Nigen-Bramborg (1856—1863) Neubrandenburg

Neubrandenburg, der zweitgrößte Ort des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz, ist eine der anmutigsten Städte Norddeutschlands. Der mit größtmöglichster Regelmäßigkeit erbaute Ort mit seinen schnurgeraden Straßen, seinen durch ihre Geschichte nicht minder als durch architektonische Schönheit fesselnden Bauwerken, unter welchen die auch nach Außen vollständig im Spitzbogenstyle durchgeführte St. Marienkirche wie das Stargarder und Friedländer Tor hervorragen, seinen von mächtigen Eichen bestandenen Festungswällen und dem unfern gelegenen, von Nichtmecklenburgern wie Einheimischen immer noch nicht hinreichend gewürdigten romantischen Tollenser See war für einen Dichter ein selten glücklich gewählter Aufenthalt*), und konnte es schon wegen der natürlichen Lage der Stadt nicht Wunder nehmen, wenn Reuter sich in ihr ganz besonders wohl und heimisch fühlte.

*) Neben diesen äußeren Vorzügen hat Neubrandenburg auch noch den einer interessanten Geschichte. Namentlich tritt dasselbe während des 30jährigen Krieges bedeutend hervor. In ihr erscheint am 2. Februar 1631 Gustav Adolph, und bald nach seinem Weiterzuge belagerte Tilly mit seinen Truppen die Stadt, bis am 9. März nach verzweifelter Gegenwehr die Mauern fielen und die zügellose Soldateska in Neubrandenburg eine Vorübung zu der kurz darauf folgenden Plünderung Magdeburgs veranstaltete. Die hier von den Tilly'schen Schaaren an der schwedischen Besatzung wie an den Bürgern verübten empörenden Grausamkeiten fanden ihre Wiedervergeltung bei der Erstürmung von Frankfurt a. O., wo die Schweden die um Quartier oder Pardon bittenden Kaiserlichen mit den Worten: „Neubrandenburgisch Quartier" niederhieben — Dieser Zerstörung unter Tilly und zwei darauf folgenden großen Bränden verdankt übrigens Neubrandenburg seine jetzige freundliche Neugestalt.

Zu diesen Annehmlichkeiten gesellte sich nun noch für unsern Dichter das Wohltuende eines großen Freundeskreises. Reuter war nämlich auch hier in kürzester Frist der allgemeine Liebling der Stadt, und Jeder freute sich mit ihm freundschaftlich verkehren zu können. Neben diesem weiteren Umgangskreise hatte unser Fritz jedoch noch eine Anzahl intimerer Bekannten, mit denen er namentlich auch einen häuslichen Verkehr unterhielt. Zu diesen letzteren gehörten u. a. die durch ihre Arbeiten zur Kenntnis von Land und Leuten in Mecklenburg um unser engeres Heimatland hochverdienten Gebrüder Ernst und Franz Boll*), sowie der jetzt in Güstrow lebende tüchtige Komponist und Musiklehrer Johannes Schondorf und der Apotheker Dr. Siemerling, dessen Reuter in „Montecchi und Capuletti" in scherzhafter Weise gedenkt.**)


*) Sicher ist der Verkehr mit diesen beiden in das Wesen des mecklenburgischen Volkes wie in die Geschichte, speziell die Kulturhistorie, unserer engeren Heimat tief eingedrungenen Gelehrten von hohem Nutzen für Fritz Reuter, den genialen Zeichner mecklenburgischer Kulturbilder, gewesen.
**) Vgl. „De meckelnbörgschen Montecchi un Capuletti" Kap, 5, wo Herr Groterjahn in Wien am Abend vor der Reise über den Sömmering zu seinem Cicerone dem Herrn Nehmlich äußert: „Also von hier reisen wir nun über den großen Siemerling“. Herr Nehmlich antwortet: „Bitte um Entschuldigung, es heißt Sömmering.“ — „Dor kamm hei im äwer schön an. Herr Groterjahn hadd sick woll markt, wo sine Fru em mit dat Poposäum aftrumft hadd, un watt sei kunn, kunn hei ok un müßte hei ok, hei säd also: „Sömmering ist meines Wissens gar kein Name, aber Siemerling ist ein Name, ich habe viele Geschäften mit dem Doktor Siemerling in Neubrandenburg gemacht, und so werden Sie mir doch wohl erlauben, dass ich Siemerling sage."

Gerne verkehrte Reuter damals auch mit den Schülern der oberen Klassen des dortigen Gymnasiums und begleitete dieselben häufig auf ihren „großen Turnfahrten", so neben der Liebe zur Jugend gleichzeitig sein Interesse an der Turnerei, welche er nun nicht mehr als Lehrer pflegen konnte, von Neuem betätigend.

War Reuter, wenn er in öffentlichen Lokalen wie z. B. in dem der Ressource erschien, ein willkommener, weil allzeit heiterer und freundlicher Gast, so erwies er sich nicht minder liebenswürdig, wenn er als Wirt seine näheren Bekannten in seiner eigenen Wohnung begrüßte. Noch heute gedenken die Freunde aus jener Zeit mit Vergnügen der gemütlichen Abende, welche sie damals, Dank der Liebenswürdigkeit des Dichters und seiner Luise, einer Wirtin comme il faut, im Reuter'schen Hause verlebten und bei denen sie in materieller Beziehung nicht weniger gut als in geistiger aufgehoben waren. Bei diesen Zusammenkünften tauschte man die gesammelten Anekdoten, die gemachten komischen Erfahrungen aus, und wenn so der Dichter manche von seinen Schnurren und Erlebnissen zum allgemeinen Besten hergab, so heimste er dafür doch auch manches, bisher ungekanntes „Läuschen" ein, was er später „wedder los warden künn", wie man in Mecklenburg von Anekdoten, die stets ein dankbares Publikum finden, zu sagen pflegt. Häufig benutzte Reuter auch diese Gelegenheit, um eben beendigte oder noch in Vollendung begriffene Werke zunächst dem Urteilsspruche eines kleineren Gerichtshofes zu unterbreiten, indem er einzelne Abschnitte daraus zum Vortrag brachte. Da Reuter aber, wie ich entgegen der Behauptung von Ludwig Walesrode*) hier nach den Mitteilungen zuverlässiger Freunde konstatiere, seine Dichtung selbst sehr schlecht vorlas, so ereignete es sich oft, dass die freundlichen Richter nach diesen Proben von den neuen Schöpfungen Reuters weit weniger erwarteten, als sie später bei eigener Lektüre erfüllt fanden.

*) Gartenlaube. Jahrgang 1864.

Hier in Neubrandenburg also hatte Fritz Reuter vom 2. April des Jahres 1856 an seinen Wohnsitz genommen und damit zugleich die Stätte betreten, wo er seine hervorragendsten Werke schaffen sollte. Die zunächst folgenden Dichtungen lassen freilich noch nichts von der Größe der kommenden Leistungen ahnen, man möchte sie vielmehr als Umzugspoesien bezeichnen. Bei Veränderung des Wohnortes geht nämlich der bisher erzählende Dichter auf das dramatische Gebiet über, um sich dann, wieder auf sein erstes Feld zurückkehrend, vom komischen Genre dem tragischen zuzuwenden. So entstehen als erste Neubrandenburger Produkte das Lustspiel: „Die drei Langhänse", *) dem ein Kuriosum aus dem Beamtentum eines, irre ich nicht, thüringischen Staates, also vielleicht eine Reminiszenz aus der Jenenser Studentenzeit des Dichters zu Grunde liegt, ferner das Lustspiel: „Der erste April oder: Onkel Jakob und Onkel Jochen“, wie endlich der Schwank „Blücher in Teterow", welcher dasselbe Süjet behandelt wie das Gedicht: „Von den ollen Blüchert“ im ersten Teile der „Läuschen und Rimels." **) Von den vorgenannten dramatischen Versuchen sind die beiden letzteren 1857 im Druck erschienen und in den Buchhandel übergegangen, während das erstere nur als Manuskript für Bühnen gedruckt wurde. Alle diese Bühnenstücke, denen Reuter selbst keinen großen Wert beilegte, sind verfehlte Leistungen zu nennen, da es dem Dichter nicht nur, wie er meint, an praktischer Bühnenkenntnis, sondern auch überhaupt an dramatischem Talente gebricht. In seinen Lustspielen finden wir ganz hübsch gezeichnete Charaktere und auch manche echt komische Situation, aber dem Ganzen fehlt doch das dramatische Leben, überall, namentlich aus dem breit dahinfließenden Dialog, guckt der gemütliche Epiker hervor. Aufgeführt sind meines Wissens von diesen Dramen nur das erste und letzte, und zwar zuerst am Wallnertheater in Berlin, wo sie jedoch trotz vorzüglicher Darstellung besonders ihrer Längen wegen, in deren Beseitigung der Dichter nicht willigen wollte, keinen dauernden Beifall erlangten. Eine gleichfalls in dieser Zeit entstandene und am Tivolitheater in Rostock gegebene Posse: „Die beiden Auguste" ist um ihres gar zu geringen Erfolges willen niemals gedruckt worden. —

*) Nicht, wie C. Müller Fürstenwalde, der uns schon bekannte Reuterbiograph meint, „Die beiden Langhälse.“
**) Vgl. S. 63.

Wenden wir uns nun von diesem Ausfluge Reuters in das dramatische Gebiet zu seiner 1857 erschienenen tragischen Erzählung in Versen: „Kein Hüsung". Eine düstere Episode aus dem mecklenburgischen Volksleben ist der Gegenstand dieses Gedichtes, dessen lyrische Partien meisterhaft sind und in welchem eine bewundernswerte Energie der Leidenschaft waltet. Erfindung und Komposition dagegen sind außerordentlich schwach und die Situationen zuweilen von „abschreckender Hässlichkeit". In demselben Jahre noch gab Fritz Reuter die bereits auf S. 230. erwähnte Sammlung plattdeutscher Gedichte: „En poor Blomen ut Annamariek Schulten ehren Goren von A. W." heraus, eine Reihe zartempfundener Dichtungen im Genre Klaus Groths, dem auch das Buch gewidmet ist. — Das folgende Jahr brachte den zweiten Band von „Läuschen un Rimels", welcher sich noch eines größeren Beifalles erfreute als der erste, von dem er sich auch in der Form vorteilhaft unterscheidet. Diese neue Folge der „Läuschen un Rimels", deren Süjets Reuter wiederum direkt aus dem Volksleben geholt hatte, erhöhte die Beliebtheit, welche der Dichter bereits mit dem ersten Bande und „De Reis' nach Belligen" gewonnen. Reuter war damals unter den Mecklenburgern schon eine sehr populäre Persönlichkeit, und als sich im Sommer desselben Jahres die sämtlichen mecklenburgischen Studenten in Erlangen, deren Zahl in jenem Semester die Höhe von 41 erreicht hatte, zu einem gemeinsamen Commers vereinigten, beschloss man in einer vorberatenden Versammlung dem beliebten Volksdichter ein Fass des trefflichen Erlanger Bieres zu übersenden. Die Vermittlung geschah durch einige junge Studierende, welche als Neubrandenburger Primaner Reuter kennen gelernt hatten. Letzterer revanchierte sich für diese Aufmerksamkeit mit zwei plattdeutschen „Festgedichten für die in Erlangen studierenden Mecklenburger", welche, jedoch nur für die Beteiligten, gedruckt*) wurden und von denen das eine bei der „zur Feier des Güstrower Wollmarktes" — einen anderen nationalen Gedenktag Mecklenburgs konnte man in der Jahreszeit nicht ausfindig machen — veranstalteten Kneiperei auch gesungen ist. Die beiden Gedichte lauten:

*) Druck der Universitäts-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.

Vaterländisches Festgedicht.
Melodie: Bekränzt mit Laub usw.

Lew woll mit diene gräunen Böm un Wischen,
Du säutes Vahreland!
Mit diene Seen un mit den stormwindfrischen
Un hellen Ostseestrand!

Mi dreew bei Lust, mi dreew en wild Verlangen,
’Rin in dei wiede Welt;
Doch noch so fiern, is't mi, as wenn gefangen
Mien Vahreland mi hält.

Mi is’t, as wenn't in stille Abendstunnen
En leiben Gruß mi schickt,
Vertellt von't Flach, wo ick bei Fründ hew funnen,
Dei irrste Ros' hew plückt.

Ick seih dat Bahrehuus, ick seih den Goahren,
Wo mi mien Mutte tog;
Ick sei bei söute Diern in lichte Hoaren
Un seih ehr bloages Oag.

O Vahreland, du säutes Land vor Allen!
Wardst mi in’n Harten wak.
Hoch soll dien Los von Oart un Wesen schallen
In diene truute Sprak!

Un is ok mal an dienen hellen Heben
Ruptagen swarte Nacht,
Uns Herrgott ward die Licht woll werre geben
Un Schutz vör freche Macht.

Un wi, wi stahn hier in dei Frömd tausamen
Un stahn hier stief un stramm,
Wi schwören di, sast mal tau Ihren kamen
Un werre up den Damm!

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Ansprak bi den Andrunk.
Tausprak bi den Taudrunk.

Ick wull, ick wier hüt ok doabi
Un seet mang Jug Studenten,
Un harr den Kopp so vull as Ji
Vull lustge Fisematenten;
Ick wull. Ick wier mal werre jung
Un seet in juge Reihen
Un künn bi einen käuhlen Drunk
Mi werre mit Jug freuen.
Doch wat nich is, dat sall nich sin;
Ji drinkt ut’n bayrischen Keller,
U nick wörg Bier in mi herein
Von Mohnken un von Teller.*)

*) Bierbrauer in Neubrandenburg

Un wenn Klock nägen in bei Fiern
Ji Salamander rieben.
Denn riew ick ol, doch blot bei Stiern
Von wegen't Läuschen Schrieben.
Doch halt mal! — Nee! — Hüt Abend nich! —
Heut Abend Euch zu Ihren
Werd ich in gutem Rotspohn mich
Vorläufig inspirieren;
Und werde circa gegen Neun
Mit Inspirieren fertig sein,
Und nehme dann ein volles Glas
Mit unserm nationalen Naß,
Und richt mich stricte gegen Süd
Und sing ein altes Burschenlied,
Un leer mein Glas bis auf den Grund
Auf Euer Wohl und die Gesund-
Heit aller deutschen Studiosen.
Und Hass den Russen und Franzosen! —
So macht's auch Ihr und haltet fest:
Das Vaterland ist s allerbest’!
Verlebt den Abend froh und heiter,
Dies wünscht von Herzen Euch
Fritz Reuter.

Das Jahr 1858 ist in Reuters Leben auch in so fern noch ein merkwürdiges, als in dasselbe die bekannte Polemik zwischen Klaus Groth und Fritz Reuter fällt, welche auch jetzt, nachdem längst eine Aussöhnung zwischen beiden Dichtern erfolgt ist und allmählich doch eine objektivere Auffassung dieser Angelegenheit gewonnen sein sollte, von manchen Kritikern und Biographen noch immer zu den animosesten Angriffen auf Klaus Groth benutzt wird. Der Sachverhalt ist folgender: Klaus Groth, welcher mit seinem „Quickborn" zuerst unter den plattdeutschen Dichtern der Neuzeit wieder zu einer künstlerischen Richtung zurückgekehrt war und für die Rehabilitierung der nach seiner Ansicht in Verruf gekommenen plattdeutschen Sprache mit großer Begeisterung eintrat, glaubte in den „Läuschen un Rimels" von Reuter eine Umkehr zum Schlechteren erblicken zu müssen. *)

*) Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch von Dr. Klaus Groth. Kiel, 1858.

In seinen Augen bewegten sich die Reuter’schen Dichtungen „bloß in der niederen Sphäre des Spaßes" und passten sonach nicht in das hohe Programm, welches er der plattdeutschen Dichtung entworfen hatte. Dass diese Ansicht eine nicht ganz korrekte, ist bereits auf S. 220. dargelegt worden. In seinem Eifer übersah der hochverdiente, weil wirklich bahnbrechende, Dichter des „Quickborn", dass die „Läuschen und Rimels" nicht nur poetische Scherzerzählungen, sondern, wie in diesem Buche schon hervorgehoben wurde, kleine niederdeutsche Kulturskizzen waren; in der Hitze des Gefechtes für das von ihm erstrebte Ideal ließ sich Klaus Groth weiter in seiner Kritik zu Äußerungen hinreißen, welche wir heute wohl als nicht ganz „parlamentarische" bezeichnen würden. Fritz Reuter verteidigte den von ihm eingenommenen Standpunkt in höchst geschickter Weise durch eine 1858 in Berlin (bei R. Wagner) erschienene Broschüre: „Abweisung der ungerechten Angriffe und unwahren Behauptungen, welche Dr. Klaus Groth in seinen Briefen über Plattdeutsch und Hochdeutsch gegen mich gerichtet hat", eine Arbeit, welche gleichzeitig das Beste ist, was unser Dichter in hochdeutscher Sprache geschrieben. Noch besser aber als durch diese Abhandlung begegnete er dem Angriffe Klaus Groths durch seinen im folgenden Jahre erschienenen ersten Band von „Olle Kamellen", welcher neben der weniger bedeutenden Skizze: „Woans ik tau'ne Frau kamm", die in sich abgeschlossenste Dichtung Reuters „Ut de Franzosentid“ enthält. „Olle Kamellen" — was bedeutet dieser Titel, der schon so manchem Nichtmecklenburger Kopfzerbrechen verursacht hat, und den ein Reuterbegeisterter Schwabe mit „Alte Camellien" übersetzen zu müssen glaubte. Die Verhochdeutschung ist nun dem Mecklenburger recht leicht gemacht, er weiß, dass er den Titel hochdeutsch mit „Alte Kamillen" wiederzugeben hat. Was aber will das hier sagen? — Wer einmal die Vorratskammer einer richtigen mecklenburgischen Landwirtin betreten, der erinnert sich gewiss an den süßlichen Duft, welcher ihn daselbst empfing. Dieses, die ganze Atmosphäre durchdringende Parfüm rührt her von zahlreichen Bündeln Kamillenblüten, welche die sorgsame Hausfrau dort aufgehängt hat, auf dass sie, im Laufe der Zeit getrocknet und dadurch erst brauchbar geworden, als probates Hausmittel gegen allerlei kleine Leiden des menschlichen Körpers in Anwendung gebracht werden können. So etwas vor Zeiten schon Gesammeltes, lange Bewahrtes und ebenfalls im Laufe der Zeit besser und wirksamer Gewordenes bietet uns Fritz Reuter in seinen „Ollen Kamellen", als ein — um mit dem Ratsherrn Herse zu reden — remedium contra dolores omnia des menschlichen Gemütes. — Die Dichtung „Ut de Franzosentid" darf als die eigentliche Begründerin des Ruhmes, dessen sich Fritz Reuter in ganz Deutschland zu erfreuen hatte, angesehen werden. Nach ihrem Erscheinen ergriffen Männer wie Julian Schmidt das Wort für die Reutersche Poesie; vor ihm jedoch hatte schon der bisherige Gegner des Dichters, Klaus Groth, vielleicht überhaupt als der erste namhafte Schriftsteller in Deutschland, das Werk auf das Wärmste empfohlen. In der Beilage zu Nr. 304. des „Altonaer Mercur" (d. d. Sonntag, den 25. Dez. 1859) sagt Groth wörtlich:
„— — — — —„Ut de Franzosentid" ist von einer so köstlichen Lebendigkeit, voll von so echtem Humor, dass man sie dem Besten, was in der Art je von Spaniern und Engländern geschrieben worden ist, kühn an die Seite setzen darf. Dieser talentvolle Mann hat hier plötzlich seinen Gegenstand gefunden, und die Freude des Schaffens selber, mit der diese Erzählung geschrieben sein muss, wird ihm gesagt haben, dass er ihn gefunden. Ich habe Fritz Reuter einmal aus innerster Überzeugung für seine „Läuschen und Rimels“ weh tun müssen, ich konnte nicht anders als ihm sagen, dass man auf Kosten der Würde des Volkes nicht lachen dürfe. Habe ich je seit dem Erscheinen der „Pickwickier“ aus voller Seele gelacht, so ist es hier über diesen kostbaren Amts-Hauptmann aus dem echtesten Holz norddeutscher Biederkeit, seinen köstlichen Ratsherrn Herse, über den komischen Müller und seinen Knecht Friedrich — — — — — — Bei allem Lachen [aber] wird es dem Leser [auch] an einer Träne nicht fehlen, und an der herzlichen Teilnahme für eine schöne Seele in der Hülle eines schlichten jungen Mädchens". — [Klaus Groth hat nun im Einzelnen noch einige Kleinigkeiten auszusetzen, namentlich in Betreff der Orthographie, am Schlusse jedoch sagt er] Im Ganzen aber kann ich nicht unterlassen ihm [Reuter] im Namen aller Plattdeutschen für diese herrliche Gabe den herzlichsten Dank zu sagen und zu wünschen, dass wir noch manche derartige von ihm zu erwarten haben.“

So die anerkennenden Worte des Mannes, der einst unsern Dichter mit so viel Heftigkeit bekämpfen zu müssen glaubte. — Mit Bedauern vermissen wir unter den hier aufgeführten charakteristischen Figuren der „Franzosentid" eine „Mamsell Westphalen" und einen Fritz Sahlmann, Figuren, welche nicht weniger als die erwähnten „noch den folgenden Geschlechtern lieb und wert sein werden"; im Übrigen aber können wir uns dem Groth'schen Urteile nur anschließen. In der Tat hat sich in dieser vaterländischen Geschichte, die uns — wie Julian Schmidt treffend sagt — besser als tausend hochtrabende Deklamationen den Geist unseres Volkes in jener bedrängten Zeit zu Anfang des Jahrhunderts vor Augen führt, zum ersten Male Reuters Talent für die dichterische Gestaltung höherer und größerer Stoffe, seine eminente Befähigung für den humoristischen Roman gezeigt, und zwar in so glänzender Weise gezeigt, dass der Erfolg nicht ausbleiben konnte. Zugleich aber ist diese „Franzosentid" das Beste, was der Dichter überhaupt geliefert, denn mag die „Stromtid" auch diese erste Erzählung in hundert Einzelheiten überragen, wenn wir diese Dichtungen als Ganzes betrachten, wird sich die Wage immer zu Gunsten des ersteren, bestdurchgeführten und in sich abgeschlossensten, Werkes neigen. — Bekanntlich liegt der Dichtung, welche dem Namen Reuter in Deutschland zuerst Geltung verschaffte und ihn zugleich auch dem Auslande bekannt machte, ein Abschnitt aus der Geschichte der Vaterstadt des Dichters zu Grunde, und die handelnden Personen derselben sind historische Figuren. Wie Fritz Reuter das Material zu seiner „Franzosentid" gesammelt, ist bereits auf S. 59. dieses Buches ausgeführt worden, und mag dem dort Gesagten nur noch hinzugefügt werden, dass der Dichter sicher auch manche Züge zur allgemeineren Charakteristik jener von ihm geschilderten Zeit auf der Festung Dömitz kennen gelernt haben wird, wo noch heute zahlreiche Anekdoten aus der Franzosenzeit kursieren. Von den trefflichen Figuren der „Franzosentid" lebt, seitdem vor einigen Jahren „Fiek Besserdich" als Hauswirts-Altenteilerin in Gülzow gestorben, nur noch Fritz Sahlmann als Landreiter des Domanialamts Stavenhagen. Sahlmann, der 1802 geboren wurde und 1812 mit seinen Eltern von Ludwigslust nach Stavenhagen übersiedelte, ist kein „Kindheitsgenosse" des Dichters, wie dies jüngst in der Ankündigung einer anderen Reuterbiographie behauptet wurde. Der Schreibfehler, welchen Sahlmann nach Reuters Darstellung in dem von ihm abgeschriebenen Kontrakt des Pächters der Gielower Mühle gemacht haben soll, konnte ihm in Wirklichkeit nicht zur Last fallen, weil er in dem Lebensalter, welches er damals erreicht hatte, jedenfalls noch nicht Abschreiber und am wenigsten bei dem überaus peinlichen Amtshauptmann Weber sein konnte. Überdies ist nach Ausweis der Akten des Domanialamts Stavenhagen gegen den damaligen Pächter der Gielower Mühle, der auch nicht Voß, sondern Haase hieß, niemals ein Prozess wegen Unterschlagung von Korn angestrengt worden. *)

*) Akten des Domanialamtes Stavenhagen.

Das Jahr 1860 brachte dem nun schon das Erscheinen eines neuen Reuter'schen Werkes mit Spannung erwartenden deutschen Publikum das erzählende Gedicht: „Hanne Nüte un de lütte Pudel. Ne Vagel un Minschengeschicht." In ihr betritt der Dichter wieder wie in „Kein Hüsung" das Gebiet der Kriminalpoesie und ist auf demselben ebenso wenig glücklich wie das erste Mal. Während so die „Minschengeschicht" an großen Schwächen leidet, ist die „Vagelgeschicht" und alles Lyrische in „Hanne Nüte" von hohem dichterischen Werte. — Die vier in „Hanne Nüte" vorkommenden Handwerksburschenlieder: das „Handwerksburschen-Wanderlied" (pag.140), „Des Maurers einziges Lied" (pag. 143.), das „Schneiderlied" (pag. 144.) und „Dat Led von den Eikbom" (pag. 147.) wurden noch in demselben Jahre von Johannes Schondorf komponiert, der bereits mehre kleine Gelegenheitsdichtungen Reuters in Musik gesetzt hatte, so kurz vorher, im April 1860 eine Festkantate für Männerchor zum 50jährigen Advokaten-Jubiläum des Bürgermeisters Hofrat Engel in Röbel. Gleichfalls zur Komposition für seinen Freund Schondorf dichtete Reuter das nachfolgende Chorlied, welches als Einleitungsnummer auf dem Sängerfest des Peene-Sängerbundes in Penzlin(1860) gesungen werden sollte; Penzlin, als Gastgeberin, begrüßt die fremden Gäste, und die Vereine der anderen Städte sprechen darauf ihren Gegengruß aus, als Kritikus zwischen den Einzelgesängen erscheint der „Chor", und am Schlusse vereinigen sich alle Sänger zu einem begeisterten Hymnus auf Mecklenburg und auf das deutsche Vaterland. Das Lied, dessen Komposition Umstände halber unterbleiben musste, hat folgenden Wortlaut:

Penzlin.
Kamt heran, ji ollen Frün'n!
Kamt!
Hell an’n Heben lacht de Sünn.
Und de Ierd in ehre Pracht
Mit ehr Blaumen un ehr Gräun
Will sick mit den Heben freu'n;
Allens lacht.

Kamt heran un wes't willkam!
Kamt!'
Freu'n uns wedder mal tausam.
Singt de Nagel in den Holt.
Sall dat Hart nich trurig sin;
Stimmen lustig mit em in
Jung un Olt.

Alle Mann nu frisch heran!
Kamt!
Jeder wies' hüt, wat hei kann;
Wer taum hellsten stimmt mit in,
Wer uns bringt dat beste Lied,
De sall hüt un alle Tied
Meister sin.
Chor.
Na, denn man tau, denn helpt dat nich;
Un schriet ok nich so fürchterlich!

Wahren.

Wir will’n den ersten Gruß Jug bringen,
Wir sünd ut Wohren, dat Ji’t weit't.
Uns Gruß, der soll von Herzen klingen.
Wir hab’n uns hellschen auf Euch freu’t.
Dorüm, Penzlin, und dessentwegen
Reck wir Dir treu die Hand entgegen;
Leb' hoch, Penzlin! Sei alle Zeit
So hellschen aufgekratzt, as heut!

Chor.

Pianoforte möt ji sing’n.
Dat Forte möt piano kling’n.

Teterow.
De Wohrnschen hebb’n gaud Hochdütschreden.
Denn sei sünd ut ’ne grote Stadt,
Wi Teterowschen sünd taufreden
Wenn w’ grüßen up uns ihrlich Platt:
Wenn s’ uns ok schell’n,
Wenn s’ uns ok brüden,
Uns’ Hoch sall gell’n
Tau allen Tieden:
Hoch! Dat uns’ Bund noch lang’ besteiht!
So lang’, as Lied tau Harten geiht!

Chor.
So holl doch Takt! Du leiwer Gott!
De Ein singt hüt, de Anner hott!

Räbel.
Wi Räbelschen folgen de niege Richtung
Mit Vipperowschen Damm un Gaserlüchtung*)
Doch olle Fründschaft, de holl’n wi fast
Un kamen as Frün’n bi Jug tau Gast.
Kein Stadt hölt truer tau unsen Bund,
Kein Stadt grüßt deiper ut Hartensgrund.
Hell sall drüm dat Lied ut Räbel klingen,
Wi mögen’t nu woll oder äwel singen.

Chor.
Passt doch up jugen Dirigeur,
Un quinkelirt nich he nun her!

*) Für nichtmecklenburgische Leser sei bemerkt, dass Röbel zur Herstellung eines Verbindungsweges mit dem Strelitzschen einen Damm (den Vipperower Erddamm) durch die Müritz schütten ließ, welcher der Stadt sehr viel Geld kostete. Von den kleineren mecklenburgischen Städten ist ferner Röbel die erste, welche Gaserleuchtung einführte.

Malchin
Wi sünd allein von’n Peenestrand;
Ein Peen flütt rechts, ein linker Hand,
Un denn hebb’n w’ noch den Torfcanal.
Un wat uns’ leiwe Landag is,
De is uns all twei Johr gewiß,
Mit Stiernbarg ein üm’t anner Mal.

Doch dorüm stolz? Ich denk’ nich dran!
Nich stolz, nee lustig kam wie an.
Wat Landag, Peen un Torfcanal!
Wer’t meint as wi, de stimm’ mit in;
Fideel! Fideel! sall Losung sin,
Un noch einmal un noch einmal!

Chor.
Paß doch ein Jeder up sein Stimm!
Wi smiet, der Kukuk hahl! noch üm.

Stemhagen.
Tau Stemhagen, tau Stemhagen
Sünd wi buren, sünd wi tagen,
Trecken lustig tau Jug inner,
Sünd von Jug jo Nahwerskinner.
Seggt, wer wahnt bi Jug woll neger,
Als Stemmhäger?

Dorüm hoch dat Glas un höger!
Will’n ’t Jug bringen, wi Stemhäger.
Up Jug Woll en Glas utsteken
Un süll uns de Quint ok breken,
Wenn de vullen Gläser klingen
Geiht dat Singen.

Chor.
Dor sünd w’ mit dörch! Na Gott sei Dank!
Nu hell herut den letzten Sang!





Alle Vereine zusammen.
Nu kamt mal neger ranne, Lüd,
Un stellt jug mal tausamen.
Ein Jeder sung sien lustig Lied
Taum fröhlichen Willkamen,
Doch hürt sick woll ok an so'n Urt
För'n braven Kierl en iernstlich Wurt,
Wat kümmt ut vullen Harten.

Dat Land, wat uns're Weig is west,
Dat Leben uns hett geben
Dat is dat Irst, dat is dat Best;
Oll Meckelnborg sall leben!
Hoch lew sien Sprak, sien ihrlich Ort,
Dat Mann för Mann sien Tru bewohrt,
Un säute Leiw sin Frugens!

Hoch sall uns' leiwes Dütschland bläuhn.
Uns Vaderland för Allen!
Bet an den Rhein, bet äwer'n Rhein,
Sall hoch sin Vivat schallen!
Herun den Haut! un hoch de Hand!
Un geih't denn mal fort Vaderland,
Denn Dütschland holl tausamen!

Im Jahre 1861 gab dann Reuter eine Sammlung kleinerer Werke unter dem Titel „Schurr-Murr" *) heraus, von welchen uns am meisten die Skizze: „Meine Vaterstadt Stavenhagen" wegen der darin enthaltenen, allerdings stark mit phantastischer Zutat versehenen, Kindheitserinnerungen des Dichters interessiert.

*) Der Titel „Schurr-Murr" bezeichnet, wie dies ja auch das vom Dichter beigefügte Motto besagt, soviel als „Allerlei Zusammengesuchtes". Bei der Wahl desselben ist sicher die Erinnerung an Onkel Herse von Einfluss gewesen, denn bekanntlich nannte dieser einen von seinem „Gevatter Grischow" aus sieben roten, grünen, blauen und gelben Flaschen zusammengegossenen Schnaps „Schurr-Murr“.

Von der etwas schwerfälligen und gesuchten Ausdrucksweise, welche in allen hochdeutsch geschriebenen Produkten des Dichters — die Broschüre gegen Groth allein ausgenommen — herrscht, haben sich die Leser bereits durch die in diese Biographie verflochtenen längeren Zitate überzeugen können. Die beste Gabe, welche uns Reuter in Schurr-Murr darbietet, ist jedenfalls das „Abendteuer des Entspekter Bräsig, bürtig aus Mekelborg-Schwerin, von ihm selbst erzählt", eine Schöpfung voll sprudelnder Laune und in einem wahrhaft „klassischen" Missingsch geschrieben. Außerdem enthält die Sammlung noch das schon erwähnte: „Haunesiken", sowie „Wat bi 'ne Äwerraschung rute kamen kann" *) und: „Von't Pird up den Esel". Das Original des in den beiden letzten, ziemlich unbedeutenden, Erzählungen auftretenden, schon aus „Woans ik tau 'ne Fru kamm" bekannten Onkels Matthies ist ein Bruder von Reuters Mutter, welcher ursprünglich die Apothekerei gelernt und dann in Ungarn Kriegsdienste genommen hatte. Später wurde er Müller und als solcher kam er wiederholt auf längere Zeit zum Besuch nach Stavenhagen. Der „Onkel Matthies" der Reuter'schen Erzählungen hat von ihm vor Allem die Biederkeit geerbt.

*) Der kleinen Skizze „Wat bi 'ne Aewerraschung rute kamen kann“, liegt eine Anekdote zu Grunde, welche der Dichter schon in Nr. 39 seines „Unterhaltungsblattes" vom „alten, ehrwürdigen“ Professor der Theologie Schott in Jena erzählt hat. Verschmolzen mit dieser Thüringischen „Schnurre“ ist eine andere Anekdote, die Geschichte von der „Giraffe“, welche auf mecklenburgischem Boden spielt und deren Richtigkeit mir verbürgt ist.

Das folgende Jahr 1862 ließ zwei große Dichtungen Reuters erscheinen. In der ersten: „Ut mine Festungstid" schildert uns der Dichter wiederum einen Abschnitt seines Lebens, und zwar in vollendeter künstlerischer Form. Interessant ist es Reuterss eigene Ansicht zu hören über dieses Werk, in welchem sein herrlicher Humor den Sieg davon getragen über den düstersten Stoff und sich so auf das Glänzendste offenbart hat. Kurz vor dem Erscheinen der „Festungstid", am 27. Januar 1862 richtete Fritz Reuter an seinen Freund den bekannten Professor Julius Wiggers in Rostock ein Schreiben, um demselben zu danken für das schöne Geschenk, welches jener der Welt mit der im Jahre 1861 erschienenen Darstellung seines Gefangenlebens: „Vierundvierzig Monate Untersuchungshaft" gemacht habe. Dann auf seine Arbeit übergehend, hebt Reuter als Hauptunterschied zwischen beiden Werken hervor, dass Wiggers durch die noch frischere Erinnerung in den Stand gesetzt wurde, eine pragmatische Geschichte jener Lebenszeit zu schreiben, und fährt darauf wörtlich fort:

„— — — — — — zwischen meinem Jetzt und meinem Damals liegen aber schon fünfundzwanzig Jahre, die mich manche Bitterkeit vergessen lassen konnten und mich in den Stand setzten, sogar diese Zeit meines Lebens in die rosigen Fluten des Humors zu tauchen; aber alle Momente wollen sich nicht heiter färben lassen, sie bleiben in ihr scheußliches Grau gekleidet stehen, und wenn ich die heiteren auch ein wenig mit erfundenem Spaß auflasiert habe, die grauen habe ich ehrlich in ihrer trübseligen Wahrheit stehen lassen.“

Die zweite Veröffentlichung des Jahres war „Ut mine Stromtid" Band I., der Anfang also jener großen Dichtung, seit deren Erscheinen Fritz Reuter zu einer europäischen Berühmtheit wurde. —

Unter den vielen Anerkennungen und Auszeichnungen, welche von nun ab dem Dichter zu Teil, wurden, war eine der ersten die Promotion Reuters zum Doktor der Philosophie honoris causa, durch welche die Landesuniversität Rostock zugleich sich selber ehrte. Durch die Güte der philosophischen Fakultät zu Rostock bin ich in den Stand gesetzt über diese Promotion aktenmäßig zu berichten. Nachdem der verstorbene, in wissenschaftlichen Kreisen mit Recht hochgeschätzte Professor der Chemie Dr. F. Schulze die erste Anregung mehr privatim gegeben, stellte Professor Karl Bartsch, der bekannte Germanist und Literarhistoriker, jetzt in Heidelberg, am 26. Februar 1863 den formellen Antrag an den Dekan der Fakultät Professor Fritzsche, „dem berühmtesten mecklenburgischen Schriftsteller der Gegenwart", Fritz Reuter die höchsten Würden der Fakultät zu verleihen. In der Motivierung verweist derselbe namentlich auf des Dichters „Franzosentid", die hier kurzweg „Olle Kamellen" genannt wird, und betont, dass das Aufsehen, welches diese Schrift in ganz Deutschland gemacht, seinen Grund nicht in einem vorübergehenden Gefallen des Publikums an mundartigen Literaturprodukten habe, sondern beruhe auf den klassischen Gestalten und Gebilden der Dichtung, wodurch derselben eine über die Gegenwart hinausreichende Dauer wohl verheißen werden könne. Endlich erinnert Bartsch noch an das Beispiel der Bonner Universität, welche Reuters Kollegen Klaus Groth ebenfalls zum Doktor honoris causa ernannt habe. Der Dekan unterbreitete diesen Antrag sofort den Fakultätsmitgliedern mit der wärmsten Empfehlung und beantragte zugleich, da diese Ehrenpromotion mit dem Jubiläum der Volkserhebung von 1813 zusammenfalle, auf dem Ehrendiplom Reuters schöne Schrift „Olle Kamellen" (Ut de Franzosentid) zu nennen. Nachdem die Fakultät ihre freudige Zustimmung erklärt und Se. Kön. Hoh. der Großherzog als Kanzler der Universität unter dem 10. März diesen Fakultätsbeschluss bestätigt hatte, machte Professor Fritzsche am 25. desselben Monats dem Dichter die Anzeige von dieser Ehrenpromotion in folgendem Schreiben:

Hochgeehrter Herr Doktor!

Die philosophische Fakultät unserer Landesuniversität hat einstimmig beschlossen, Ihnen die Würde eines „Doktors der Philosophie und Magisters der freien Künste“ honoris causa, zu erteilen und Se. Königl. Hoheit der Großherzog unser gnädigster Landesherr hat diesen Fakultätsbeschluss in Gnaden zu bestätigen geruht.

Ihre Werke enthalten eine höchst gelungene Darstellung des Gemütslebens im Volke und fesseln außerdem auch noch besonders durch Witz und durch komische Situationen. Humoristen, Lustspieldichter, Satiriker und ähnliche Schriftsteller, welche in weiten Kreisen großen Beifall gefunden hätten, sind bei den meisten Völkern eine seltene Erscheinung gewesen, und selbst unsere, sonst so reichhaltige deutsche Literatur ist meiner Meinung nach relativ noch arm und gerade auf diesem Felde mit geringem Glücke angebaut. Da ferner die niederdeutschen Dialekte in unserer Literatur fast noch gar nicht vertreten sind! so kommt zu allem Obigen in Ihren Schriften auch das hohe Interesse der Sprache. So werden Ihre Werke durch die äußere Form noch später der allgemeinen wie der vergleichenden Sprachforschung feste Anhaltspunkte bieten, während Sie durch ihren Inhalt die Norddeutsche Kulturgeschichte wesentlich fördern werden.

Wenn in unserm engen Vaterlande so Bedeutendes geleistet wird, so hat die Landesuniversität nicht nur das Recht, sondern die Pflicht ihre Anerkennung öffentlich auszusprechen. Wir tun dies hierdurch mit um so größerer Freude, da auch in unserer Mitte kein Einziger ist, der Ihre Werke nicht mit wahrem Vergnügen und zum Teil wiederholt gelesen hätte.

Ich wünsche, dass Ihnen Herr Doktor diese öffentliche Anerkennung Ihrer trefflichen Leistungen Freude machen möge, haben doch Sie durch Ihre Werke Tausenden eine wahre Freude bereitet. Mit aufrichtiger Hochachtung verharre ich
Ew. Hochwohlgeboren
ergebenster
Rostock, den 25. März 1863. F. B. Fritzsche.

In der Motivierung des gleichzeitig überreichten Ehrendiploms d. d. 10. März 1863 heißt es: Qui Vir Et Dialectum Patriam Et Sensus Animi Patrios Callet Quem Eundem Gratiae Jpsae Musis Conjunctae Jocis Miscere Seria Docuerunt Cujus Scriptoris Quum Alia Opera Tum Etiam Libum Aureolum Huncce „Olle Kamellen“ Germania laudat Universa. *)

Das hierauf am 26. März eingegangene Dankschreiben Reuters lautet:

Hochwohlgeborner Herr, Hochgeehrtester Herr Professor! Ja, Sie haben mir eine große Freude gemacht, oder besser — eine große, freudige Überraschung, denn bei den geringen Verdiensten meiner literarischen Tätigkeit, deren Mängel ich mir hinlänglich bewusst bin, konnte ich unmöglich eine so freundliche und ehrende Anerkennung von Seiten der gelehrtesten und würdigsten Corporation meines engeren Vaterlandes auch nur in weitester Ferne zu hoffen wagen.

Und welche helle Jugendfreude der Erinnerung musste es mir noch besonders sein, durch Ihre Vermittlung als Dekan der hohen philosophischen Fakultät, diese Auszeichnung in Empfang zu nehmen und Ihren hochgeehrten Namen unter der Ausfertigung des Diploms zu finden, da Sie von allen mir damals bekannten, geliebten und geehrten Männern der Einzige sind, der seit meiner in das Jahr 1831 fallenden Studienzeit in Rostock fortgefahren hat, daselbst unermüdlich die Jugend in die Wissenschaften einzuführen. — Mit der lebendigen Erinnerung junger Jahre gedenke ich jener Zeit, in welcher ich, — damals studiosus juris — es zuweilen wagte, mit meinen Freunden Ladewig und Schiller und meinem Vetter Reuter in Ihren Vorlesungen über den Aristophanes als demütiger Hospitant zu erscheinen.

Mögen Sie noch lange dem Vaterlande und der Wissenschaft in Ihrer segensreichen Wirksamkeit erhalten bleiben und erlauben Sie mir, bei meiner in Aussicht stehenden Anwesenheit in Rostock diesen Wunsch und meinen Dank persönlich besser auszusprechen als dies auf dem Papiere möglich ist.

Aber nun, mein hochverehrtester Herr Professor, habe ich noch eine Bitte: mir sind nämlich die Formalien, wie dieselben bei einem Danke für eine so hohe Ehre im Gebrauche sind, völlig unbekannt, und die Herren doctores hiesiger Stadt wissen mir in diesem Falle auch nicht zu raten; ich frage daher ergebenst bei Ihnen an, ob es gebräuchlich ist, dass man noch besondere Schritte in dieser Richtung tut, oder ob Sie die Güte haben werden, meinen dankbaren Gefühlen als freundlicher Dolmetsch bei der hohen Fakultät zu dienen.
Verzeihen Sie diese Unbeholfenheit
Ihrem
ganz ergebensten Fritz Reuter.
Neubrandenburg, den 26. März 1863.

Gleichzeitig richtete Fritz Reuter ein Danksagungsschreiben an den Kanzler der Universität Se. Kön. Hoh. den Großherzog, dessen Wortlaut ich hier nach dem bei den Akten des Großherzoglichen Kabinetts befindlichen Originale mit Allerhöchster Genehmigung mitteile:

Allerdurchlauchtigster Großherzog,
Allergnädigster Großherzog und Herr! Durch den Dekan der philosophischen Fakultät der Landes-Universität Rostock ist mir die Ernennung zu der Würde eines Doktors der Philosophie und Magisters der freien Künste honoris causa zugegangen. Ew. Königliche Hoheit haben die hohe Gnade gehabt, diesen mich über Verdienst ehrenden Facultäts-Beschluss zu bestätigen. — Wie soll ich würdig meinen Dank abstatten? — Es wird mir schwer werden in der Gemütsverfassung, in welcher ich mich nach dieser Auszeichnung befinde. — Denken Sie sich, Königliche Hoheit, einen Humoristen in einer Doktor-Robe! wie er das ungewohnte Gewand nicht zu tragen weiß, bald es der Würde wegen lang nachschleppen lässt, bald es ungebührlich bis über das Knie aufschürzt der freieren Bewegung wegen; es ist schon eine schlimme Situation. Aber nun denken Sie sich ferner, dass meine ganze Häuslichkeit in Sitten und Gewohnheiten dadurch alteriert ist. Sonst nannten meine Frau und ich uns „Fritz" und „Louise" — kam auch wohl einmal „Fritzing“ und „Wising“ vor — nun nennen wir uns „Herr Doktor" und „Frau Doktorin“, um uns in die neue Würde einzuüben. Das ist schon schlimmer! Aber am schlimmsten ist es, dass mir grade diese neue Würde unter den hohen Auspizien Ew. Königlichen Hoheit von der mecklenburgischen Landes-Universität zugegangen ist, mir, der ich vor Jahren durch äußere Umstände gezwungen worden bin, ein Preuße zu werden, und dessen Herz sich immerfort wieder nach Mecklenburg gezogen fühlt. — Ich bin in einer großen Verwirrung: soll ich Ew. Königliche Hoheit als fremden Fürsten betrachten,
oder soll ich meinem Herzen folgen und Höchstsie als meinen Landesherrn und Landesvater anzureden wagen? — Ich glaube, ich tue am besten, jenem Führer zu folgen, der in einer aufrichtigen Brust nicht so leicht veränderlich ist, als man in der beweglichen Zeit dieser Tage zu glauben scheint, ich folge meinem Herzen und sage Ew. Königlichen Hoheit als meinem Allergnädigsten Landesvater meinen innigsten Dank! —

Personen, die es wissen können und mir freundlich gesinnt sind, haben mich versichert, dass Ew. Königliche Hoheit in den Stunden der Muße Notiz von meinen Schriften genommen und an einigen derselben Gefallen gefunden haben; eine solche Aufmunterung zum weitern Schaffen wird selten einem Schriftsteller zu Teil und auch dafür statte ich Ew. Königlichen Hoheit meinen tiefgefühlten Dank ab.

Und so will ich denn in Gottes Namen mit neuem Mute — selbst als Doktor der Philosophie — fortfahren, meine einfachen, vaterländischen Geschichten in vaterländischer Sprache zu erzählen und die Fritz Sahlmanns und Bräsigs und Webers in Ew. Königlichen Hoheit Staaten auch über die Grenzen des Vaterlandes hinaus zu Ehren zu bringen, und bitte Gott, dass er Ew. Königlichen Hoheit segensreiche Regierung noch lange währen lassen möge, damit diese treuherzige und fröhliche Art von Landeskindern unter der Sonne derselben gedeihe und für die Schriftsteller meines Schlages neue Originale wie die Spargel im Frühjahre aufschießen mögen
In tiefster Ehrfurcht verharre ich als
Ew. Königlichen Hoheit
alleruntertänigster
Fritz Reuter.
Neubrandenburg, den 26 März 1863.

Neubrandenburg hat Fritz Reuter, obgleich die Fama ihn dort einmal (1858) sterben ließ*), unsterblich gemacht. Seine besten Werke sind hier entstanden; nachdem Reuter auf dem Durchgange durch soviel andere Stadien zuvor in Fühlen und Denken zum plattdeutschen Dichter und Humoristen herangereift, begann hier die eigentliche Zeit der Frucht. Insofern hat Neubrandenburg ein Recht, sich einen hervorragenden Platz in der Geschichte des Dichters einzuräumen.

*) Die erste Nachricht von dem Tode Reuters brachte ein Stralsunder Blatt, aus dem sie dann in die meisten Blätter Norddeutschlands überging, Reuter dementierte dieselbe in humoristischer Form.

Von Neubrandenburg unternahm Reuter wiederholt kleinere und weitere Reisen, nicht nur um neue poetische Anregung zu erhalten, sondern auch um sich mit — Politik zu befassen. Zeigte auch Fritz Reuter damals keine bestimmte politische Färbung, so stand er doch dem Nationalvereine mit seinen jetzt verwirklichten Idealen am nächsten und nahm wiederholt an den Versammlungen desselben Teil.*)

*) Auf einer dieser Reisen zur Versammlung des National-Vereins in Lübeck traf Reuter mit einem seiner früheren Lehrer, dem Pastor Loescher aus Güstrow, zusammen und erzählte demselben gelegentlich mit vielem Behagen eine soeben gehörte Anekdote, die auch in „Ut mine Stromtid" aufgenommene Geschichte von dem „Frugensminsch Mine Sterium". Auf der nächsten Station trennte sich Reuter von seinem älteren Freunde, um noch einen „Abstecher" irgendwohin zu machen. Statt seiner stieg der gleichfalls auf der Reise nach Lübeck begriffene Rektor Reinhard ein. Arglos erzählte ihm Loescher die eben vernommene köstliche Anekdote, und Reinhard hatte nichts Eiligeres zu tun, als in Lübeck sofort dem Reuterschen Freundeskreis die Geschichte mitzuteilen. AIs nun später Reuter die Anekdote zum Besten geben wollte, tönte ihm allseitig entgegen: „Na, Reuter, de olle Geschicht! de kenn’n wi all lang'n!"

Blieb er so der Politik keineswegs fern, so ließ er sich doch niemals zu politischen Dichtungen verleiten; dazu dachte er von diesem Genre der Poesie zu gering. Es liegt mir ein Brief vor an seinen schon auf S. 202. erwähnten Landsmann Rudolph Samm, der sich damals mit politischen Dichtungen beschäftigte und für den sich Reuter interessierte. Der Dichter knüpft in diesem vom 21. August 1860 datierten Briefe an einige ihm übersandte Gedichte Samms an und sagt:

„— — — — In dem ersten Gedichte haben Sie mit den Wortspielereien „Baum, Garten, krabbeln etc." einen Abweg betreten; der Wortwitz ist kein Witz, er ist die Erbschaft eines sittlich und literarisch verkommenen Schriftstellers — Saphirs — der längst gerichtet ist. Meiden Sie das! — Sie haben sich die politische Poesie als Feld gewählt — ein steriles Feld! — es ist weder Natur darin, noch Menschenleben, Sie werden es bald verlassen. Ist aber der politische Drang in Ihnen so stark, dass er das taedium überwindet, so beachten Sie freundlichst zwei Dinge: Hüten Sie sich vor Nachahmung der Kladderadatsch-Gedichte (sie werden nicht auf die Nachwelt kommen, finden keinen Eingang ins Volk und sind elektrische Funken, denen kein Donnerschlag folgt) und behandeln Sie nicht so allgemeine Stoffe, wie in diesen beiden Proben. Greifen Sie sich ein kleines rundes Stück Thema aus der ganzen Masse heraus und behandeln Sie dasselbe epigrammatisch-kurz, so dass die Pointe in dem Schlusse liegt."

Im Anschluss hieran mag noch erwähnt werden, dass unser Dichter während seiner Neubrandenburger Zeit auch zu publizistischer Tätigkeit aufgefordert wurde. Durch Vermittlung des damals in Schwerin weilenden Herrn Samm wurde nämlich Reuter im Anfang des Jahres 1862 um Neubrandenburger Korrespondenzen für die „Mecklenburgische Zeitung" ersucht. Er lehnte dies unter dem 27. Januar ab, da er einmal sich „zu diesem Geschäfte so schlecht wie möglich eigene“, außerdem aber „mit dem Fluche behaftet" sei, „gewöhnlich das, was in seiner nächsten Nähe passiere, erst aus auswärtigen Zeitungen zu erfahren"; gleichzeitig aber hatte er eine geeignetere Persönlichkeit für dieses Referentenamt ausfindig gemacht.

Endlich datiert auch aus diesem Lebensabschnitt Reuters Bekanntwerden mit dem Manne, welcher später soviel zur Verbreitung seines Ruhmes in Deutschland beitrug, den bis jetzt unübertroffenen Reutervorleser Karl Kraepelin, welchem der Dichter selbst einmal, als jener einen Abschnitt aus einem seiner Werke vorlas, mit Tränen im Auge, „bei seinen eigenen Kohlen zerschmelzend das Buch aus der Hand riss mit den Worten: „Dat steiht dor nich!" Kraepelin, ein geborener Neustrelitzer, weilte damals noch in seiner Vaterstadt.

Neubrandenburg zu verlassen und sich einen stilleren Aufenthaltsort zu suchen, wurde Reuter vor Allem durch die Rücksicht auf seine Gesundheit veranlasst. Dass aber die Wahl der neuen Heimat auf das Thüringerland fiel, ist bei dem großen Reize, den letzteres von jeher auf den Dichter ausgeübt, und den freundlichen Jugenderinnerungen, welche sich für ihn mit diesem Stück deutscher Erde verbanden, leicht erklärlich. Oftmals schon hatte er in letzterer Zeit seinen Weg nach Thüringen gelenkt — so u. a. im August 1858, als er zum 300jährigen Jubiläum der Universität nach Jena zog, (vgl. darüber Arnold Wellmers anziehende Schilderung in „Bruder Studio!") —, jetzt sollte er der Sitz seines Alters, seine letzte Ruhestätte werden!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz Reuter. Sein Leben und seine Werke.
Neubrandenburg - Die Marienkirche um 1800

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Neubradenburg - St. Georgen-Kapelle

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Neubrandenburg, Rathaus

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Neubrandenburg, Tollensesee

Neubrandenburg, Tollensesee

Neubrandenburg, Das Treptower Tor

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Neubrandenburg, Wickhäuser in der Stadtmauer

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Neubrandenburg, Dangel-Turm

Neubrandenburg, Dangel-Turm

Neubrandenburg, Das Neue Tor

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Neubrandenburf, Das Stargarder Tor

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Die Gebrüder Ernst und Franz Boll in Neubrandenburg

Die Gebrüder Ernst und Franz Boll in Neubrandenburg

Hahn, Heinrich Neubrandenburg

Hahn, Heinrich Neubrandenburg

Reuter, Fritz und Frau in Neubrandenburg

Reuter, Fritz und Frau in Neubrandenburg

Reuter-Denkmal in Neubrandenburg

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Reuters dritte Wohnung in Neubrandenburg

Reuters dritte Wohnung in Neubrandenburg

Reuters erste Wohnung in Neubrandenburg

Reuters erste Wohnung in Neubrandenburg

Reuters zweite Wohnung in Neubrandenburg

Reuters zweite Wohnung in Neubrandenburg

Schelper, Theodor als Bräsig

Schelper, Theodor als Bräsig

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