Friedland

Friedland.

      „De rugsten Fahlen warden de
      glattsten Pird.“


Die Friedländer Gelehrten-Schule — diesen hochtönenden Namen führte damals und bis zum Jahre 1840 das wahrscheinlich schon um die Zeit der Reformation gegründete Gymnasium zu Friedland — erfreute sich zu jener Zeit des Rufes einer besonders wohlgeordneten und mit den tüchtigsten Lehrkräften ausgestatteten Bildungsanstalt, welcher nicht nur aus ihrem engeren Heimatlande: Mecklenburg-Strelitz, sondern auch aus Pommern und namentlich aus dem östlichen Teile des Mecklenburg-Schwerinschen Landes Zöglinge zuströmten. Der Bürgermeister Reuter war auf die Vorzüge dieses Institutes, welches neben anderen in engeren Kreisen vorteilhaft bekannten Männern die preußischen Staatsminister Graf Schwerin-Putzar und — les extremes se touchent — Rodbertus zu ihren Schülern zählte, speziell durch einen Sohn des Pastors Schmidt zu Stavenhagen, den unter den Schulmännern und Philologen mit Achtung genannten späteren Direktor des Wittenberger Gymnasiums, Dr. Hermann Schmidt*) aufmerksam gemacht worden, welcher gleichfalls die Friedländer Schule besucht hatte und gerade zu der Zeit, als Fritzens Vater den Entschluss fasste seinen Sohn auf eine höhere Schule zu schicken, als cand. theol. et philol. bei dem Pastor Buchka in dem 1 ¼ Meilen nordwestlich von Friedland gelegenen Schwanbeck die Stellung eines Hauslehrers einnahm. Schmidt war ferner befreundet mit dem zu Michaelis 1824 als Subrektor angestellten Heinrich Gesellius und konnte daher, als Bürgermeister Reuter um dieselbe Zeit seinen Sohn Fritz und seinen Pflegesohn August nach Friedland entsandte, den Knaben eine Empfehlung an diesen tüchtigen Schulmann mitgeben.

*) Jetzt als Direktor emer. in Wittenberg lebend.

Gesellius nahm sich denn auch treulich der beiden neuen Zöglinge an und mietete dieselben, um sie beständig unter seiner Aufsicht zu haben, bei seiner eigenen Wirtin ein. Als jedoch die letztere nach einiger Zeit den Bürgermeisterkindern ein schlechteres Zimmer anweisen wollte, erhoben diese, empört über solche Ungerechtigkeit, den lebhaftesten Protest und, nachdem dies ohne Erfolg geschehen, wandten sie sich mit einer Beschwerde an die Eltern. Das Ende war, dass Gesellius für seine Schützlinge ein neues Quartier anschaffen musste, in dem sie es — noch schlechter haben sollten. Das Mobiliar des neu akquirierten Zimmers war ein nur den bescheidensten Ansprüchen genügendes und bestand außer den Bettstellen in einem schwarzgestrichenen Tannentisch und drei Brettstühlen von gleicher Beschaffenheit; rechnet man hinzu noch die zwei kleinen Kommoden, welche die Knaben besaßen, so hat man die ganze Ausstattung ihrer Friedländer Schülerwohnung beisammen.

Bei der Prüfung, welcher der Rektor Professor Wegener die Reuter'schen Söhne unterzog, erwiesen sich dieselben als reif für Tertia. Beim Eintritt in diese Klasse stellte sich jedoch heraus, dass sie im Griechischen noch nicht hinreichende Kenntnisse gesammelt, weshalb sie in dieser Lektion vorläufig an dem Unterrichte der Quarta teilnehmen mussten.

Da zu Fritz Reuters Zeiten noch keine Zensuren an der Friedländer Schule erteilt wurden, so sind wir hinsichtlich seines Verhaltens zu den Wissenschaften ausschließlich auf die Tradition angewiesen, welche, wenn man sie mit den späteren Schulzeugnissen aus Parchim zusammenhält, die größte Wahrscheinlichkeit gewinnt. Eines geht aus diesen mündlichen Mitteilungen unzweifelhaft hervor, dass sich unser Dichter in Friedland ebensowenig wie im Vaterhause durch besonderen Fleiß auszeichnete. Den alten Sprachen namentlich konnte er durchaus keinen Geschmack abgewinnen und zog sich hierdurch häufig den Tadel seiner Lehrer zu. Für Geschichte und Mathematik dagegen verriet Reuter ein lebhaftes Interesse, und im Französischen hatte er, wie wir wissen, schon ziemliche Kenntnisse aus Stavenhagen mitgebracht, vermochte also ohne große Anstrengung den Forderungen der Klasse zu genügen. Einen wirklichen Fleiß, wirkliche Hingabe zeigte Fritz aber nur im Zeichenunterricht, den sein Schutzpatron Subrektor Gesellius, selbst ein gewandter Zeichner und tüchtiger Mathematiker, leitete. Wie von Friedland und demnächst von Parchim aus berichtet wird, waren Reuters Leistungen im Zeichnen in der Tat der Beachtung wert; im Porträtieren namentlich entwickelte er ein überraschendes Talent. Kam nun noch hinzu, dass diese Kunst damals in Friedland, Dank dem Unterrichte des dortigen Malers Adlich, sehr florierte und ein Mitschüler Fritzens es unter Führung dieses Lehrers sogar bis zum Ölmalen brachte, so wird es begreiflich, dass Fritz Reuter Lust bekam, den Wissenschaften den Rücken zu kehren und die Malerei zum Berufe seines Lebens zu erwählen. Wie dieses Projekt an dem festen Willen des Vaters scheiterte, werden wir später sehen.

Entwickelte Reuter auch keinen besonderen Fleiß, war er in Folge seines lebhaften Temperamentes auch zuweilen vorlaut, so hatten ihn die Lehrer um seiner hohen Anlagen willen wie seines guten Gemütes wegen doch alle von ganzem Herzen lieb. Der erste unter jenen Männern, welcher die eminente Begabung des Knaben erkannte, war der Prorektor Glasewald, der, je mehr er sich über die seltenen Fähigkeiten seines Favoriten freute, desto ungehaltener wurde, wenn Fritz es zeitweilig an jedem Interesse für die Unterrichtsgegenstände fehlen ließ. Hatte sich Glasewald eine Zeit lang geärgert oder gegrämt, dann sagte Fritz wohl: „Es ist doch Unrecht von mir, was ich tue. Im Herzen hat er mich lieb. Ich will ihn wieder trösten!", und er ging hin, tat Buße und arbeitete. Glasewald freute sich dann sichtlich und erwies dem wieder zu großen Hoffnungen berechtigenden Schüler alle Liebe, bis, ja bis — Fritz von Neuem in seinen natürlichen Fehler verfiel und das Lied von Vorne anfing. Neben Glasewald unterrichtete den Knaben vorzüglich Gesellius, dessen Interesse für ihn uns schon bekannt ist. — Reuter war sich übrigens seiner Dankesschuld gegen alle Lehrer wohl bewusst und, wenn er dies auch nicht durch sein Benehmen in den Schulstunden zeigte, so ergriff er doch jede sonstige Gelegenheit, ihnen eine Freude zu bereiten. So dedizierte er dem Dr. Bossart, vermutlich als dieser ihm die Ilias explizierte, einen selbstgezeichneten großen Achilles-Kopf.

Nicht minder gern als die Lehrer hatten die Mitschüler unseren Fritz, obgleich er auch ihnen durch seine Lust zum Spotten und Lächerlichmachen mitunter beschwerlich werden konnte. Da sie aber wussten, dass der kleine Humorist es nicht böse meinte, und diesen kleinen Belästigungen Hunderte von Beispielen seiner unverwüstlichen Gutmütigkeit entgegenzustellen hatten, so konnten sie ihm ob solcher Neckereien nicht lange gram sein. Hatte Reuter aber einen derselben allzu schwer „gekränkt", so bot er ihm wohl als Versöhnungsmittel und „Ableiter“ eine jener Karikaturen bekannter Friedländer Persönlichkeiten dar, welche er, mit Feder oder Bleistift rasch hingeworfen, zu allgemeiner Erheiterung öfters in Umlauf setzte. Gegen die kleineren Schüler bewies sich Fritz besonders freundlich, beschenkte sie auch, so oft er dazu im Stande war, und unterließ es jedenfalls nie ihnen aus, den Ferien einige Kleinigkeiten mitzubringen.

In Friedland sollte der Dichter denn auch gründliche Bekanntschaft mit jener Kunst machen, von welcher ihm Onkel Heise die erste, sehr schwache Vorstellung verschafft hatte, nämlich mit der Turnkunst, welche hier auf dem im Jahre 1815 eingerichteten Turnplatze zuerst von einem mecklenburgischen Gymnasium gepflegt wurde. Auch Fritz Reuter nahm an diesem Unterrichte teil, — das Turn-Album zeigt seinen, offenbar von ihm selbst eingetragenen Namen in kräftigen, festen Zügen, — und entfaltete als Turner sogar einen ziemlich regen Eifer. Mehr als die gymnastischen Übungen interessierten jedoch wohl die jährlichen Turnfahrten den Schüler, welcher, wie wir aus seiner Kindheitsgeschichte wissen, von früh auf eine ganz besondere Vorliebe für Fußwanderungen hegte.

Dass Fritz Reuter in Friedland bereits dichterische Versuche gemacht, ist den Kommilitonen, welche ihm am nächsten standen, nicht erinnerlich und überhaupt nicht recht glaublich, denn damals wurde sein ganzes Sinnen noch von der Malerei gefangen gehalten, wohl aber ist mir aus dieser Periode eine Anekdote von zuverlässiger Seite überliefert, welche in Fritz den künftigen, spannenden Erzähler ankündigt: Unter der Schuljugend war damals der Schmetterlingsfang eine Lieblingsbeschäftigung, und ihr sich hinzugeben, machte sich eines Tages auch Fritz Reuter mit 4 bis 5 seiner Mitschüler auf den Weg. Sie kamen, nachdem sie einige Schmetterlinge gefangen, zu einem Gehölz und lagerten sich dort, um vor weiterer Jagd einen kleinen Imbiss einzunehmen. Als sich die Gesellschaft auf dem grünen Waldteppiche gruppiert hatte, rief Reuter, der sich in dieser Zeit gerade mit der Lektüre der Walter Scott'schen Romane — vielleicht auf Kosten der „trockenen" Schulwissenschaften — viel und gerne beschäftigt hatte: „Jungs, nu will 'k Jug mal wat vertellen!“ und nun erzählte er ihnen in aller Kürze, aber mit solcher Anschaulichkeit und in so spannender, packender Weise den Inhalt von Scotts „Ivanhoe", seine Hauptentwicklung, wie auch einzelne Szenen desselben, dass die Schmetterlingsfänger ihre Fangnetze und die Falter ganz vergaßen, des Hörens nicht müde wurden, bis der Abend zum Aufbruch mahnte, und erst sehr spät mit einer gar bescheidenen Beute von 5—6 Schmetterlingen heimkehrten. Das war der erste Erfolg, welchen Fritz Reuter als Erzähler errang!

In Friedland sollte unseren Dichter auch ein sehr schwerer Verlust, das Dahinscheiden seiner treuen Mutter treffen. Es war am 19. Mai 1826, als der Tod seinen Einzug in das Stavenhagener Rathaus hielt und dem tätigen Leben der Frau Johanna Reuter ein Ende machte. Fritz war alt genug, um die ganze Schwere dieses Verlustes zu fühlen, und der Schmerz darüber klingt uns noch oft aus seinen Schriften entgegen; wo er seiner „guten" Mutter gedenkt, scheint uns eine Träne seinem Auge zu entperlen. Und konnte es anders sein? Verdankte er nicht dieser begabten Frau mit dem für alles Schöne und Edle empfänglichen Herzen einen Teil seines eigenen Selbst, hatte sie nicht schirmend die Hände über das zarte Kind gebreitet, ihm zuerst Herz und Sinn erschlossen? Das innige Band, welches zu allen Zeiten die Herzen der Dichter mit denen ihrer Mütter verband, es war zerrissen, und jetzt erst fühlte Fritz Reuter, wie fest und doch wie zart diese Verbindung gewesen. Zwei Augen, die voll treuer Liebe auf ihm geruht, waren für immer erloschen; sie sollten nicht mehr vor Mutterfreude erglänzen, als der Name des Sohnes die Welt erfüllte, dies höchste Dichterglück ward Reuter nicht mehr beschieden; aber eben diese Augen, sie sollten auch nicht vom Kummer getrübt werden, als man ihren Liebling im Mai seines Lebens aus der Bahn herausriss und dem Kerker überlieferte. Auch der höchste Schmerz, das tiefe Weh, welches bei dem Gedanken unsere Brust durchwühlt, dass ein Mutterauge unsertwegen von Tränen überquillt, auch dieses bittere Leid sollte unserem Dichter erspart bleiben.

Fritz blieb nach dem Tode seiner Mutter noch zwei Jahre in Friedland und ging alsdann zu Ostern 1828, nachdem er seit Michaelis 1826 der Secunda angehört, auf den Wunsch seines Vaters nach Parchim. Das Hauptmotiv, welches den Bürgermeister Reuter zu dieser Vertauschung der Friedländer Gelehrten-Schule mit dem Friedrich-Franz-Gymnasium in Parchim bestimmte, war der Übergang zweier, von Friedland her als besonders tüchtig bekannter Lehrer zu der letzteren Anstalt. Es leisteten nämlich zu Michaelis 1827 Fritzens Protektor Heinrich Gesellius und Dr. Johannes Zehlicke dem Rufe an das reorganisierte Parchimer Gymnasium Folge. Ersterer schied unmittelbar aus seiner Friedländer Wirksamkeit, Zehlicke dagegen hatte bereits Ostern 1826 Mecklenburg verlassen und während der dazwischen liegenden Zeit als Subdirektor am Gymnasium zu Greifswald fungiert. Letzterer, der, ein ausgezeichneter Schulmann, jetzt an die Spitze der Parchimer Schule trat, war während seiner Wirksamkeit in Friedland ausschließlich in den oberen Klassen beschäftigt gewesen, so dass Fritz keinen Unterricht mehr bei diesem vortrefflichen Lehrer hatte genießen können. Je lebhafter Bürgermeister Reuter damals das Scheiden Zehlickes aus Mecklenburg bedauert hatte, desto größer war jetzt die Freude, seinen Sohn nun doch noch der Pflege des weithin auf das Vorteilhafteste bekannten Pädagogen anvertrauen zu können. Ein anderer Grund gesellte sich zu diesem gewichtigsten Motive. Fritz Reuter hatte um diese Zeit, begeistert für die Malerei, den Vater gebeten, sich ganz dieser Kunst widmen zu dürfen, und hoffte nun Bürgermeister Reuter, der einer derartigen Neigung durchaus entgegen war, durch diese Lokalveränderung und die damit verbundene Andersgestaltung seines Gesichtskreises den Jüngling auf andere Gedanken zu bringen und ihn von der brotlosen Kunst wieder ganz zu den Wissenschaften zurückzuführen.

Fragen wir nun noch: wie stand es mit der äußeren dichterischen Anregung in Friedland, welchen Einfluss hatte die dortige Gesellschaft wie die Umgebung des Städtchens auf den Jüngling ausgeübt, so müssen wir antworten, dass hier von diesen beiden Seiten fast gar keine oder doch nur eine sehr geringe Wirkung auf den Jüngling ausgeübt wurde. Großen Familienverkehr, wie später in Parchim, scheint Reuter in Friedland noch nicht gehabt zu haben, und an originellen Charakteren hat daselbst dem Anschein nach geradezu ein Mangel geherrscht, denn sonst würden wir doch wohl in Reuters Werken auch hervorragende Friedländer Figuren finden, was bekanntlich nicht der Fall ist und sich nur daraus erklärt, dass die dortigen Persönlichkeiten ihm wohl nur Stoff für seine Karikaturen, also lächerliche Äußerlichkeiten, aber keine innere Originalität, kein Sujet für eine humoristische Gestaltung durch die Poesie darboten. Auch in der natürlichen Lage des Städtchens machte sich ein bedeutender Unterschied gegen Stavenhagen geltend. Von eigentlicher landschaftlicher Schönheit, die doch die Umgegend der Vaterstadt unseres Dichters zeigt, kann hier nicht die Rede sein, es fehlt dazu vornehmlich an dem in unserem norddeutschen Flachlande unerlässlichen Baumschmuck der Wälder. Auch die Stadt macht keinen sonderlich freundlichen Eindruck, ist aber trotzdem vielleicht durch ihr altertümliches Gepräge und ihre nicht uninteressante Geschichte für die Phantasie des jungen Reuter anregend gewesen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz Reuter. Sein Leben und seine Werke.
Friedland, Neubrandenburger-Tor

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Friedland, Pferdemarkt und Nicolaikirche

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Friedland, Turmstraße

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Friedland, Gesamtansicht

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