De Festungstid (1833—1840)

Un wat wie denn dahn? – Nicks, gor nicks.
Blot in uns’ Versammlungen un unner vir Ogen
Hadden wie von Ding’ redt, de jetzt up apen Strat
Fri utschrigt warden, von Dütschlands Friheit und
Einigkeit, äwer taun Handeln wiren wie tau swack,
taun Schriwen zaun dumm, dorüm folgten wi de
olle dütsche Mod’, wie redten blot doräwer.
„Ut mine Festungstid“ Kap. 3.

Traurige Zeiten sind es, von denen die nachfolgenden Blätter berichten sollen, Zeiten, die zwar Gott sei Dank! für uns, überstanden sind und — so dürfen wir hoffen — nimmer wiederkehren, bei deren Gedächtnis aber wir uns des Unwillens und der Wehmut nicht erwehren können. Was hatten denn, fragen wir mit Fritz Reuter, jene Jünglinge, die man in bester Jugendkraft dem Gefängnisse überlieferte, was hatten sie weiter begangen, als das zu erwünschen und zu hoffen gewagt, für welches nicht zu erglühen, heute als Makel bezeichnet wird: ein einiges Deutschland? — „Aber sie hatten das Ziel ihrer Sehnsucht mit Gewalt herbeiführen wollen". — Allerdings, sie haben in ihren Versammlungen von energischen Maßnahmen gesprochen, diese und jene Parole ausgegeben, aber waren denn einige Hundert schwärmerisch begeisterte, in politicis jedoch höchst unpraktische Studenten eine zu fürchtende Macht, konnten sie für sich allein „die Welt anstecken und entzünden", falls sie es wirklich gewollt hätten, vermochten sie etwas ohne das Volk und hatten sie von diesem auch nur die mindeste Unterstützung zu gewärtigen? Wir müssen mit Nein und immer wieder mit Nein antworten. Im großen Volke hatten die Bestrebungen dieser jugendlichen Gefühlspolitiker keinen Boden — wenn die, jenem so fern stehende, akademische Jugend in dieser Richtung erfolgreich wirken wollte, so musste sie sich wie ein Mann erheben und durch ihr eigenes Beispiel für ihre Ideen Propaganda machen, was bekanntlich nicht der Fall war. Ferner: über die Wege, welche sie zur Erreichung ihres Zieles einschlagen, die Art und Weise, wie sie die Einheit Deutschlands organisieren wollten, darüber waren sich die deutschen Burschenschafter noch lange nicht klar, und als sie sich endlich — beim Frankfurter Attentat — zum Handeln überzugehen veranlasst fühlten, geschah es in einer ziemlich ungeschickten Form, die keineswegs dazu angetan war Besorgnisse zu erregen. Gefährlich waren also jene Fanatiker der Einheit nicht und am wenigsten in einem Lande wie Deutschland, wo seit 1815 die Polizeieinrichtungen vortreffliche waren und das Volk sich noch lange nicht von der Erschöpfung der Kriegs- und Siegesjahre erholt hatte. Nur ein Politiker wie der vielgewandte Staatsmann an der Donau, der bei jedem, auch dem leisesten, Lufthauch, welcher über das mit soviel Sorgfalt und Kunst in die „Ruhe eines Kirchhofes" versetzte Deutschland dahinzog, den Boten eines die auf unsicherem Boden errichteten Gebäude seiner Politik vernichtenden Sturmes witterte, nur ein Metternich konnte in diesen Vorgängen Grund zu ernsten Befürchtungen erblicken und sich veranlasst fühlen das Hifthorn zu einer neuen Demagogenhatz erschallen zu lassen. Der Ruf wurde in ganz Deutschland gehorsamst vernommen und man beeilte sich demselben Folge zu leisten. Hunderte von deutschen Jünglingen wanderten in die Kerker, die das Grab ihrer körperlichen oder geistigen Gesundheit, in vielen Fällen auch beider, werden sollten, Lebenspläne und Lebenshoffnungen wurden unbarmherzig zerstört, und manches Vater- und Mutterherz brach vor Kummer. Ja, sie haben schwer gelitten, die Idealisten der dreißiger Jahre, dafür hat aber auch die Idee, für welche sie geduldet, in unseren Tagen glänzend triumphiert, und gerade der Staat, welcher den größten Eifer beim Verfolgen der Vorfechter der Einheitsidee betätigte, gerade er sollte dereinst die Verwirklichung dieses Gedankens herbeiführen. Die deutschen Burschenschafter und ihre Anhänger waren zu sehr Gefühlspolitiker, um einen praktischen Erfolg zu erreichen, aber sie haben in einer Zeit der politischen Stagnierung durch ihre jugendliche Glut den nationalen Gedanken wachgehalten und so ihrerseits mitgewirkt an dem großen Werke, welches nach langen Irrungen, wiederholten Enttäuschungen, schweren Leiden und blutigen Kämpfen dem deutschen Volke endlich gelungen ist. Das möge ihnen ein dankbares Vaterland nimmer vergessen!


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Während im übrigen Deutschland schon energisch mit Verhaftungen gegen die Mitglieder der Burschenschaft vorgeschritten wurde, saß Fritz Reuter unbehelligt im Vaterhause zu „Stemhagen" und lag, zum ersten Male vielleicht, seitdem er Studiosus war, mit Eifer seinen Studien ob. Der Sommer 1833 verging, unsern Fritz schien man in der Tat gänzlich vergessen zu haben oder ihn doch nicht für einen der gefährlichsten Missetäter zu halten, welche man baldmöglichst hinter Schloss und Riegel setzen müsste.
Hierdurch sicher gemacht, überredete er seinen Vater ihn im Oktober die Universität Leipzig beziehen zu lassen, und Bürgermeister Reuter, der selber nicht mehr an eine ernstliche Gefahr glaubte, gab seine Einwilligung. Gegen Ende des Oktobermonats begab sich Fritz Reuter mit einem mecklenburgischen Studienfreunde auf die Reise nach Leipzig. Dort angelangt, wurden beide jedoch sofort als verdächtige Individuen zurückgewiesen und sahen sich dadurch veranlasst schleunigst die Stadt wieder zu verlassen. Unschlüssig, wohin er sich wenden solle, ob zurück nach Mecklenburg oder nach einer anderen Universität, kam der nun selbst etwas beunruhigte, an die Möglichkeit einer Verhaftung außerhalb des Heimatlandes aber noch immer nicht denkende Dichter nach Berlin. Inzwischen hatten auch bereits Reklamationen seitens der mecklenburgischen Regierung bei dem Vater in Stavenhagen stattgehabt, welcher, wohl wissend, dass eine Inhaftierung seines Sohnes und die darauf folgende Untersuchung sich innerhalb Mecklenburgs weit günstiger für jenen gestalten würde, sofort seinen damals noch in Berlin konditionierenden Neffen Ernst beauftragt hatte, Fritz, falls dieser dorthin kommen sollte, ungesäumt von diesen Vorfällen in Kenntnis zu setzen und ihn nach Hause zu dirigieren. Wer sich aber weder bei Ernst noch sonst einem der dortigen Verwandten sehen ließ, war unser Dichter. Ohne auf wiederholte Warnungen seiner Freunde zu achten und vertrauend auf seine Ausnahmestellung als Nicht-Preuße, schwärmte er einige Tage ungeniert vor den Augen der Berliner Polizei umher, die ihn vorerst sicher werden ließ, um darauf desto erfolgreicher gegen ihn vorgehen zu können. Alle Bemühungen Reuters dann noch dem drohenden Unheil zu entgehen waren vergebens, das Netz um ihn hatte sich schon so eng zusammengezogen, dass an ein Entrinnen nicht mehr zu denken war. Sich bald bei diesem, bald bei jenem Freunde bergend, wusste er zwar seine Verhaftung noch eine Zeitlang hinzuhalten, eine Flucht aber konnte er nicht mehr bewerkstelligen, und so wurde er denn schließlich am 31. Oktober 1833 *) arretiert, nach einem Berichte: in einer entlegenen Kneipe, wohin er sich vor seinen Verfolgern geflüchtet, nach anderen Angaben: in einer Droschke, welche ihn dem Bahnhofe zuführen sollte. Man brachte ihn in die Stadtvogtei, wo er bis Neujahr 1834 verblieb, um alsdann dieses Gefängnis mit der Hausvogtei zu vertauschen.

*) Ich gebe dieses Datum nach einem im Folgenden mitzuteilenden Brief Reuters. Nach der gewöhnlichen Angabe in den Biographien wäre er erst im November verhaftet worden.

Unter Leitung eines geriebenen Inquirenten, des Kriminalrats Dambach, der sich durch diesen Prozess eine gute Beamtenstellung, zugleich aber eine traurige Berühmtheit erwarb, begann nun die Untersuchung, welche für die Demagogenverfolger die günstigsten Resultate lieferte, denn Wambach brachte aus den Inculpaten alles heraus, was er wollte, nicht nur was sie getan, nein auch was sie gedacht und gefühlt hatten. Als Lohn für diese Aufrichtigkeit spendete er süßen Trost, indem er u. a. zu Reuter äußerte: „Lassen Sie sich immerhin auf die Festung abführen, Sie müssen entschieden an Ihr Vaterland ausgeliefert werden." Würdig zur Seite stand dem Herrn Kriminalrat der später dem Wahnsinne verfallene Referent Tzschoppe, der so lange in den Akten wühlte, bis er endlich den „Conat des Hochverrates" ausfindig gemacht hatte. Ihren Verteidiger durften sich die jungen „Demagogen" nicht selbst wählen, er wurde ihnen von Gerichtswegen bestimmt. Wie sehr diesen Defensoren das Wohl ihrer Klienten am Herzen lag, beweist die von Fritz Reuter gemachte Erfahrung. Sein Anwalt, der ihn versichert hatte, er müsste an Mecklenburg ausgeliefert werden, beantwortete keinen der Briefe, welche der unglückliche Jüngling an ihn absandte.
Die Untersuchungshaft in der Hausvogtei war eine sehr strenge. Die „Hochverräter" wurden hier wie die gemeinsten Verbrecher gehalten. „Herute reten ut dat schöne, junge, frische Studentenlewen, üm achter Bleckkasten, Slot un Rigel jeden Sünnenstrahl von Leiw tau vermissen, üm as 'ne Dreiörgel, de dagdäglich mit twölw Gröschen in Pust un in Gang hollen würd, de Melodie uptauspelen, de de Herr Kriminalrath Dambach vört hochpreißliche Kammergericht singen wull, dormit dat hei sin beter Furtkamen sinnen wull", ein hoffnungsberaubter Jüngling, ein willenloses Werkzeug hat Reuter hier Seelenqualen erduldet, von denen uns seine Schilderung in „Ut mine Festungstid" nur eine schwache Vorstellung verschafft. Was dem Gefangenen das Herz hätte erleichtern können, wurde ihm verwehrt. Er durfte sich nicht aussprechen, nicht einmal schreiben sollte er, was er empfand. So war er denn genötigt sich heimlich selbst ein Schreibzeug herzustellen. Ein Kienspan aus der Diele diente als Feder. „Tau Wihnachten hadd ik en por Wallnät kregen, ik hadd de Nätschellen brennt un mi dorut 'ne Ort Tusch makt, mit de hadd ik schrewen, natürlich heimlich! Nicks Böses hadd ik schrewen, nicks, wat gegen de Husordnung was, blot Gedichte — slichte Gedichte, worin de Wuth utbrök, worin de ganze Bitterlichkeit von mine Lag' ludhals' schreg, worin ik dat beten Welt in Grus un Mus tausam slagen un mi dennahsten as „Herrgott der zweite" up desen Schutt etabliren wull. Taum Glück för de Welt is dit Allens verluren gahn, un taum Glück för mi klingen dese Gedichte in minen Harten nich mihr wedder, sülwst de Fedder, de Keinspohn, mit de ik dit Allens schrewen heww, un de ik Johre lang as Andenken uphegt heww, is von Mariken Gramkows in Treptow mal as en gewöhnlichen Spohn taum Anbäuten in en Aben vernutzt worden. — Wenn mi äwer Einer mal besäuken süll, denn kann ik em doch wat Schriftlichs ut dese Tid wisen: „die Tochter Jephtas" von Byron, de ik ut den Gedächtnis dal schrewen heww. —Byron was tau dunnmalen min Mann."*)

*) Vgl. „Ut mine Festungstid“. 4. Auflage. Pag. 120

Reuters Vater wie die Berliner Verwandten des Dichters, unter ihnen der hochverehrte Schulvorsteher Marggraf, waren währenddes nicht müßig gewesen, sie hatten schriftlich und mündlich bei der preußischen wie der mecklenburgischen Regierung versucht Fritzen’s Auslieferung an Mecklenburg zu bewirken. Alles vergeblich; Fritz blieb in preußischer Haft und wurde, ehe noch das Urteil gefällt war*), am 15. November 1834 auf die Festung Silberberg gebracht. Zu den Qualen, welche ohnehin schon die Brust eines lebenskräftigen, lebensfrohen und nun plötzlich von diesem schönen Leben abgeschnittenen Jünglings durchwühlten, gesellte sich die schreckliche Pein der Ungewissheit über die Zukunft. Wie lange noch werden die Richter mit dem Urteilsspruch zögern und was wird ihr Mund ihm dereinst bringen; wird der treue Vater diesem Angriff auf seine Seele widerstehen oder wird er vor Gram in die Grube sinken? Das waren die Sorgen, welche jetzt als unermüdliche Quälgeister in Reuters Brust ihren Einzug hielten. Die Umgebung konnte auch nicht dazu beitragen, sein Gemüt zu erheitern. Er saß in einer düsteren Kasematte, unter ihm brauste und heulte der Sturmwind durch den langen unterirdischen Gang, der sich durch die ganze Festung zog, links von seinem Gefängnis war die Festungskirche, hinter ihm ein dunkles Loch, in welchem der Raubmörder Exner, von dem uns Pitaval erzählt, in Ketten und Banden gesessen hatte.**)

*) So muss ich entgegen den Angaben Slagaus und anderer Biographen berichten, welche Reuter erst nach dem Silberberg transportieren lassen, nachdem ihm bereits sein Urteil gesprochen, denn wie aus dem schon erwähnten, bald folgenden Brief des Dichters vom Silberberg d. d. 31. Oktober 1836 erhellt, kannte Reuter damals, also nach fast einjähriger Haft auf dieser Festung, sein Urteil noch nicht, erwartete es auch nicht vor dem nächsten Jahre. Das Gleiche ergibt sich aus einem im Nachstehenden ebenfalls mitzuteilenden Schreiben des preußischen Justizministers von Kamptz.

**) Vgl. „Ut mine Festungstid“ pag. 28.

Es war eine elende, durch körperliches Leiden noch Verschlimmerte Lage, in welcher sich der junge Reuter befand, und von der durch sie erzeugten Verzweiflung ist auch der nachstehend wiedergegebene Brief diktiert, welchen Reuter am dritten Jahrestage seiner Verhaftung, am 31. Oktober 1836, an den Vater richtete. Wie aus demselben hervorgeht, hatte Bürgermeister Reuter die Absicht, ungeachtet der Erfolglosigkeit seiner bisherigen Schritte, noch einen neuen Versuch zu machen, um den geliebten Sohn zu befreien oder wenigstens seine Auslieferung an die Regierung des Heimatlandes zu erreichen, und hatte zu diesem Zwecke sich von dem letzteren einige Mitteilungen über seine Teilnahme an den Bestrebungen der Burschenschaft erbeten. Fritz Reuters Antwort lautete:

Silberberg, den 21. Oktober 1836,
Mein lieber Vater,
Wenn ich dem obigen dato fluchen sollte, so wäre es mir wenigstens zu verzeihen und ich würde es tun, wenn ich nicht bedächte, dass der Tag, der mich vor drei Jahren in den Kerker warf, vielleicht eine Menge von Menschen beglückte; mich hat er namenlos unglücklich gemacht, er hat mir Gesundheit und Lebensglück und was noch schlimmer ist auch Lebensmut geraubt. Darum bitte ich Dich herzlich, lass, Deinen Bestrebungen mir die Freiheit zu verschaffen nur noch einen letzten Versuch folgen und dann höre auf Deine Zeit und Dein Gemüt mit einer Chimäre zu plagen, die ebenso fabelhaft und monströs ist, wie die der Mythologie. Ich bin auf dem Wege mir einen passiven Mut zu verschaffen, dessen Höhepunkt völlige Apathie sein wird, und wenn dies Bestreben für einen Menschen, der im Genusse seiner Freiheit ist, etwas schreckliches und sogar sündliches enthält, so ist es für einen Gefangenen nicht allein zuträglich, sondern, wie ich glaube, mit der Moral völlig übereinstimmend, wenigstens für einen Gefangenen meiner Klasse.

Um dich aber in den Stand zu setzen diesen letzten Versuch zu machen, so will ich Dir, so gut es geht, alle möglichen Materialien zusammengefasst kurz angeben: Die Mecklenburger sind zu zwei Jahren verurteilt; aber in Preußen ist es anders. Gleich nach unserer Abführung nach Silberberg fragte B. bei seinem Verteidiger an, wie das Urteil wohl lauten könne, und erhielt zur Antwort: zwei von den Greifswaldern würden wahrscheinlich zum Tode verurteilt, er selbst zu 30 Jahren, die andern zu respektive 25 und 15; die Jenenser sind nun vielleicht noch ärger inkulpiert und so komme ich zu dem Schlusse, dass ich wohl ihr Geschick teilen werde; übrigens bin ich vielleicht weniger oder doch nur eben so stark beteiligt, wie die übrigen Mecklenburger.“ - - [Es folgen hier Notizen über einige andere gleichfalls verhaftete Mecklenburger und ihr Verhältnis zur Jenenser Verbindung, welche ich der darin angeführten Namen von noch lebenden Persönlichkeiten wegen unterdrücke. Was für uns daraus wichtig, ist, dass Reuter niemals im Vorstande der Germania gesessen hat. Von jenen mecklenburgischen Verbindungsgenossen meint Reuter dann weiter, müsse ihm auch noch der Umstand zu statten kommen, dass er in Jena selbst schon zu einer Zeit, wo noch gar keine Untersuchung eingeleitet gewesen, aus der Burschenschaft freiwillig austrat. Über die Tendenzen seiner Verbindung fährt er dann fort:] „Unsere Absichten waren auf keinen bestimmten Staat gerichtet, sondern auf alle Staaten in Deutschland; ich bin nie mit einer politischen Mission beauftragt und habe nie privatim eine dergleichen ausgerichtet. Ich bin ferner der einzige Ausländer in Preußen, der verhaftet ist ohne in Preußen studiert zu haben oder der sich politische Verbrechen in demselben hat zu Schulden kommen lasten. Sollte nun der neueste Bundestagsbeschluss in Anwendung gebracht werden, so habe ich keine Hoffnung zur Auslieferung, was aber wohl einen alten Rechtsgrundsatz umstoßen heißt und was natürlich eine unüberwindliche Bitterkeit in meinem Herzen zurücklassen muss.

Alles Obige ist getreu der Wahrheit gemäß, und Du kannst getrost jeden beliebigen Gebrauch davon machen. Den Arzt habe ich um ein Attest gebeten, ob er mir eins geben wird und wie dies beschaffen sein wird, weiß ich noch nicht, sobald ich es habe, sende ich es Dir zu. Und nun noch einmal die Bitte, schlägt dieser Versuch fehl, so lasst es gehn, wie es geht, es wäre Unrecht an Dir selbst und an den Schwestern gehandelt, wenn Du Deine Kräfte auf eine hoffnungslose Sache verwenden wolltest, und die, wenn sie gelänge, Dir nur einen Schatten von Deinem früheren Sohn zurückbringen würde.
Schreib mir Neuigkeiten fernerhin von unserer Familie, ich werde Dir darauf antworten und Dein, sowie ihr Andenken wird die einzige Freude für mich sein. Unser Erkenntnis wird hoffentlich zukünftiges Jahr erscheinen, da wird sich ja vieles lösen und aufklären. Am 7. kommenden Monats ist mein Geburtstag (der 4. im Gefängnis); ich werde dann freundlich an Euch denken und an die vielen kleinen Beweise von Liebe, die ich in den Jahren der Kindheit von Euch erfuhr, die gewiss mehr wert sind als alle die schönen Versprechungen, die ich Dir an diesem Tage gemacht habe, und von denen so wenige verwirklicht sind.
Lebe wohl und Grüße an Alle, vorzüglich an Lisette*); was sie mir geschickt, habe ich richtig erhalten.
Dein
F. Reuter.

*) Reuters Schwester stand damals und bis zu ihrer Verheiratung (1850) dem Hausstande des Vaters vor.

Diesen Brief, welcher die ganze düstere Seelenstimmung des Dichters wiederspiegelt, übergab der bekümmerte Vater seinem Freunde, dem späteren Landdrost v. Lowtzow, der in dem Zeitraum von 1833 bis 1848 als erster Beamte des Stavenhagener Domanialamtes fungierte und sich bereits wiederholt für Fritz Reuter in Schwerin verwandt hatte, v. Lowtzow ging nun direkt an den preußischen Justizminister v. Kamptz in Berlin. Aus seinem mir im Brouillon vorliegenden Schreiben, dem der eben mitgeteilte Brief Fritz Reuters beigefügt war, entnehme ich: v. Lowtzow erinnert die Exzellenz zunächst an das gemeinsame engere Heimatland Mecklenburg, beruft sich auf seinen, auch dem Minister bekannten Vater und erweckt endlich Reminiszenzen an die Zeit, während welcher v. Kamptz im Hause seines eigenen Vaters, damals ersten Beamten des Stavenhäger Amtes, also in dem jetzt von dem Adressanten bewohnten Amtshause weilte, d. h. an seine Kinderzeit. Dann zur Sache übergehend, bemerkt der Schreiber, dass ihn zu diesem Schritte vor Allem der bemitleidenswerte Gemütszustand des tiefgebeugten Vaters veranlasse. Den Sohn kennt er selbst nicht, hörte aber allgemein in Stavenhagen, „dass er eine große Gutmütigkeit und Herzensgüte stets betätigt haben soll". Dem Petenten liegt es nun fern um Gnade für den jungen Reuter zu flehen oder den Lauf der Instanz für ihn hemmen zu wollen, nein, er bittet nur denselben möglichst beschleunigen zu lassen und womöglich in eine Auslieferung des Inculpaten an sein Vaterland zu willigen. „Der Vater", heißt es dann weiter, „ist darüber, dass das Urteil über seinen unglücklichen Sohn immer noch nicht erfolgt, dass er ohne ein solches zu erhalten, schon länger als 3 volle Jahre im Kerker schmachtet und beinahe verzweifelt, tief bekümmert, und wird ihn stiller, tiefer Gram hierüber ohnfehlbar schneller zum Grabe reifen." Über die bisher in dieser Angelegenheit gemachten Versuche bringt dann der folgende Passus Nachricht: „Da so viele Mecklenburger doch ausgeliefert worden, ihr Urteil längst empfangen, ihre Strafe beinahe gebüßt haben, so wandte ich mich dieses jungen Reuter wegen zuvörderst an ein Mitglied unserer Regierung in Schwerin und erhielt zur Antwort, dass die Königl. Preußische Regierung auf die Auslieferung des jungen Reuter nicht eingegangen sei, die hiesige diese Sache dermalen habe fallen lassen und der Vater weitere Anträge machen müsse.“ - Das binnen Kurzem, am 25. November, eingegangene Antwortschreiben des Ministers lautete:

Berlin, 25. November 1836.
Eurer Hochwohlgebornen
gütiges Andenken vom 22. d, M. ist mir äußerst erfreulich, wenn gleich die Veranlassung mich tief schmerzt. Ew, Hochwohlgeboren danke ich für das erstere um so mehr, als ich demselben nähere Nachrichten über die Lebensverhältnisse eines alten, mir unvergesslichen Freundes verdanke und dadurch Gelegenheit erhalte ihm zu einer Laufbahn und zu einer Stelle Glück zu wünschen, die stets in meinen votis carioribus lag.
Schmerzlich ist mir aber die Veranlassung, auch wenn sie meinen alten Bekannten, den Bürgermeister Reuter, nicht beträfe, und auch ich nicht einen einzigen Sohn hätte. Das Unglück der in Untersuchung befangenen jungen Männer und ihrer Angehörigen bekümmert und ergreift mich tief, vielleicht am tiefsten, obwohl ich dazu am wenigsten Veranlassung habe, indem ich mir die gewissenhafteste Beruhigung geben kann, dass es an mir nicht gelegen, den schlechten Lehren und schlechteren Lehrern bei Zeiten ein solches Ziel zu setzen, was diesem Vorfall und diesen Bestrebungen der Jugend sehr kräftig vorgebeugt haben würde. Millionen von Tränen würden dann nicht fließen. Seit einer Reihe von Jahren sind mir diese Verhältnisse genau bekannt und gerne entsagte ich der Glorie, dass, was ich als unfehlbar vorher befürchtete, eingetreten ist! Unbewachte schlechte Aussaat bringt schlechte Früchte. Des jungen Reuters Brief bestätigt letztere. Er gesteht, dass die jungen Solonen in Jena ihre Absichten auf alle Staaten Deutschlands gerichtet hatten, der erste Schritt zur Ausführung dieser Absichten war das Frankfurter Attentat! Eben wegen meiner genauen Kenntnis dieser Verhältnisse bin ich aber überzeugt, dass diese jungen Männer an sich nicht von schlechtem Charakter, sondern nur verführt und verschroben, eitel und durch schlechte Verführer bis zum höchsten, selbst wahnsinnigen Grade exaltiert waren. Der junge Reuter gehört zu den bessern und weniger gravierten und was er darüber schreibt, ist gegründet.

Soviel die Untersuchung wider ihn betrifft; so bemerke ich, dass alle diese Umtriebe und besonders die Verbindung, zu welcher er gehörte, durch ganz Deutschland verbreitet war und in ihren einzelnen Abteilungen innig verbunden war, die Mitglieder also alle Mitgenossen waren, die man daher, wo man sie fand, zur Untersuchung zog, da sie ja, wie Reuter selbst schreibt, gegen alle Staaten Deutschlands, mithin auch gegen jeden einzelnen derselben gefehlt haben. Gegen die Mitglieder der weniger gravierten Verbindungen sind bereits vor acht Monaten zwei Urteile publiziert; gegen zweihundert und einige Mitglieder der gravierteren Verbindungen wird das Urteil aber in den nächsten Tagen zur Publikation reif sein; Herr Reuter gehört, wie ich höre, nicht zu den Gravierteren, wogegen, wie ich höre, gegen zwei unserer Landsleute die Todesstrafe erkannt ist. Dem jungen Reuter wird übrigens der erlittene Festungs-Arrest
auf die Strafzeit mit angerechnet werden. Vor Publikation des Urteils wird die Königliche Begnadigung nicht eintreten können, ich zweifle nicht, dass sie in größerem oder geringerem Umfange allen zu Teil werden wird, wie deren auch die Mitglieder der geringeren Verbindungen bereits teilhaftig geworden sind und von uns dazu die vorbereitenden Schritte gemacht werden. Ich kann daher dem Vater nur raten, nach erfolgter Publikation sich an des Königs Majestät zu wenden und um Gnade und Milderung des Sohns [sic!] zu bitten und dabei sowohl die geringe Komplizität desselben als den Umstand, dass er sein einziger Sohn ist, und dann die Bewegungs-Gründe für das Herz anzuführen. Ew. Hochwohlgeboren Zeugnis über die Redlichkeit und Loyalität des Vaters und die Unverdorbenheit des Sohnes wird allerdings von großem Gewicht sein, da die Absicht des ganzen Verfahrens nur ist, endlich Ernst zu zeigen, die jungen Männer zu überzeugen, dass ihre Lehrer an ihnen sündigten, wenn sie ihnen ihre Bestrebungen als nicht strafbar und wohl gar löblich schilderten und um zu verhindern, dass die unverbesserlichen ferner Schaden stiften und unschuldige junge Männer verführen.

Entschuldigen Ew. Hochwohlgeb, die Eile dieser Zeilen; ich erhalte Ihre gütige Zuschrift erst heute und wünsche den alten braven Reuter baldmöglichst zu beruhigen.

Es ist mir angenehm, durch Ew. Hochwohlgeboren verehrliche Zuschrift an eine Gegend erinnert zu sein, an welche ich mit mir so teuren Rückerinnerungen so oft denke; ich habe in derselben die frohesten Jahre meiner Jugend zugebracht und nach ihr mich mehr zurückgesehnt, als alles dasjenige gewünscht, was die Vorsehung und die Gnade des Königs mir beschieden haben. Es gehört zu meinen angelegentlichsten Wünschen, diese teure Gegend nochmals zu sehen, ihr Wert wird durch Ew. Hochwohlgeboren für mich erhöht werden und dankbar nehme ich daher zum Voraus Ihre gütige Einladung an. *)

Mit vollkommenster Hochachtung habe ich die Ehre mich zu unterzeichnen
Gehorsamst
v. Kamptz.

N. S. Dem Hr. B.-Mstr. Reuter bitte ich mich bestens zu empfehlen.

*) v. Lowtzow hatte v. Kamptz zu einem Besuche eingeladen.

So wohlwollende und so hoffnungsvolle Worte mussten Balsam in die Wunde des alten Reuter träufeln. Über die lindernde Wirkung, welche dieses Schreiben des preußischen Ministers denn auch wirklich auf das Gemüt des unglücklichen Vaters ausübte, äußerte v. Lowtzow in seiner Danksagung vom 4. Dezember:

„Der Herr Bürgermeister Reuter wird nun mit Ruhe und Ergebung dem bald verheißenen Urteil seines Sohnes entgegensehen, und dann die Gnade von des Königs Majestät anflehen, die ja so Manchem zu Teil geworden ist, auf die er so vertrauungsvoll hofft. Besonders ist dieser so tief gebeugte Vater darüber erfreut, dass Ew. Exzellenz es bestätigen, dass sein unglücklicher, irre geleiteter Sohn nicht zu den gravierteren Mitgliedern jener verabscheuungswürdigen Verbindung gehört.“

In der Tat musste der Brief des Ministers von Kamptz jeden, der damals überhaupt noch zu hoffen wagte (— und wann täte das ein Vater nicht!! —), mit neuem Mute erfüllen. Wenn der in dieser Sache entscheidende Staatsmann, der als schlimmster Feind der sogenannten „Demagogen" bezeichnete v. Kamptz, sich so teilnahmsvoll über die Leiden der „verführten" Jünglinge im Allgemeinen aussprach und im Speziellen das wärmste Mitgefühl an dem Schicksale des jungen Reuter bekundete, wenn er endlich selbst versicherte:
„Der junge Reuter gehört zu den besseren und weniger gravierten" und endlich ziemlich feste Aussichten auf die Gnade des Königs eröffnete, wer hätte da nicht hoffnungsvoll in die Zukunft blicken sollen? Wahrhaftig, Niemand konnte ahnen, dass diesem „weniger gravierten" Jünglinge noch die Strafe der graviertesten „Hochverräter", die Todesstrafe, bestimmt würde?

In der Freude seines Herzens schrieb Bürgermeister Reuter an seinen der Verzweiflung nahe geführten Sohn, er möge nur guten Mutes sein, nun müsse sich bald Alles entscheiden und eine Besserung seiner beklagenswerten Lage eintreten. Gleichzeitig ermahnte er den Gefangenen während der Haft nicht nachzulassen in seinen Studien, und empfahl im Besonderen noch die Lektüre landwirtschaftlicher Werke. Die Landwirtschaft hatte er vermutlich schon damals als dereinstige Lebensbeschäftigung für seinen Sohn ins Auge gefasst, falls nämlich diesem durch die Beteiligung an „hochverräterischen Bestrebungen" einerseits und andererseits durch die mit der langen Haft notwendig verbundene große Unterbrechung seiner Studien eine juristische Karriere im Staatsdienste wirklich unmöglich werden sollte. An diesen Hinweis knüpft eine Neujahrsphantasie auf das Jahr 1837 an, welche Fritz am 13. Januar 1837 niederschrieb und seinem Vater demnächst zusammen mit einem Briefe zustellte. Das kleine, höchst ergreifende Stimmungsbild möge hier seinen Platz finden:

Zum neuen Jahre 1837.

Es war Morgen, ich ging aus mein Feld zu bauen und sah auf zur Sonne; die Sonne aber war mit Wolken bedeckt, kein Strahl traf mich und traurig ging ich heim; es ward Mittag, ich sah auf zu dem Himmel und bat um die Strahlen, schwärzer waren die Wolken, der Donner rollte in der Ferne, trüber und dunkler ward der Himmel, trüber und dunkler ward mein Gemüt, ich ging wieder heim und klagte laut: Gott, warum verhüllst Du die Sonne! Und als ich am Abend hinsah zur Sonne, war sie wolkenfrei, alle ihre Strahlen hatte sie verschossen und schmerzlos konnte ich ihn sehen, den glühenden Ball, wie er sich hineintauchen wollte in die Flut des unter ihm ins Unendliche ausgegossenen Weltmeers; aber das war nicht die Sonne, die ich sonst wohl hatte untertauchen sehen am Abend: Flecken störten die Harmonie der Kugel. Ich sah einen großen dunklen Fleck in der Mitte und um ihn drei kleinere und sprach zu mir: das ist das Laster und um ihn Gram, Kummer und Sorge und unten am Rande sah ich einen Fleck, der war ganz schwarz und ich sagte: der heißt Verzweiflung an Dir selbst, oben aber gegen Norden war ein großer leuchtender Punkt, wie ein Stern in der Sonne: das war die Sehnsucht. Die Sonne ging unter und mit ihr die Verzweiflung, das Laster, der Kummer, der Gram, und der leuchtende Rand oben vergoldete die Wogen des Weltmeers und als er versank, rötete sich das Wolkengrau und ein mildes Abendroth strömte vom Himmel auf die Erde Die untergegangene Sonne aber war das verflossene Jahr und das Weltmeer die Zeit.

Still ging ich heim und am anderen Morgen war ich auf vor Anbruch des Tages und schaute gen Himmel und wieder bedeckten Wolken denselben und ich begann zu klagen: soll es denn nie anders werden? siehe, da trat ein alter Mann zu mir, legte seine Hand auf meine Schulter und sprach: was klagst Du über die Wolken, kannst Du Dein Feld nicht bestellen ohne Sonnenschein, ist nicht auch Regen nötig? Darum erhebe Dich, nimm Dein Grabscheit und arbeite; wenn aber die Sonne jene blaue Fläche des Himmels erklommen hat, dann wird Sonnenschein sein und Freude. Ich aber ergriff mein Grabscheit und glaubte ihm, denn der alte Mann war — mein Vater.

Das war das erste schöne, leider aber mit dem eigenen Herzblute geschriebene Zeugnis für Fritz Reuters später so oft betätigte hohe Begabung zum lyrischen Dichter.*)

Nach langem „Hangen und Bangen" erschien denn auch endlich das Erkenntnis des Berliner Kammergerichts, an dessen Spitze sich damals Herr von Kleist befand, und stürzte Alles jählings zusammen, was die geschäftige Hoffnung des armen Gefangenen in jenen qualvollen Tagen, Wochen und Monaten sich aus dem verlockenden Grunde der von Kamptz'schen Versicherungen auferbaut hatte. Der Traum einer baldigen Erlösung, in welchen ihn jene Worte des vielvermögenden Mannes gewiegt, er war plötzlich zerstoben, und vor ihm stand mit schrecklichem Antlitze die Wirklichkeit, eine noch schrecklichere Zukunft verkündend. „Zum Tode verurteilt", so lautete der Richterspruch; nicht zum Tode auf dem Schafott, den hatte ihm die „oberrichterliche Gewalt" Friedrich Wilhelms III. erlassen, aber zum langsamen Dahinwelken in Kerkermauern, zum allmählichen Absterben für die von seinem jugendlichen

*) Eine Abschrift dieser Phantasie wie des vorhin wiedergegebenen Briefes von Fritz Reuter befindet sich neben dem Originalschreiben des Justizministers v. Kamptz und den Brouillons der v. Lowtzow'schen Eingaben in einem, den Titel „Acta, betreffend den, wegen demagogischer Umtriebe verhafteten einzigen Sohn des Herrn Bürgermeisters Reuter zu Stavenhagen, auf der Festung, Silberberg befindlich“, tragenden Fascikel, welches unter den nachgelassenen Papieren des im Jahre 1864 in Doberan verstorbenen Landdrosten v. Lowtzow angetroffen wurde. Dieselbe wurde mir von dem Schwiegersohne des Verstorbenen, dem Herrn Oberforstmeister A. v. Wickede zu Doberan „zur unbeschränkten Benutzung“ gütigst zugestellt, von welcher Erlaubnis ich im Vorstehenden Gebrauch gemacht habe.

Herzen so heiß geliebte Welt und für sich selbst; dreißig Jahre Festung sollten sein Los sein. Er musste es teilen mit der Mehrzahl seiner Leidensgefährten, nur vier, über welche die geschärfte Todesstrafe verhängt war, wurden zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Das Leben also hatte die königliche Gnade allen den armen Idealisten geschenkt, insofern hatten sich die Hoffnungen, welche v. Kamptz und nach seinem Rate Andere darauf gebaut, verwirklicht, aber vor diesem Leben hätten die meisten jener Verurteilten einem schnellen Tode den Vorzug gegeben.

„So'n Presen“, sagt Fritz Reuter über diese Begnadigung*), „kann Keiner richtig taxieren, as Einer, de all drei Johr un irst drei Johr seten hett. De Utsicht was slimm, de Insicht slimmer." Es kam hinzu, dass man unserem Dichter nirgends lange Ruhe gönnte, er wurde von einer Festung zur anderen transportiert. War er irgendwo „warm" geworden, hatte er Universitätsfreunde wiedergefunden oder sich neue Freunde erworben, so konnte er sicher sein, dass auch binnen Kurzem die Ordre zum Umzug in ein anderes Gefängnis erfolgte.

*) Vgl. „Ut mine Festungstid“ pag. 2.
Zunächst ging es im Februar 1837 vom Silberberg nach Glogau, wo er jedoch nur 6 Wochen verweilen durfte, um dann bei grausigem Wetter die lange Reise nach Magdeburg anzutreten. Und wie beschwerlich war diese Tour! „Ümmer von landräthlich Amt tau landräthlich Amt, männigmal ok blot man taum Herrn Burmeister. Ball en Fautschandor mit Schapschinken un „Seitengewehr" in den Wagen, ball en „Berittenen" mit Slepsäwel un Pistolen buten den Wagen. — Wenn mi dit letzte Glück drop, hadd ik vel Vergnäugen un Ogenweid'; denn wenn min Schandor tau Pird so rechtsch un linksch von den ollen Planwagen, in den sei mi as afschreckend Bispill in den Lan'n herümmerkarjolten, herümmerflankirte, un de Fuhrmann in en Likenwagen-Schritt dörch de Dörper un Städer hendörch paradirte un tauletzt bi 'n Wirthshus anhöll, denn drängt sik Allens üm uns rüm un bekek mi, dat ik mi sülwst ordentlich gefährlich vörkamm un tau gliker Tid gruglich, as wenn ik bi lewigen Liw späuken ded un mit minen Kopp unner den Arm mang all de Minschen herümgüng. — Ja 't was en würklich fierlichen Uptog, un dat fäuhlten sülwst de lütten Stratenjungs, de uns ümmer dat Geleit gewen un mi mit allerlei Ihrentitel begrüßten, de sik up en Hor as „Spitzbauw" anhürten."*)

*) Vgl. zu dieser Stelle wie zu den nachfolgenden Zitaten „Ut mine Festungstid“ pag. 49 und 50.

Aber auch die heitere Seite fehlte diesen so deprimierenden Transporten nicht. Hatte der Gefangene das Ziel seiner Tagesreise erreicht und sich bei dem Herrn Landrat oder Bürgermeister gemeldet, so wurden ihm zwei ehrwürdige Bürger als Wache in sein Wirtshaus mitgegeben, „dat sei mi de Nacht äwer von ehren Taback wat vörrökern süllen un nebenbi dorup seih'n, dat ik nich weglep un den königlich preußischen Staat an alle vier Ecken anstickte." In der Regel waren es gemütliche alte Herren, kleinstädtische Philister von der besten Sorte, die in ihren naiven Fragen und nicht minder naiven Ansichten dem zum Leben eines Ahasverus verdammten Humoristen einen köstlichen Labetrunk auf dem ihm vorgezeichneten dürren Pfade darbrachten. „Keinen einzigen heww ik dorunner drapen, de nich tauletzt, wenn ik mit Fragen binah dod quält was, mi 'ne wollslapende Nacht wünscht un as letztes Wurt de Ansicht utspraken hadd: „Je, äwer unsern König hewwen Sei doch dodmaken wullt." Währenddes wurde der begleitende Gendarm unten im Gastzimmer nicht weniger scharf ins Verhör genommen, nur dass das Antwortgeben, welches die Ehrenwächter als „verfluchte Pflicht und Schuldigkeit" betrachteten, hier als eine Gefälligkeit erkannt und als solche durch entsprechende Quanten geistiger Getränke belohnt und in Fluss gehalten wurde. „Unner uns, in de Wirthsstuw, seten denn de Hunneratschonen von de Stadt un nödigten sik den Schandoren rinne, un de müsste vertellen un drinken, un wat hei vertellte un wat hei drünk, müsste ik Allens mit minen ihrlichen Namen betahlen."

Endlich, am zweiten Tage nach dem Osterfeste, wurde Magdeburg erreicht. Die Zelle, welche dem Gefangenen hier im Inquisitoriatsgefängnis angewiesen wurde, sah seinem Arrestlokale in der Hausvogtei sehr ähnlich und war im ganzen Hause dadurch bekannt, dass weder Sonne noch Mond in dieselbe schienen. Das kleine, 1 ½ Fuß hohe und ebenso breite Fenster war dicht unter der Decke nach Norden angebracht und auf beiden Seiten mit „Scheuklappen" versehen. In der zwölf Fuß langen und sechs Fuß breiten Behausung fand sich kein Ofen, man hatte Luftheizung eingerichtet, und nun strömte die warme Luft von Oben durch eine Öffnung in der Wand und ebenso die kalte von Unten ein, „so dat wi ümme kolle Fäut un en recht warmen Kopp hadden, wat för de Gesundheit sihr taudräglich sin sall.“
Die Behandlung entsprach den Lokalitäten, welche man den „Hochverrätern" zum Aufenthaltsort bestimmt hatte. „Unselige Minsch! wo kümmst Du hir her", hatten ihm seine schon vor ihm auf diese Festung gebrachten Freunde bei der ersten Begegnung zugerufen, und das Bild, welches sie selbst ihm darboten, musste ihn allerdings von vornherein mit trüben Ahnungen erfüllen, die sich leider nur zu sehr bestätigen sollten. Was war aus so manchem einst lebenslustigen und lebenskräftigen Jünglinge geworden?! Bleich, abgezehrt, körperlich und geistig gebrochen, war er „de utbrennte Kahl, de Asch von sinen vorigen Lewen". — Der erste Kommandant der Festung, Graf v. H., ein Spielkamerad Friedrich Wilhelms III., hielt es für seine Pflicht, die „Demagogen“ zu schikanieren, wo und wie er nur konnte, und sein ständiger Ärger war, dass über die jungen Leute keine Beschwerden eingingen, er hätte sonst ihnen schon zeigen wollen, „wie man mit Hochverrätern umgehen muss". Der zweite Kommandant, Oberst von B. und der Platzmajor, wohlwollende Leute, konnten des ersten Kommandanten wegen nichts zum Besten der Gefangenen tun, und der Inspektor, ein guter Mann, befand sich zwischen zwei Feuern. Nach Oben hin hatte er sich vor dem Grafen v. H. in Acht zu nehmen und nach Unten vor dem Schließer D. . . mann, einem Menschen von dem niedrigsten Charakter, der den Spion des ersten Kommandanten spielte und einen großen Hass gegen die „Demagogen" hegte.

Wirklich gestaltete sich denn auch die erste Zeit in Magdeburg für unseren Dichter sehr ungünstig, namentlich versuchte der eben erwähnte Schließer ihn auf jede Art zu schuhriegeln; er würde auch „diesen kratzbürstigen Kerl" wohl noch „zahm" kriegen, hatte er geäußert, nachdem ihm dies schon mit so vielen anderen gelungen. Aber die Sache kam umgekehrt. Nicht Reuter, sondern der Wärter wurde gezähmt. Ein Pfund Tabak bändigte den „kleinen Tyrannen", der von nun ab und nachdem ihn unser Dichter obendrein noch bei einem Zigarrendiebstahl ertappt, die Hausordnung ganz außer Augen setzte und seinem Gefangenen immer mehr Freiheit gestattete. Die Veränderung in dem Benehmen des gefürchteten Schließers blieb natürlich auch nicht ohne günstigen Einfluss auf den Inspektor, welcher, befreit jetzt von der Furcht vor dem denunziationsbereiten Unterbeamten, auch seinerseits bestrebt war, dem Jünglinge die traurige Lage möglichst zu erleichtern. Reuter begann nun ein den Umständen nach recht gemütliches Leben zu führen, besonders da ihm auch Schreibzeug und Zeichengeräte wieder ausgeliefert wurden und er sich jetzt der geliebten Kunst von Neuem widmen konnte. Porträtieren bildete denn auch seine Hauptbeschäftigung; er porträtierte Alles, was sich nur dazu hergab, und wusste sich durch diese Bilder manchen Freund zu erwerben.

Zeitungen und Bücher — Fachwerke allein ausgenommen — waren den Gefangenen gänzlich verboten *), und so wären dieselben wohl über den Gang der Welt völlig im Dunkeln geblieben, hätte nicht zuweilen dieser oder jener befreundete Beamte einige Neuigkeiten für sie eingeschmuggelt. Durch einen derselben erfuhren sie nun im Herbste des Jahres 1837, es werde intendiert, bei dem nahe bevorstehenden vierzigjährigen Regierungsjubiläum Friedrich Wilhelms III. die Begnadigung der „Hochverräter“ im preußischen Staatsrate zu beantragen. Ein neuer Hoffnungsschimmer fiel in die Kerker der unglücklichen deutschen Jugend, wieder glaubten die schwergeprüften Idealisten die Stunde der Befreiung nahe. Aber wieder sollten sie bitter getäuscht werden. Allerdings wurde ihre Angelegenheit im Staatsrat zur Verhandlung gebracht, aber der Präsident desselben, der bald darauf verstorbene Herzog Karl von Mecklenburg-Strelitz, sprach sich auf das Entschiedenste gegen eine Freilassung der „Königsmörder" aus, seine Stimme gab den Ausschlag, und die armen Gefangenen waren um eine Enttäuschung reicher. „Dat hett em denn nu grad nich vele frame Wünsch von uns indragen."

*) Fritz Reuter erzählt im Kap. 9. von „Ut mine Festungstid“, dass der Herr Kommandant zweien vor ihm dort internierten „Demagogen", von denen der eine sich Brockhaus' Konversationslexikon, der andere einen Atlas der alten Welt hatte anschaffen wollen, einen abschlägigen Bescheid erteilt habe, weil ersterer „revolutionäre Artikel" enthalte und „Landkarten überall nicht zu gestatten wären, weil sie einem Fluchtversuche Vorschub leisten könnten“. Eine Geschichte, über welche man lachen könnte, wenn sie nicht gleichzeitig ein grelles Licht würfe auf die Methode, nach welcher hier wissenschaftlich gebildete junge Männer behandelt wurden unter Leitung eines Mannes, der eben weiter nichts war als ein „Demagogenfeind“.

Körperlich leidend waren die jungen „Demagogen" damals mehr oder weniger alle, und daher gab es immer einen Grund für den menschenfreundlichen Stabsarzt, einige derselben auf eine Zeitlang aus den dumpfen Kerkern des Inquisitoriats in das Lazarett zu versetzen, wo sie bei besserer Nahrung und gesunderer Luft auch ein freieres Leben erwartete. Endlich wurde dort auch für Fritz Reuter eine Stelle disponibel, und unser Dichter, an welchem die Leiden des Gefängnisses, einen so starken Widerstand ihnen auch seine außerordentliche Körperkonstitution leistete, doch nicht spurlos vorübergingen, konnte seiner Zelle, welche er seit einiger Zeit mit einem Universitätsfreunde teilen durfte, vorläufig Lebewohl sagen. Diesen Aufenthalt im Lazarette benutzten zwei der „Hochverräter", Wagner und Reinhard, um mit Hilfe eines früheren, vor einem Vierteljahre freigelassenen Gefährten, welcher sich jetzt für seine Leidensgenossen aufopferte, auf ziemlich romantische Weise nach England zu entfliehen. Der Kommandant war außer sich, und die nächste Folge war, dass die Gefangenen, drei schwerkranke ausgenommen, in das Inquisitoriat zurückgebracht wurden, wo nun auch die früheren Zugeständnisse von den eingeschüchterten Untergebenen des erbosten Herrn Grafen v. H. wieder zurückgenommen werden mussten. Die Schuld für diesen Vorfall, der dem Herrn Kommandanten eine bedeutende „Nase" einbrachte, suchte der brave Demagogenbezwinger dem Stabsarzt in die Schuhe zu schieben, weil dieser gesunde Leute ins Lazarett aufgenommen". Er hatte sich aber in seinem Manne geirrt, denn der Stabsarzt beantragte eine Kommission zur Untersuchung des Gesundheitszustandes der inhaftierten Jünglinge. Die Kommission trat zusammen, und das jeden Menschenfreund erschütternde Resultat dieser Nachforschungen lautete: „Den politischen Gefangenen im Inquisitoriat fehlt es an den drei notwendigsten Lebensbedingungen, an frischer Luft, an Licht und Wärme; auch ist das Trinkwasser, da es Flusswasser von unterhalb der Stadt ist, nicht zu genießen." Nach drei Jahren also kam man zu der Erkenntnis, dass für die Gefangenen in diesem Gefängnisse die notwendigsten Lebensbedingungen fehlten. Minister, Generäle, Obersten und Aufseher waren in denselben Räumen Jahrelang umhergegangen, sie mussten doch ebenso gut überall die mangelhaften Einrichtungen usw. gesehen, dieselben den Kloaken wie den Schornsteinen einer naheliegenden Eisengießerei entsteigenden Dünste gerochen haben, „un keinen was infallen, dat wi, wenn wi dörtig Johr afsitten süllen, doch ok dörtig Johr lewen müssten". So äußerte sich noch nach langen Jahren voll Bitterkeit unser Dichter in „Ut mine Festungstid".

Möglicher Weise in Folge des Ärgers über die so erlittene Niederlage starb der erste Kommandant General Graf v. H. bald darauf, die zum Teil vielleicht für immer unglücklich gewordenen Jünglinge als trauriges Andenken an die Zeit seiner Herrschaft hinterlassend, und es schienen nun bessere Zustände auf der Festung Platz greifen zu wollen. Unser Dichter sollte jedoch diesen Wandel nicht mehr recht kennen lernen, denn als im Februar 1838 eines Abends bei den Gefangenen Rundfrage gehalten wurde, ob wohl einige von ihnen bereit seien am nächsten Morgen nach einer anderen Festung abzureisen, meldeten sich, trotz des garstigen Schneewetters, als die beiden einzigen Reiselustigen Fritz Reuter und ein ihm sehr nahestehender Freund. Reuter hatte nicht lange überlegt; er war nun schon in soviel Gefängnissen gewesen, hatte es bald gut, bald schlecht gehabt, vielleicht fand hierin ein regelmäßiger Wechsel statt und erging jetzt wieder dem Besseren entgegen, jedenfalls aber konnte er noch schlechter als hier nirgends gehalten werden. So fuhren denn die beiden Freunde am andern Morgen auf gut Glück ihrem unbekannten Ziele entgegen.

Sie hatten gehofft dem Besseren zuzureisen, aber Täuschung war ja nun einmal das Los dieser „politischen Verbrecher". Nach langer und beschwerlicher Fahrt hielt endlich der Wagen in Berlin vor der Haus Vogtei. Was unser Dichter empfunden beim Wiedersehen dieses verhassten Gefängnisses, welches der Ausgangspunkt seiner ganzen Festungsqual gewesen, hat er uns selbst in seiner „Festungstid" auf das Ergreifendste geschildert. — — „wenn Einer up en Flagg kümmt, wo sin Hart mal mit Fäuten peddt is, wo nicks, rein gor nicks von Gotts-Segen un Minschen-Fründlichkeit up em follen is, denn krempt sik sin Hart üm, un denn is dat Wedderseihn Gift.“ — — Eine solche Stelle aber war die Hausvogtei. Hier hatte er, wie wir wissen, qualvolle Tage und noch qualvollere Nächte erduldet, hier hatte man ihn wie einen gemeinen Sträfling behandelt, war ihm mit eisiger Kälte und raffinierter Grausamkeit begegnet. Die Erinnerung rief alle die Bilder aus der Zeit vor 5 Jahren wach, als er dies unansehnliche, graue Haus wieder erblickte, in welchem jetzt als Hausvogt der Herr Kriminaldirektor Dambach residierte. Die verruchten Demagogen hatten ihm wenigstens nur Gutes gebracht, ihr Unglück sollte sein Glück werden.

Die Zelle, in welche der Inspektor, eine widerliche Persönlichkeit ohne jede Gefühlsregung und des bittersten Hohnes fähig, die beiden Gefangenen führte, war dieselbe, welche Fritz Reuter vor 5 Jahren innegehabt hatte. Verbessert war seitdem nichts in ihr, wohl aber war eine Verschlechterung eingetreten, denn der Strohsack auf dem Bettgestell fehlte. Die beiden Freunde mussten sich also entschließen, die Nacht in dem kalten Raume auf der bloßen Erde zu verbringen, sie ertrugen diese Beschwerlichkeit in der Hoffnung, dass sie ja höchst wahrscheinlich doch nur diese eine Nacht dort verbleiben sollten. Wieder eine vergebliche Hoffnung. Noch drei Nächte sollte Reuter in diesem Gefängnisse die schwersten Seelenqualen erdulden, während sein Freund einem heftigen körperlichen Leiden zu erliegen drohte. Umsonst waren Fritzens Bitten um ein Bett oder wenigstens einen Strohsack; der Herr Kriminaldirektor hätte nichts davon bestimmt, war die gelassene Antwort des grinsenden Inspektors. Der Dichter und sein College hatten noch Geld mitgebracht, welches sich in den Händen des „Onkels Dambach" befinden musste. Von dieser Summe, meinte der erstere, könne ja doch die Ausgabe für ein Bett bestritten werden, wenn ihnen auf Kosten der Hausvogtei-Verwaltung ein solches nicht geliefert werden dürfte. Neuer Abschlag; der
Inspektor erwiderte mit seinem stereotypen Grinsen auf diesen Vorschlag, der Herr Kriminaldirektor habe bestimmt, dass sie sich die Mietsgebühren für ein Bett von ihrem Traktament absparen sollten. Das war grausamer Hohn, der uns heute noch das Blut in die Wangen treibt! Bestand doch dieses Traktament in fünf Silbergroschen täglich, wofür die armen Opfer Morgens eine Portion Kaffee zu vier Silbergroschen und für den übrigen Teil des Tages ein Groschenbrot zu erschwingen vermochten. Wie der Herr so die Diener; kein Wunder daher, wenn selbst einer der Kammergerichtsboten sich ein Vergnügen daraus machte die Qual der Gefangenen noch zu erhöhen. Als Reuter ihn fragte: „Wissen Sie nicht, wie lange wir hier noch bleiben?", antwortete er wider sein besseres Wissen mit charakteristischem Lächeln: „Sie bleiben immer hier. Glauben Sie, dass der König alle diese großen Gebäude hier leer stehen lassen will? Nein, Sie bleiben hier und Ihre Kameraden kommen alle nach." Die Wirkung dieser Unwahrheit auf das verzagte Gemüt unseres Freundes schildert er uns selbst, wie folgt: „Ik kann 't un will 't nich striden, dat ik mi von de gründliche Gemeinheit von desen Kirl in 't Buckshurn jagen let — so 'n Gefangen is gor tau zag, un drei Dag' Water un Brod, dat Liggen up den Fautboden un de bittere Küll maken grad ok nich vel Kurasch' un ik glöwte, hei redte de Wohrheit un ik verfirte mi dägern doräwer, velmihr as dunnmals, as sei min Dodsurthel spraken hadden. Dat was en Ogenblick Sak, un dit was 'ne lange, lange, allmälige Dodquäleri. 'T giwwt man wenig Minschen in de Welt, de en Begriff dorvon hewwen, wat dat heit, wenn Einer Up Staatskosten langsam tau Dod quält ward. Mäglich was 't, de Anfang was ja all makt, un worum süllen sei de Sak nich wider bedriwen. — Ach! mi was slicht tau Sinn; äwer dat vulle Unglück süll irst losgahn: min olle leime Kapteihn hadd de ganze Geschicht anhürt, un wat för mi 'ne jammervulle Qual was, künn för em tau en dödlich Gift warden."

Nachdem sich Reuter noch mit einer Beschwerde über diese inhumane Behandlung an das Kammergericht gewandt, nachdem er darauf von Neuem eine entsetzliche Nacht — die vierte seit der Einlieferung — in diesem Kerker durchwacht hatte, schlug endlich die Erlösungsstunde. Die beiden Gefangenen erhielten die Ordre, sich zur Weiterfahrt bereit zu halten, und leisteten diesem Befehle mit freudiger Hast Folge.

„Weg! — Weg! — Wohen? — Wie wüssten 't nich, äwer man weg! — Weg! von den Kirl, de uns up Lebenstiden unglücklich makt hedd! Weg von den Kirl, de sin Freud doran hatt hedd, uns ahn Ursak bet up 't Blaud tau quälen!" — Der ehrenwerte Kriminaldirektor Dambach, der für Reuter niemals zu sprechen war, hatte übrigens in diesen Tagen seinen früheren Missetaten an dem jungen Dichter noch eine neue hinzugefügt. Er hatte nämlich den unglücklichen Vater, welcher in dieser Zeit nach Berlin gekommen war, um abermals Schritte für die Befreiung seines Sohnes zu tun, den alten schwergebeugten Mann nicht zu dem Sohne gelassen, nur damit letzterer sich nicht an der väterlichen Brust einmal ausweinen könnte.

In der Hausvogtei hatten Reuters Leiden ihren Höhepunkt erreicht, von nun ab sollte sich sein Gefangenenleben freundlicher gestalten. Nach einer achtundvierzigstündigen Extrapostfahrt gelangten die beiden „Verbrecher" nebst ihren Begleitern, den Gendarmen Rehse und Winkler, unter strömendem Regen am Ufer der Weichsel an, wurden nicht ohne Lebensgefahr übergesetzt über den eistreibenden Strom und standen bald darauf vor dem Kommandanten von Graudenz, General v. T. . ., dessen Äußeres schon Hoffnung erweckend war. „In der fast kolossalen Gestalt, in den biederen, ernsten Gesichtszügen sprach sich eine wohlwollende Menschenfreundlichkeit aus, die mir bei andern Demagogenfressern seines Geschlechts nie vor Augen gekommen war." Der äußere Schein sollte hier nicht trügen: es war wirklich ein liebenswürdiger, humaner alter Herr, der die „Hochverräter" mit den freundlichen Worten empfing: „Ich seh' aus Ihren Papieren, dass Sie ordentliche Leute sind, und Sie sollen 's hier auch gut haben, denn meine Sache ist es nicht, Leute, die im Unglück sind, noch mehr hinunterzutreten. Sie sind von Ihren Kameraden, die mir angemeldet sind, hier zuerst angekommen, ich will Ihnen deshalb die Erlaubnis geben, von den Kasematten, die für Sie bestimmt sind, sich die auszusuchen, die Ihnen am besten scheint. Haben Sie aber eine gewählt, dann müssen Sie sie auch behalten; denn für die Fickfackereien bin ich nicht." Das war ein freundlicher Anfang, und der Verlauf entsprach diesem günstigen Beginn. Die „Demagogen" führten in Graudenz ein gemütliches, zuweilen sogar sehr fideles Leben. Die dort zugebrachten Tage haben bei Reuter anscheinend die angenehmsten Erinnerungen an seine Festungszeit zurückgelassen, denn ihrer hat er wiederholt voll heiterer Laune gedacht, einmal in einer hochdeutschen Skizze des später von ihm herausgegebenen Unterhaltungsblattes und dann in seiner vortrefflichen „Festungstid". Die erstere Darstellung trägt den Titel: „Eine heitere Episode aus einer traurigen Zeit", und das ist auch die richtige Bezeichnung für seine Graudenzer Gefangenschaft.

Aber Reuters Glückstern war jetzt wieder im Aufsteigen begriffen, sein Los sollte sich noch freundlicher gestalten. Nachdem die mecklenburgische Regierung wiederholt ohne Erfolg die Auslieferung unseres Freundes verlangt hatte, verwandte sich endlich der hochselige Großherzog Paul Friedrich, der Schwiegersohn Friedrich Wilhelms III., persönlich an den letzteren und erreichte, dass Fritz an Mecklenburg ausgeliefert wurde, zu einer Freilassung des „Demagogen" konnte sich der König auch jetzt noch nicht entschließen und behielt sich das Begnadigungsrecht vor. So musste denn Fritz Reuter einer neuen Haft entgegengeführt werden, aber er durfte jetzt doch wieder zurückkehren in sein engeres Heimatland, und damit war in seinen Augen schon viel gewonnen. Lachte ihm auch noch nicht die Freiheit, durfte auch Paul Friedrich sein edles Werk nicht vollenden und den Unglücklichen dem bürgerlichen Leben zurückgeben, wartete seiner auch ein neuer Kerker, er war nach langem, grausamem Herumzerren in fremdem Lande doch wieder auf Mecklenburgs Boden und dachte bei sich: „wenn Du man irst dor büst, denn ward 't ok woll nich so heit eten, as 't upfüllt is".

Nachdem Reuter noch Urphede geschworen, also gelobt hatte, nie wieder preußisches Gebiet zu betreten, begann im Juni 1839 von Neuem die Reise. Herzergreifend hat uns der Dichter in seiner „Festungstid" den wunderbaren Eindruck geschildert, welchen auf dieser Fahrt der Anblick eines Waldes auf ihn machte, des ersten Eichengrüns, welches er seit sechs Jahren schaute. „Un den annen Dag [— d. h. nach dem Abgange von Graudenz —] kemen wi in en Holt, 't was en Eikwald, in söß Johr hadd ik keinen seihn. — „Ach", säd ik tau den Schandoren, „will'n Sei mi 'ne Freud maken? Laten S' uns dörch dat Holt gahn." — Un de Schandor ded't, un de Postilljon blos sin lustig Stückschen, un dat Holt rök as idel Mäsch, un de Bost dehnte un widete sik, un de Bottervägel spelten in de Sünn — dor was en Swalwenswanz, dor en Schillerfalter, dor en Sülwerstrich! — en Kind kunn Einer Warden, en wohres Kind! Un as wi ut dat Holt kemen, dunn lag dor linksch en wittes Klewerfeld, en Saatklewerfeld, un dat rök so säut, so säut as idel Honnig, un de Immen, de drögen so flitig, as Husfrugens, un summten vör sik hen, as junge Mätens, wenn sei en Lid anstimmen willen, wat Harten rühren un gewinnen will; un äwer Allens lüchte Gottessünn in den Jehannsmand! — Ik smet mi hen up de Grawenburt, un de hellen Thranen lepen mi in den Bort, un de Schandor stunn dorbi un säd, wi müssten wider, un de Postilljon lurte all. — Un wat was 't denn ok? — In acht Dagen was dat Klewerfeld 'ne Stoppel, un de Immen drögen anners wo her, un de Eikwald lagg achte uns, un denn satt ik in Däms. — Äwer in söß Johren taum irsten Mal!" — Bevor aber Reuter Dömitz erreichte, musste er noch einmal Berlin berühren. Diesmal wurde ihm ein Quartier in der Stadtvogtei angewiesen, wo es, obgleich dort außer ihm nur noch Spitzbuben logierten, ihm doch besser gefiel als in „Onkel" Dambach's Palais. Nach drei Tagen ging die Fahrt weiter. Immer freudiger schlug das Herz des armen Gefangenen, je näher sie der mecklenburgischen Grenze kamen, und als sie dieselbe bei Warnow überschritten, da jubelte sein Herz: „Adjüs ok Preußen!" — Als ein glückliches Omen durfte es Reuter betrachten, dass der erste Beamte, mit welchem er auf mecklenburgischem Grund und Boden zusammenkam, einer seiner besten Freunde war. Man kam nämlich am ersten Abende bis Grabow, und hier wurde Fritz an seinen treuen Leidensgenossen aus der Parchimer Examenszeit, an den Bürgermeister Franz Floerke abgeliefert. Es war ein frohes, herzliches Wiedersehen, welches die beiden Freunde nach langer Trennung feierten. Natürlich blieb der Dichter die Nacht im Hause seines Freundes, dem angenehmsten Arrestlokale, welches ihn bisher beherbergt, und beim Glase Wein wurden die Erinnerungen aufgefrischt an langvergangene frohe Zeiten und an die eben verflossenen Jahre, die dem einen bittere Leiden, dem anderen Amt und Würden gebracht. „Äwer den Abend wull de Schandor ganz utenanner gahn, as hei hürte, dat de Burmeister sik mit den Vagelbunten dutzte, un as hei sach, dat hei mit em 'ne Buddel Win drünk; hei kreg 'ne slichte Meinung von de meckelbörgschen Beamten, äwer mitdrinken ded hei doch."

Am anderen Tage traf man in Dömitz ein. Das von trostloser Heidegegend umschlossene Dömitz („Däms") hat schon lange seine Bedeutung als Festung verloren, wird dieselbe auch trotz seiner günstigen Lage schwerlich jemals wiedergewinnen und ist in der Geschichte am bekanntesten geworden durch die Überrumpelung seitens des Schill'schen Corps im Jahre 1809 und die darauf folgende Belagerung durch die französisch-holländischen Truppen, deren Geschosse zwei Drittel der Stadt völlig in Trümmer legten. Auch zu Reuters Zeit schon war „Däms“ in kriegerischer Hinsicht eine Kuriosität und ihre Besatzung bestand meistens in Invaliden, welche die damals noch in Dömitz (— jetzt in Dreibergen —) internierten Staatsgefangenen bewachten. *)

*) Die noch immer erhaltene, neuerdings sogar restaurierte Zitadelle enthält jetzt die Militärstrafanstalt und eine Pflegeanstalt für unheilbare Irren. — Die Stadt Dömitz, durch die Bahnverbindung jetzt mehr in den großen Verkehr eingeführt, verdankt ihr heutiges freundliches Aussehen größtenteils jener verheerenden Belagerung, welche umfängliche Neubauten und bessere Anlage der Straßen zur Folge hatte.

Reuters erster Gang in der freundlichen Stadt war zu seiner guten Tante, welche dort als Witwe des uns schon bekannten, früh verstorbenen Rektors Reuter lebte und den schwergeprüften Neffen mit größter Zärtlichkeit empfing. Ein gleich freundliches Willkommen ward dem jungen „Demagogen" bei dem Kommandanten v. Bülow zu Teil, der „schon lange auf ihn gelauert hatte“ und ihm sofort mit einem Bierglase voll landesüblichem „Rodspohn" unter die Augen ging. Der Oberstleutnant v. B. war in seiner Art ein Original, und nicht minder originell war der Premierleutnant Kobel, beide allen Lesern der „Festungstid" wohl bekannt durch die humoristische und dabei doch so liebevolle Schilderung, welche uns Fritz Reuter in jenem Werke von ihnen entworfen hat.

Gleichsam als wollten sie wieder gut machen, was so viele ihrer preußischen Kollegen versehen, bemühten sich die beiden wackeren Männer unserem Freunde das Leben so angenehm zu gestalten, wie es die Verhältnisse nur irgend erlaubten. Sein Arrestlokal, das erste ohne „eiserne Gardinen", war für ein Gefängnis recht geräumig und, unter Mitwirkung der Tante, ganz komfortabel hergerichtet, so dass sich der Gefangene darin sehr gemütlich fühlte. Mit altem Eifer wandte sich unser Fritz auch hier wieder seiner Zeichenkunst zu, und mehrere aus der Erinnerung gezeichnete, überraschend ähnliche Portraits von Bekannten aus bereits lange vergangener Zeit, z. B. aus der Parchimer Schüler-Periode, bekundeten von Neuem sein wirklich beachtenswertes Malertalent wie andererseits die bereits mehrfach hervorgehobene Stärke seines Gedächtnisses. Diese Geschicklichkeit im Zeichnen machte ihn der Familie seines braven alten Beschützers zu einem nur noch lieberen Gaste, als er es ohnehin schon war, und, hat mir ein Freund des Dichters richtige Mitteilung gemacht, so musste Reuter die Bilder von fast allen Familienangehörigen des Oberstleutnants zu Papier bringen. Von der Freiheit, die unser Fritz in „Däms" genoss, gibt uns der Bericht eines seiner Schulkameraden, welcher ihn im Sommer 1840 dort besuchte, eine deutliche Vorstellung. „Als wir gegen Mittag“, schreibt mir dieser Jugendgenosse, „auf der Festung nach Reuter fragten, war er in die Stadt gegangen; später suchte Fritz uns im Gasthofe auf, führte uns in der Stadt und Festung umher und selbstverständlich auch in sein Gefängnis, ein als Gefängnis allerdings komfortables Gemach.“ Besuche durfte der Gefangene überhaupt so viel und so oft empfangen als es ihm beliebte, und so konnte Reuter denn beinahe vergessen, dass er sich noch immer in Haft befand. Dass ihm dies nicht völlig gelang und bei seinem hochentwickelten Freiheitsgefühl auch nicht gelingen konnte, sagt er selbst in „Ut mine Festungstid": „Ik satt hir in Dams nu noch äwer fiwfirtel Johr un vel let sik dorvon noch verteilen; äwer 't würd in'n Ganzen dorup heruter kamen, dat mi de mecklenbörgsche Regierung allens Mögliche tau Gauden ded, un dat ik 't bi minen ollen braven Kummandanten so gaud, as Kind in den Hus' hadd; äwer wat helpt dat All? de Friheit fehlte, un wo de fehlt, sünd an de Seel de Sehnen dörchsneden."

Als nach dem Tode Friedrich Wilhelms III. am 27. Juni 1840 sein Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. die Herrschertätigkeit mit der Begnadigung aller „Demagogen" begann, wurde Fritz Reuter vergessen und hätte vielleicht noch lange in „Däms" ein eingezogenes Leben geführt, hätte nicht der Großherzog Paul Friedrich auf eigene Hand die Freilassung angeordnet und so der langen und qualvollen Prüfungszeit unseres Dichters ein Ende gemacht. „Un dat hett Paul Friedrich vör mi dahn, un wenn ik nah Schwerin kam, denn besäuk ik em up sin Postament vör den Sloß, denn begrüß ik em in sine stille Gruft, un de Würd, de min Hart denn redt, sünd vull Dank dorför, dat hei mal 'ne arme afquälte Minschenseel tau 'ne grote Freud uperweckt hett. " Mit diesen warmen Worten gedenkt der Dichter in seiner „Festungstid" dankbaren Herzens der wiederholten Beweise von echter Humanität, welche ihm der hochselige Paul Friedrich gegeben.

Er war frei nach 7jährigen Leiden und konnte gehen, wohin er wollte. Ja, aber wohin? Die Freude über den Wiedergewinn der Freiheit wurde getrübt durch die Sorge um die Zukunft. Die sieben peinvollen Jahre seines Lebens, welche jetzt hinter ihm lagen, waren ihm für immer verloren; so wenigstens schien es damals ihm selber, so Allen, die ihm nahe standen. „Wat was ik? Wat wüßt ik? Wat künn ik? — Nicks. — Wat hadd ik mit de Welt tau dauhn? — Rein gor nicks. — De Welt was ehren ollen scheiwen Gang ruhig wider gahn, ahn dat ik ehr fehlt hadd; üm ehrentwillen künn ik noch ümmer furt sitten un för minetwegen ok. — Äwer Du büst fri! Du kannst gahn, wohen Du willst! De Welt steiht Di apen! — Ja, äwer wecker Weg is de rechte?" — So charakterisier Reuter später selbst seine Stimmung in jenem Augenblicke; es war in der Tat eine verzweifelte Situation.

Ärmer an Hoffnung denn je zuvor trat er den Weg ins Vaterhaus an. Er kam nach Grabow; wieder streckte ihm sein Freund Floerke die Hand entgegen und nicht minder herzlich bewillkommnete ihn der Amtsverwalter Prehn*), mit dem er einst gleichzeitig die Friedländer Schule bezogen und zusammen das Aufnahmeexamen bestanden hatte.

*) Jetzt Amtshauptmann in Bützow.

Beide waren sie, während er die beste Zeit seines Lebens „nutzlos verbrachte", zu Amt und Würden gelangt und dienten der menschlichen Gesellschaft. Was war er, was konnte er leisten? Es trieb ihn fort von dem Glück seiner Freunde, das ihn nur mit Wehmut erfüllen konnte. Sein Weg führte ihn nach Parchim; auch hier sollte ihm der erste Gruß aus treuer Freunde Mund erklingen. Direktor Zehlicke und Konrektor Gesellius, seine liebevollen Führer durch die glückliche Schülerzeit, waren es, die ihm das erste „Willkommen" entgegenbrachten. Als beide eines Tages vom Brunnen heimkehrten, sahen sie einen Mann einsam durch die Felder gehen, den sie sofort als ihren Liebling: Fritz Reuter erkannten. Sie riefen den Wanderer an, fragten ihn, woher er komme, und: „Direkt von Däms!" tönte es ihnen aus gepresstem Herzen entgegen. Mit alter Freundlichkeit öffnete Gesellius dem jungen Dulder sein Haus; Reuter musste eine Zeitlang bei ihm verweilen und durfte sich aussprechen vor einem erprobten Freunde über das, was er erlitten, was ihm noch die Seele durchschnitt.*) Doch so angenehm ihn auch das unveränderte Wohlwollen eines Gesellius und Zehlicke berührte, es litt ihn auch hier nicht lange. Weiter setzte er seinen Fuß und kam endlich in die teure Vaterstadt, wo ihn Verwandte und Bekannte freudig empfingen.

*) Ich verdanke diese Nachricht den mir durch den Herrn Gymnasialdirektor Dr. Hense in Parchim übermittelten Mitteilungen des Fräuleins Gesellius aus den Erinnerungen ihres 1870 verstorbenen Vaters.

Man brachte ihm ein Ständchen, aber die sonst so besänftigenden Klänge der Musik vermochten den Schmerz und den Gram nicht zu betäuben, welcher beim Anblick der Stätte einer glücklichen, hoffnungsreichen Kindheit nur noch an Heftigkeit gewann.

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Reuters Festungszeit, bei deren Skizzierung ich im Großen und Ganzen den eigenen Aufzeichnungen des Dichters gefolgt bin *), ist rücksichtlich ihrer Bedeutung für die dichterische Entwicklung unseres Freundes bisher lange nicht genug gewürdigt worden, während man dagegen die folgende „Stromtid" nach eben dieser Richtung hin vielfach überschätzt hat. Es fällt mir natürlich dabei nicht ein leugnen zu wollen, dass ihm letztere ein herrliches Material für seine späteren poetischen Werke geliefert, dass Reuter in jenem Lebensabschnitte Studien gemacht wie nie zuvor.

*) Vgl. zu der vorstehenden Schilderung Reuters „Ut mine Festungstid", noch welcher ich unter Zuziehung anderer Quellen berichtete. Ich durfte hier dem Dichter um so unbedenklicher folgen, als es sich um geschichtliche Daten handelte, die eine übertriebene poetische Ausstaffierung schon in Rücksicht auf einen günstigen Erfolg des Werkes nicht zuließen. Von einer hochdeutschen Paraphrase der plattdeutschen Reflexionen Reuters, wie sie anderswo zu lesen, habe ich abgesehen und die betreffenden Stellen lieber wörtlich zitiert. Dass ich hinsichtlich der Nennung der Namen von Festungskommandanten usw. ebenso diskret wie der Dichter verfuhr, wird man mir umso weniger verargen, als sich jeder dafür speziell Interessierende die erwünschte detaillierte Auskunft ebenso leicht wie ich erhalten kann.
Das aber darf ich behaupten, dass er solche Studien nimmer mit dem glänzenden Erfolge betrieben hätte, wäre er nicht zuvor durch die harte und für ihn doch so wohltätige Schule der Festungszeit gegangen. Und was lehrte ihn diese leidenvolle Schule? Sie hat ihn dahin geführt, sich immer mehr in das Studium des Menschen zu vertiefen, hat seinen regen Geist genötigt, wollte er nicht zu Grunde gehen, das menschliche Leben in seiner Umgebung bis ins kleinste Detail hinein zu verfolgen. „Das aber", höre ich schon einwerfen, „hat er, nach den am Schlusse der früheren Lebensabschnitte vorgetragenen langen Reflexionen zu schließen, ja auch schon früher in Stavenhagen, Friedland, Parchim usw. getan?" Sehr richtig, aber an keiner früheren Stelle ward der Dichter bei den Beobachtungen seines lebendigen Geistes so ausschließlich auf das menschliche Objekt angewiesen wie gerade auf den verschiedenen Festungen. Fast völlig abgeschnitten von der äußeren Natur, welche, wie wir wissen, stets einen großen Teil seines Interesses an sich fesselte, überdrüssig der Fachstudien und durch die Lektüre fremder Dichterwerke, die ihm auch nur vereinzelt zugingen, nicht hinreichend befriedigt, musste sein Geist entweder untergehen in der dumpfen Kerkerluft oder aber sich der Gegenstände in seiner nächsten Umgebung bemächtigen und diese den eingehendsten Studien unterziehen. Es kam hinzu, dass die Figuren der letzteren lange Zeit hindurch immer die gleichen blieben, und die notwendige Folge der fortwährenden Beobachtung derselben durch ein so scharfes Auge wie das unseres Dichters war die Entdeckung neuer, das immer bestimmtere Hervortreten der schon bekannten Züge. So ist Fritz Reuter während seiner Festungszeit dem Menschen näher getreten als jemals früher und hat tiefere Blicke getan in die menschliche Natur, als er vordem Gelegenheit hatte. In dieser durch die Verhältnisse gegebenen Beschränkung seiner Geistesstudien auf den Menschen allein liegt der große Unterschied der Festungszeit von den voraufgegangenen Lebensperioden, und eben darin ist auch die hohe Bedeutung dieses Abschnittes zu suchen für Reuters Zukunft als Menschenzeichner, als Detailmaler. Ohne jene im Übrigen oft peinvolle und anscheinend auch sterile Zeit wäre Reuter nach meiner festen Überzeugung niemals der gründliche Menschenkenner und der so naturwahr zeichnende Dichter geworden, welchen wir heute in ihm feiern und bewundern. Steht aber dies einerseits in meinen Augen fest, so ist für mich auch ebenso sicher, dass Reuter niemals zu solchen eingehenden Studien wie denjenigen auf der Festung befähigt gewesen wäre, hätte er nicht in dem früher besprochenen kleinstädtischen Leben sein unverkennbar vorhandenes Talent allmählich zu solchen ausschließlichen Beobachtungen herangebildet.

Dass unser Fritz auch auf der Festung der Zeichenkunst huldigte, ist in der Darstellung seines Gefangenenlebens bereits bemerkt worden. Und wenn er selbst in seiner schon einmal betonten großen Bescheidenheit meint, er habe sich durch seine dermaligen Portraits arg an dem Ebenbilds Gottes versündigt, so ist dem gegenüber zu bemerken, dass nach Aussage von Kennern seine Bilder keineswegs Karikaturen, vielmehr wohlgelungene, sprechend ähnliche Bilder waren. — Es erübrigt nun noch kurz der dichterischen Produktionen Reuters während der Festungszeit zu gedenken. Dieselben fallen zum größten Teil in die Zeit seiner ersten Haft in der Berliner Hausvogtei, und hat der Dichter selbst sie, wie wir auf S. 145. sahen, sehr geringschätzig behandelt. Gleichzeitig berichtet Reuter mit offener Freude, dass diese seine Kerkerpoesien sämtlich verloren gegangen seien. Diese Nachricht schien sich mir zu bestätigen, als ich bei mehren seiner Verwandten und Freunde nach Dichtungen aus jener Lebensperiode Nachfrage hielt und überall zur Antwort bekam, dass Fritz zwar eine Menge derartiger Versuche aus dem Gefängnisse mitgebracht und ihnen ausgehändigt habe, dass dieselben ihnen aber nicht des Aufbewahrens wert erschienen waren. Bald darauf ging durch die Zeitungen ein Gedicht Reuters, welches sich in dem Besitze einer Dame befunden haben sollte und seinem ganzen Tone nach unverkennbar der Festungszeit angehörte. Dasselbe lässt allerdings in Rücksicht auf Prosodie wie auf Schönheit und Korrektheit des Ausdruckes Vieles zu wünschen übrig, ist aber charakteristisch für die damalige Stimmung des nach einem ausgelassenen, schönen Studentenleben plötzlich der von ihm so heißgeliebten Freiheit beraubten und dem Kerker überantworteten Jünglings. Es lautet*):

*) Ich teile dieses Gedicht nach der Abschrift einer Verwandten des Dichters mit, welche dasselbe erst nach der von anderer Seite erfolgten Veröffentlichung in ihrem Album auffand und mir gütigst zustellte. Die in Klammern geschlossenen Worte sind von mir herrührende metrische Vervollständigungen des wahrscheinlich infolge wiederholten Abschreibens etwas beschädigten Gedichtes.

„Mein Liebchen war die weite Welt.
Der Wald war mein Gemach,
Mein Rittersaal das grüne Feld.
Mein Bett der kühle Bach.

Mein Schmuck, das war der Sonnenstrahl.
[Der] Fels, er war mein Schloss,
[Der] Blütenkelch war mein Pokal,
[Der] Sturm, er war mein Ross! —

Ich hab' mein Liebchen oft belauscht,
Sie oft ans Herz gedrückt,
Wir hatten Ringe uns getauscht,
Wie war ich so beglückt.

Doch ihre Schwester zu mir trat,
Die Welt mit ihrer Lust.
Verleumdet sie mein Liebchen hat,
Verdrängt aus meiner Brust.

Sie bot mir statt des Brotes Stein,
’Ne Schlange statt des Aals.
Und mit der bittern Reue Pein
Ich büß' es und bezahls.

Jetzt schau' ich nicht den dunkeln Wald,
Nicht mehr das grüne Korn;
Mein brausend Ross ist eingestallt,
Verrostet ist der Sporn.

Der Wasserkrug ist mein Pokal,
Das dumpfe Stroh mein Bett,
Der Kerker ist mein Rittersaal,
Mein Schmuck die schwere Kett'!

Doch wenn mein Lieb vom Schlaf erwacht.
Sich Blumen sticht ins Haar.
Wenn sie in grüner Kleiderpracht
Verkündet’s neue Jahr,

Da hör' ich längst entschwund'nen Klang.
Schreck' aus dem Schlaf empor,
Ich beiße in die Eisenstang'
Und rüttle an dem Tor.

Doch fest ist Gitter, fest ist Tür!
Vergebens ist mein Müh’n,
Der Sang, er ist verhallet mir,
Ich sink' aufs Lager hin."

Das ist sicher eines aus der Reihe der Gedichte, in denen, wie Reuter pag. 120. seiner „Festungstid" sagt, sein ganzer Schmerz ausbrach und die ganze Bitterlichkeit seiner Lage laut gen Himmel schrie. Man vergleiche mit dieser etwas unbändigen, gleichsam an dem Eisengitter rüttelnden Poesie die auf S. 155. mitgeteilte Neujahrsbetrachtung. Welch ein auffallender Unterschied! Die wilde Verzweiflung, welche ungestüm hervorbrechend in ihrem Ausdrucke nicht gerade wählerisch ist, hat ausgetobt und einer ruhigeren, ich möchte fast sagen: objektiveren Betrachtung seiner Lage Platz gemacht, gleichzeitig ist die Form eine edlere, mehr künstlerische geworden.

Dass Fritz Reuter auf der Festung trotz so vieler Widerwärtigkeit seinen Humor nicht verloren, beweist uns die Gesundheit wie die Unabtrennbarkeit des letzteren von dem innersten Wesen unseres Dichters. Betätigt aber hat er in dieser Periode seinen Humor nur durch mancherlei Schnurren und Streiche im Verkehr mit seinen Leidensgenossen und allenfalls auch durch die Portraits, in denen er wohl wieder, nach Analogie von Parchim, die komischen Züge an seinen Objekten besonders hervorhob und so das zu Wege brachte, was er selbst als eine Versündigung gegen das Ebenbild Gottes bezeichnet. Humoristische Dichtungen sind uns aus jener Periode nicht überkommen.
Gelegenheit zu humoristischen Studien hat sich unserem, wie wir sahen, nun einmal durch die Lage der Dinge auf fortgesetzte, eingehende Beobachtung des Menschen angewiesenen jungen Freunde hinreichend dargeboten, denn auch eine Festung besitzt unter ihren Quartiergebern oder -Nehmern komische Originale oder doch Persönlichkeiten mit humoristischen Zügen.

Körperlich hat Reuter die Leiden der Gefangenschaft, so namentlich die Quälereien in Magdeburg, von seinen Gefährten mit am besten überstanden. Ohne kleine Gesundheitsstörungen ging es jedoch, wie wir schon sahen, auch für ihn nicht ab; so hatten besonders seine Augen durch das schlechte Licht etc. wiederholt zu leiden und waren schließlich kurzsichtig geworden. Ferner aber wurde auf der Festung auch der Keim gelegt zu einer erst später hervortretenden und dann von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Krankheit, welche ihm so manchen Tag seines Lebens verbitterte und so oft den Flug seines Geistes hemmte. Ernstlich erkrankt aber ist unser Fritz nicht während der Festungszeit, auch war er der einzige „Demagoge", welcher ohne ergrautes Haar die Festung Magdeburg verließ, die übrigen jungen Männer hatten wenigstens die Spuren davon aufzuweisen.

Reuters Gemüt hat während dieser Zeit eine männliche Sündhaftigkeit bewiesen, die uns mit Bewunderung erfüllen muss. Es hat Stürmen getrotzt, welche ein anderes Herz gebrochen hätten, und ist aus allen Leiden, schienen sie anfangs auch dasselbe vernichten zu wollen, siegreich hervorgegangen. Hier zeigte sich, dass der Sohn den männlichen Mut und die Zähigkeit seines Vaters geerbt hatte.

Einen schönen Lohn aber für alle diese mannhaft ertragenen Qualen und Trübnisse des Kerkers fand Fritz Reuter in den reichen Gemütserfahrungen, welche zu gewinnen ihm dieselben Gelegenheit gaben. Stetig wechselnde Klänge aus der „Tonleiter menschlicher Empfindung" haben hier seine Seele in Schwingungen versetzt. Was Menschenherzen bewegt, was sie niederbeugt, was sie erhebt, hier hat er es an sich selber von Grund aus kennen gelernt, und so ist auch in dieser Richtung die Festungszeit eine Vorschule für den künftigen Dichter gewesen, der uns so tiefe Blicke in das menschliche Herz zu eröffnen, uns alle Regungen, Stimmungen desselben so wahr, so ergreifend zu schildern vermochte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz Reuter. Sein Leben und seine Werke.