzt vollendete Strecke seines vielverschlungenen Lebensweges.

Auf keinen Dichter passt das bekannte Dictum:

      „Wer den Dichter will verstehen,
      Muss in Dichters Lande gehen“

mehr als auf den Humoristen und auf keinen Humoristen besser als auf Fritz Reuter. Selten wohl zeigt die dichterische Entwicklung eine gleiche Abhängigkeit von der Gestaltung der äußeren Lebensverhältnisse, selten stehen Dichtung und Leben in so innigem Zusammenhange wie bei unserem Dichter. Keine Lebensphase von allen aber ist einflussreicher für Reuter gewesen als die Kinder- und Knabenzeit im Elternhause zu Stavenhagen, keine darum auch wichtiger zum Verständnis seines späteren poetischen Schaffens. —

*) Vgl. Schurr-Murr pag. 226.

Wie wir gesehen haben, war der Knabe Reuter in keiner Beziehung ein außergewöhnliches Kind. Körperlich anfangs zart und schmächtig, wie viele, ja die meisten Kinder, erstarkte er unter einer vernünftigen Erziehung immer mehr und konnte bei seinem Scheiden aus Stavenhagen für einen normal entwickelten Knaben gelten. Ebenso regelmäßig geht seine geistige Entfaltung vor sich. Nicht einmal außergewöhnliche, geschweige denn glänzende Geistesgaben kommen an dem kleinen Reuter zum Vorschein. Da ist keine Spur jener vom Unverstande bewunderten und stimulierten, jeden Besonnenen aber beunruhigenden Frühreife. Die natürliche Ordnung wird nicht, wenigstens nicht in eklatanter Weise durchbrochen, und der verständige Mecklenburger, welcher sogenannten Wunderkindern gegenüber mit bedenklichem Kopfschütteln zu äußern pflegt: „Dat Kind is gor tau klauk, dat ward nich olt!", konnte hier guten Mutes sein. Mit Absicht habe ich bemerkt, die natürliche Ordnung des Entwicklungsganges wäre nicht „in eklatanter Weise" durchbrochen worden, denn, wie der Verlauf seines Lebens lehren sollte, waren bei dem Knaben doch zwei geistige Fähigkeiten in ungewöhnlich hohem Grade vorhanden, beides aber Eigenschaften, deren frühes Zugegensein seiner Umgebung notwendig entging und erst dann offenbar wurde, als die Tage der Kindheit für Reuter längst vergangene waren und die Zeit ihm die Dichterfeder in die Hand gedrückt hatte, ich meine: eine für jenes Alter jedenfalls außerordentliche Rezeptivität den verschiedenartigsten Eindrücken gegenüber und die ungemein früh und verhältnismäßig sein entwickelte Gabe der Beobachtung für Alles, was in den Gesichtskreis des Kindes kam. Den Beweis für die Gegenwart dieser Fähigkeiten liefern aber die Werke des Dichters, in welchen er seine eigene Jugendgeschichte behandelt, „Ut de Franzosentid" und „Schurr-Murr". Mag Reuter auch, wie man einwenden wird, vieles von dem dort Erzählten später erst durch Hörensagen erfahren haben, so bis ins Detail lebenswahr, so plastisch schildert man keine Personen, welche man nicht selbst gründlich beobachtet hat. Diese Beobachtung aber konnte nur in der Kinderzelt selbst stattfinden, denn, als Reuter zum Jünglinge herangereift war, weilten schon die hervorragendsten, bestporträtierten Charaktere aus jenen Jugenderzählungen nicht mehr unter den Lebenden. Rezeptiv und still beobachtend (d. h. natürlich ohne sich selbst dessen bewusst zu werden) ist denn auch die richtige Bezeichnung für das Verhalten Reuters während seiner Kinderzeit.

Selten aber werden sich wohl einem Kinde so viele interessante Beobachtungsobjekte darbieten, wie hier in der mecklenburgischen Kleinstadt. Es war eine ganz besonders günstige Fügung, dass Fritz Reuter, der künftige Humorist, gerade in einer kleinen Landstadt, welche das ganze charakteristische Wesen einer solchen zeigte, das Licht der Welt erblickte.

Der Gesichtskreis ist hier naturgemäß ein beschränkter, und alles in demselben Befindliche, auch das sonst Unbedeutende, erscheint in desto stärkerem Lichte. Das Auge, nicht durch große oder wenigstens neue Erscheinungen abgelenkt, gewöhnt sich immer mehr an die Miniaturbilder in seiner Nähe und gewinnt ihnen gegenüber mit der Zeit eine mikroskopische Schärfe. So werden Personen und Sachen, welche man unter anderen Umständen gar nicht oder nur flüchtig beachten würde, zu Gegenständen eines regen Interesses, und Züge offenbaren sich dem geistigen Auge an seinen Objekten, die ihm sonst gänzlich entgehen.

Das Leben in einer Kleinstadt bringt ferner die Menschen einander näher. Auf den Verkehr unter sich, auf gegenseitige Unterstützung in vielerlei Dingen angewiesen, tauschen sie ihre Gedanken, ihre Empfindungen lebhafter aus, lernen sich in ihren Vorzügen und ihren Schwächen gründlicher kennen, als dies in einer Großstadt mit ihren wechselnden Zerstreuungen, ihren umfassenden, spekulativen Vorkehrungen für alle Lebensbedürfnisse der Fall sein kann.

Man hat behauptet, dass die Originale in unseren Tagen ausgestorben seien. Dem ist nicht so, nicht die Originale haben wir verloren, sondern nur das Auge für dieselben; unser Blick hat sich gewöhnt ins Weite zu schweifen und das Nähere zu übersehen, die großen Erscheinungen der Ferne fesseln ihn und haben ihn dem Kleinleben in unserer Umgebung entzogen. So kommt es denn, dass die Originale zwar nicht aussterben — das werden sie nicht so lange es Menschen gibt —, aber doch sich weniger reich und kräftig entwickeln als früher, bedürfen sie doch zu ihrem Gedeihen der Teilnahme ihrer Mitmenschen ebenso sehr wie die exotischen Pflanzen der Wärme. Diese Lebensbedingungen für das Original werden wiederum am besten in einer Kleinstadt erfüllt werden; und diese wird denn auch seine eigentliche Heimat bleiben, bis sie selbst von der Landkarte verschwindet.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass kleine Städte das Heim, den Entwicklungsort für den dichterischen Miniaturmaler, den Zeichner humoristischer Originale, den Humoristen bilden, und es ist sicher kein zufälliges Zusammentreffen, dass fast alle Schriftsteller, welche auf dem Gebiete des Humors Hervorragendes leisteten, von kleinen Städten ausgingen.

Unserem Fritz Reuter waren nun aber die Gestirne ganz besonders hold gewesen. Voll entwickelte Originale werden wir, wie gesagt, in jeder Kleinstadt finden, aber selten eine Vereinigung so vieler und so verschiedenartiger an ein und demselben Platze wie hier. Die Stavenhäger Originale von damals bilden eine Stufenleiter, auf deren höchster Sprosse sich der Amtshauptmann Weber befindet, deren Mitte — ein gewichtiger Mittelpunkt — Onkel Herse einnimmt und deren Fußende sich eine Schaar von di minorum gentium streitig macht. Fritz Reuter kam bald als Pate, bald als „Neffe", bald als „Kronprinz von Stemhagen" mit diesen Originalen in die innigste Berührung, alle suchten sie sich ihm von ihrer vorteilhaftesten Seite zu zeigen. Dieser fortgesetzte, unmittelbare Verkehr mit den Stavenhagener Originalen, namentlich mit dem Ratsherrn Herse, ist für Reuters Zukunft als humoristischer Schriftsteller von bedeutendem Einfluss gewesen, wie dies bereits früher hervorgehoben wurde.

Auch in anderer Beziehung fehlte es nicht an poetischen Anregungen. Dass die Mutter eine für Poesie empfängliche, ja sogar poetisch angelegte Frau war, wissen wir bereits. Dass aber andererseits die schöne, idyllische Umgebung von Stavenhagen nicht ohne Einwirkung auf das empfängliche Gemüt des Knaben blieb, ist zweifellos. Trotzdem verriet Fritz in nichts den dereinstigen Dichter, eher schon hätte man ihm eine Zukunft als Maler prophezeihen können.

Lassen wir den bisherigen Gesichtspunkt, die Rücksicht aus seine späteren schriftstellerischen Leistungen fallen und wenden uns ausschließlich dem Menschen Fritz Reuter zu, so sehen wir einen ausgelassenen, beziehungsweise wilden, aber dabei durchaus gut gearteten Knaben vor uns. Die Erziehung, welche ihm zu Teil wurde, war so rationell wie alles, was der Bürgermeister Reuter unternahm.

Seitdem uns Goethe seinen geistigen Stammbaum mitgeteilt, ist es üblich geworden auszuführen, welche Eigenschaften die Dichter ihren Eltern und Voreltern verdankten. Beschränken wir uns bei Reuter auf Vater und Mutter. Vom ersteren ging auf Fritz der klare, praktische Verstand und jene Zähigkeit über, deren der Dichter in einer späteren Lebensperiode so dringend bedurfte, um nicht der Verzweiflung anheimzufallen, während ihm die Mutter alle Vorzüge ihres reichen Geistes und Gemütes schenkte.

Der Verkehr mit den Jugendgespielen hat auf Reuters innere Entwicklung keinen weiteren Einfluss gehabt, als dass er sich früh an geselligen Verkehr und an Freundschaft gewöhnte und letztere hochschätzen lernte. Wenn übrigens Fritz Reuter in „Von ’t Pird up den Esel"*) einen Fritz Risch als seinen „besten Freund" bezeichnet, so ist das eine poetische Lizenz. Fritz Risch, der Sohn des Schmiedes Risch, war einer von den vielen Knaben, mit welchen die Bürgermeisterkinder spielten. In intimeren Verkehr mit Fritz Reuter trat nur der mehrfach erwähnte Carl Nahmmacher, den man als „Busenfreund“ des Dichters bezeichnen darf.

Der „Franzosentid“ ist zwar auf diesen Blättern bereits und verhältnismäßig eingehend gedacht worden. Wenn aber hierbei hervorgehoben werden musste, dass Fritz Reuter an diese Zeit selber so gut wie gar keine Erinnerungen haben konnte, so darf hier auch wohl nicht der Nachweis fehlen über die Quellen, aus welchen dem Dichter von „Ut de Franzosentid“ die Mitteilungen über jene Periode unserer Geschichte zuflossen.

Die Begeisterung, welche die Befreiungskriege hervorriefen, war viel nachhaltiger als der Enthusiasmus von 1870—71. Ganz natürlich; war doch jenen Kämpfen ein Druck, eine Not vorangegangen, von denen die Generation des jüngsten Franzosenkrieges keine Ahnung hat, hatte es doch der größten Anstrengung aller geistigen und körperlichen Kräfte bedurft, um sich nach langen Jahren der systematischen Erschöpfung zu einem energischen Widerstände, zum Entscheidungskampfe zu erheben. Nun war dieser Kamps ein überraschend siegreicher gewesen, das deutsche Volk, welches man, und nicht in Frankreich allein, für entkräftet bis zur Vernichtung gehalten hatte, führte das Schwert mit ungeahnter Kraft und versetzte dem Herrscher, vor dem die Welt gezittert, den Todesstreich. Kein Wunder, wenn der Jubel, die Freude, der Stolz über solche Errungenschaften noch lange fortlebte in den Herzen derer, welche jene Tage der Erniedrigung wie diese Zeit des Ruhmes gesehen hatten.

Auch Stavenhagen hatte, wie wir wissen, unter dem Napoleonischen Regimente schwer gelitten, um so größer war daher auch die Freude über die ruhmvolle Beendigung dieses qualvollen Zustandes, um so lebhafter die Begeisterung für die Ereignisse, welche der französischen Gewaltherrschaft den Schlussstein gesetzt, wie für die Helden dieser welterschütternden Begebenheiten. Fast in keinem Hause fehlten damals die Bilder eines Blücher, Gneisenau etc., und das Dankgebet der drei Monarchen nach der Schlacht bei Leipzig galt für den schönsten Zimmerschmuck*). Neben diesen ernsten Bildern fanden sich auch die heiteren Erscheinungen, welche der Krieg auf diesem Gebiete hervorgerufen, die politischen Karikaturen. Unter den letzteren erfreute sich ein Bild, welches Napoleon in einem Tintenfasse sitzend darstellte, besonderer Beliebtheit. Auch unser Fritz fand an dieser Karikatur ein so großes Gefallen, dass er dieselbe wiederholt aus dem Gedächtnisse nachzeichnete und sie der größeren Deutlichkeit wegen noch durch die Unterschrift „Napoleon in der Tinte" vervollständigte.

*) Ich folge im Nachstehenden den Berichten desselben Gewährsmanns, welchem ich die meisten der bisherigen Mitteilungen aus der Jugendzeit unseres Dichters verdanke.

Überall wurde ferner von der Franzosenzeit erzählt und überall knüpften diese Erzählungen an die dem Stavenhäger nächstliegenden Vorgänge an. So bildete die Verhaftung des Bürgermeisters Reuter, weil er die geforderte Schatzung nicht herbeigeschafft, und die intendierte Überführung desselben nach Stettin, welcher er sich am Mühlenberge durch eine kühne Flucht auf dem Pferde des Inspektors von Jürgensdorf entzog, häufig den Gegenstand der Unterhaltung im Stavenhäger Rathause. *) Auch von den Taten des Landsturmes und den kriegerischen Operationen des Amtshauptmanns Weber und des Ratsherrn Herse wusste die Fama Vieles zu berichten. Ferner fand Herr Droz in seinen Unterrichtsstunden oft genug Gelegenheit den Knaben von der Kriegszeit zu erzählen; mit großem Stolze berichtete er dann, wie ihm beim Eintreffen der Leipziger Siegesnachricht Bürgermeister Reuter mehre Pfund Pulver ausgehändigt und er auf dem Marktplatze Victoria geschossen habe.

*) Vgl. „Ut de Franzosentid“ Kap. 13

Einen ganz besonders mächtigen Eindruck musste es unter solchen Umständen auf die Knaben machen, als sie bald nach den Befreiungskriegen den gefeiertsten Helden derselben von Angesicht zu Angesicht sahen. Als im Jahre 1816 oder 1817 Fürst Blücher dem Grafen von Plessen in Ivenack einen Besuch abstattete, ließ der patriotische Bürgermeister Reuter, sobald er sichere Nachricht von dem Eintreffen desselben erhalten, Morgens 8 Uhr vier Pferde aus dem Acker holen und sie vor den größten Erntewagen spannen, setzte sich mit den Knaben darauf und fuhr nun langsamen Schrittes durch die Malchiner und Basepoler Straße. Wo ihnen ein Bürger begegnete, hieß es: „Meiste nu rup up den Wagen! Blüchert is in Ivenack!", und so viele nur auf dem Wagen fest werden konnten, fuhren mit gen Ivenack. Dort angelangt, kamen die Knaben ins Gedränge, verloren sich vom Vater und sahen sich plötzlich gewissen Leuten gegenüber, wie sie noch nie gesehen, alle in weiten Leinwandbeinkleidern und engen kurzen Jacken, Eichenlaub vor den kleinen schwarzen Mützen. Es waren, wie man später erfuhr, die Friedländer Turner, welche gleichfalls gekommen waren, den alten Blücher zu sehen. Endlich fand ein guter Stavenhäger die Knaben wieder und brachte sie dem Vater. Dieser führte sie nun an eine Stelle, von wo sie einen Greis an der Ecke des Schlosses auf großem Lehnstuhl, umgeben von vielen Herren in schwarzen Leibröcken (dem Grafen, seinen Söhnen u. a.), sitzen und, eine kurze Pfeife rauchend, die edlen Pferde des gräflichen Marstalls mustern sahen, unter den letzteren den „Herodot", einen Schimmelhengst, welcher 1806 von den Franzosen als Beute fortgeführt worden war und den Napoleon bei seinen Siegeseinzügen geritten hatte.*) „Das ist Blücher!" waren die wenigen Worte, welche Reuter zu seinen staunenden Knaben sprach; einer weiteren Erklärung bedurfte es nicht, denn vom „Marschall Vorwärts“ hatten sie oft genug „singen und sagen" gehört.

*) Fritz Reuter erwähnt diesen historischen Schimmelhengst einmal in „Ut de Franzosentid". In den Augen der Knaben war übrigens das Tier eine so große Merkwürdigkeit, dass sie es sich ansahen, so oft sie nach Ivenack kamen.

Diese, allerdings nur sehr oberflächliche, Bekanntschaft mit dem Fürsten Blücher wirkte doch sehr anregend auf Fritz Reuter, welcher dem greisen Helden der Befreiungskriege fortdauernd ein lebendiges Interesse bewahrte. Hat er selbst auch in seinen Jugenderinnerungen dieses (mir wohl verbürgten) Begegnens mit Blücher nicht gedacht, so gab ihm der Besuch des Feldmarschalls in Ivenack doch die Anregung zu zwei Gedichten, welche in die erste Zeit seiner schriftstellerischen Tätigkeit fallen, zu einer poetischen Erzählung und einem kleinen dramatischen Schwanke, beide mit dem Titel „Blücher in Teterow", welch letzteren Ort der berühmte Gast des Grafen von Plessen auf seiner Reise passierte.

Mit dieser Blücherepisode möge der erste Abschnitt dieser Biographie, die reiche, interessante und, was am meisten ins Gewicht fällt, für Reuters Zukunft bedeutungsvolle Kindheitsperiode ihren Abschluss finden. Das kleine Lebensschiff unseres Fritz Reuter ist zu weiterer Fahrt tüchtig geworden, nun vorwärts zum nächsten Hafen: gen Friedland!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz Reuter. Sein Leben und seine Werke.