Friedrich Schleiermacher (1768-1834) Protestantischer Theologe, Philosoph, Publizist

Autor: Habicht, Ludwig (1832-1908) Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1863
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Schleiermacher, Befreiungskriege, Reformation, Philosophie
Aus den kirchlichen Wirren und Zerwürfnissen unseres Jahrhunderts tritt uns das Bild eines Mannes entgegen, der mild und freundlich, wie ein Bote des Friedens, die schärfsten Gegensätze zu versöhnen und in jenem Geist zu wirken suchte, den der göttliche Richter der christlichen Religion angedeutet hat.

                            ********************************
Bis in die fernsten Zeiten wird Friedrich Schleiermacher als Repräsentant einer Richtung gelten, die sich von starren Dogmen freigemacht und der Christuslehre in das innerste Herz gesehen. Die humanen Bestrebungen des vergangenen Jahrhunderts, die Kämpfe Herders, Lessings für Licht und Wahrheit erhielten auf kirchlichem Gebiet durch Schleiermacher ihren Abschluss. Geboren zu Breslau am 21. November 1768, fiel Schleiermachers Jugend in eine Zeit, in der bereits die Morgenröte eines neuen Lebens, freierer und größerer Gedanken, am Himmel der Menschheit heraufgestiegen war. Herders „Ideen“ hatten Wurzel gefasst, Lessings ,,Nathan“ ein neues Evangelium verkündet und durch Goethes ganze Dichtungen jubelte hell und kräftig der Weckruf:

„Gedenke zu leben!“ Es waren bewegte, stürmische Tage, die fast an jene der Reformation erinnerten. Einer solchen Zeit konnte niemand sich erwehren, sie drang wie der Strahl der Sonne überallhin, Licht und Wärme verbreitend.

Das ist die Macht großer Gedanken, dass sie wie mit einem elektrischen Schlage alle berührt. Auch das Leben Schleiermachers ist ein Beweis dafür. Er war der Sohn eines reformierten Feldpredigers, wurde im vierzehnten Jahre in das Pädagogium zu Niesky aufgenommen, der bekannten Lehranstalt der Brüdergemeinde, und später in das Seminarium zu Barby befördert — einer Glasglocke, wie sie dichter nicht über jugendliche Geister gestürzt werden konnte — und trotz dieser Erziehung, die in ihrer abgeschlossenen Weise mit ängstlicher Sorgfalt jedem Lichtstrahl einer freien Geistesrichtung zu wehren suchte, schrieb der junge Schleiermacher schon wenige Jahre nachher, am 21. Januar 1787, an seinen Vater: „Ich kann nicht glauben, dass der ewiger, wahrer Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte; ich kann nicht glauben, dass sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat und weil ich nicht glauben kann, dass sie nötig gewesen; denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben erschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.“ Und auf die Ermahnungen seines frommen Vaters musste der mit sich und seinen neuen Anschauungen kämpfende Jüngling erwidern: „Sie sagen, Verherrlichung Gottes sei der erste Zweck, und ich, Vollkommenheit der Geschöpfe; ist dies nicht am Ende einerlei? Erwächst nicht dem Schöpfer desto mehr Verherrlichung aus seiner Schöpfung, je vollkommener, je glücklicher seine Geschöpfe sind?“ Liegt nicht in diesen Worten schon der „ganze Schleiermacher“ an den sich in unserer Zeit der echte Protestantismus allein fest und innig schließen kann? Mit solchen religiösen Ansichten gab es, begreiflich genug, für den jungen Schleiermacher bei den strenggläubigen Herrnhutern keine längere Rast — er musste nach Halle übersiedeln und als er sich dort aus Armut nicht halten konnte, zu seinem Oheim, dem Prediger Stubenrauch, nach Drossen gehen. Wie er sich aber endlich aus den dürftigsten Verhältnissen zu einer sorgenfreiem Stellung emporarbeitete, so rang auch seine Seele sich aus all diesem „Zweifeln und Suchen“ zu einem höheren Glauben empor, der seine ganze Seele erfüllen und wie ein einziger, langgetragener Ton sich durch sein Schaffen und Wirken ziehen sollte. Die von Zweifelsucht aufgetriebenen Blasen zerplatzten, und in sich abgeschlossen, mild und harmonisch trieb er den Lebensstrom hinunter.

Im Juni 1790 machte Schleiermacher in Berlin sein Examen und hielt die Probepredigt; beide fielen so gut aus, dass der Hofprediger Sack ihn zu sich rufen ließ und versprach, ihm zu einer Stelle zu verhelfen. Im August desselben Jahres wurde der junge Kandidat Hauslehrer beim Grafen Dohna auf Schlobitten in Preußen. Der junge Mann fühlte sich angeheimelt von den ruhigen, glänzenden Verhältnissen, die ihn hier umgaben; er hatte Bücher, gute Gesellschaft, einen anziehenden Wirkungskreis und hoffte dort so selig zu sein, als man es im Himmel nur werden könne. Schon damals zeigte sich jener charakteristische Zug, der durch Schleiermachers ganzes Leben ging: die Sehnsucht nach einem häuslichen Glück, das ihm erst viel später werden sollte. Aus dem gräflichen Hause schrieb er: „Hier genieße ich das häusliche Leben, zu dem doch der Mensch bestimmt ist, und das wärmt meine Gefühle. Wie ganz anders wäre das gewesen, wenn ich z. B. in Berlin an irgendeiner Schule unter kalten, zusammengezwungenen Menschen freundlos hätte leben müssen! Gern geb’ ich dafür das Wenige, was ich an Kenntnissen vielleicht einbüße. Dabei lerne ich Geduld und eine Geschmeidigkeit, die aus dem Herzen kommt und in der Dankbarkeit für geselliges Glück gegründet ist; ich lerne mich und andere kennen, ich habe Muster der Nachahmung und fühle, dass ich ein besserer Mensch werde.“ Dennoch durste Schleiermacher „diese Geschmeidigkeit, die aus dem Herzen kommt“, nicht lernen; sie ist dem Schlesier eigentümlich und angeboren, und wenn er auch durch seine Charakterfestigkeit, durch seine Ausdauer im Denken und Schaffen diesen leicht ermüdenden Menschenschlag weit überragt, in der Beweglichkeit seines Geistes, in der Frische und Lebendigkeit, mit der sich die Welt in seinem Auge spiegelt, ist er doch ein echtes Kind dieses Stammes, der für Licht und Wahrheit stets in den ersten Reihen gekämpft. Ebenso charakterisiert die ganze Art und Weise seines Studiums Schleiermacher als Schlesier; er antwortet seinem Vater, der ihn nach der Einteilung seiner Zeit gefragt: „Das Studieren ist bei mir zu leidenschaftlich, wenn ich so sagen darf, als dass ich, solange es in meiner Willkür steht, gewisse Stunden halten könnte, wo ich mich hiermit beschäftige, um dann mit dem Glockenschlag, oder doch beinahe so, zu einem ganz andern Fach der Erkenntnis überzugehen. Alles, was ich vornehme, geschieht mit einer gewissen Vehemenz, und ich ruhe nicht eher, bis ich — auf einem gewissen Punkt wenigstens — damit fertig bin.“

Schleiermacher gab im Mai 1793 seine Hauslehrerstelle auf. Das Schicksal, das mit bitterer Ironie uns gern an Gestade wirft, die wir am meisten fliehen wollten, sorgte dafür, dass der junge Kandidat am Friedrich-Werderschen Gymnasium in Berlin eine Lehrerstelle annehmen musste, die ihm vor kurzem noch so traurig erschienen war. Der Gehalt von 120 Thalern war selbst in jener Zeit ein dürftiger, die Stellung nicht angenehm. Schleiermacher war froh, als er nach einem halben Jahre in Landsberg an der Warthe bei einem seiner Verwandten, dem Prediger Schumann, Gehilfe werden konnte. In dieser Zeit wurde er durch das Hinscheiden seines Vaters in tiefe Trauer versetzt; als er noch auf der Schule in Niesky war, hatte ihm der Tod die geliebte Mutter entrissen, und nun schloss sich sein liebebedürftig Herz um so inniger an seine Geschwister und später an seine Freunde an.

Im Jahre 1796 wurde Schleiermacher Prediger an der Charite in Berlin, und jetzt begann jene Zeit, die ihn zum Mittelpunkt eines großen, immer mehr sich ausbreitenden Kreises machen sollte. Er lernte den damals fünfundzwanzigjährigen Friedrich Schlegel kennen und die beiden jungen Männer fühlten sich wunderbar voneinander angezogen. Das war ein verwandter Geist, dem er seine philosophischen Ideen mitteilen konnte und der in die tiefsten Abstraktionen mit ihm Hinabstieg. Wie mögen sie in jenen schönen Jugendtagen in idealen Hoffnungen und Anschauungen geschwärmt haben — Betrachtungen, die uns noch aus Friedrich Schlegels „Geschichte der Literatur“ zuweilen anklingen, wenn er ruft: „Als ob der Geist, als ob ein Gedanke, der eben diese ganze Sonnen- und Sternenwelt umfasst, nicht etwas Anderes und Größeres wäre als sie; als ob Gott wäre wie ein irdischer Monarch, der unter den Millionen, die er beherrscht, vielleicht die ihm nie zu Gesicht gekommenen Bewohner eines kleinen Dorfs an der Grenze seines weitläufigen Reichs zu vergessen in Gefahr sein könnte!“ Friedrich Schlegel zog im Jahre 1797 zu Schleiermacher und machte diesem durch sein Einziehen große Freude. Wie lieb war es Schleiermacher, nur die Tür öffnen zu dürfen, um mit einer vernünftigen Seele zu reden, einen „Guten Morgen“ austeilen und empfangen zu können, sobald er erwachte. Dennoch vermisste Schleiermacher bald das zarte Gefühl und den feinen Sinn für die anmutigen Kleinigkeiten des Lebens und für die feinen Äußerungen schöner Gesinnungen, die oft in geringen Dingen das ganze Gemüt enthüllen. Wie Friedrich Schlegel Bücher mit großer Schrift liebte, so auch an den Menschen große und starke Züge. Das bloß Sanfte und Schöne fesselte ihn nicht so sehr, weil er alles für schwach hielt, was nicht feurig und stark erschien. Kein Wunder, dass diese Ehe, wie das Verhältnis der beiden Freunde scherzhaft genannt wurde, mit einer Scheidung endete. Schleiermacher war eine zu zart organisierte Natur, um die unmittelbare Nähe dieses Sturmvogels auf die Dauer ertragen zu können. Von seiner damaligen „Ehehälfte“ gibt Schleiermacher folgende Beschreibung: „Schlegels Äußeres ist mehr Aufmerksamkeit erregend als schön. Eine nicht eben zierlich und voll, aber doch stark und gesund gebaute Figur, ein sehr charakteristischer Kopf, ein blasses Gesicht, sehr dunkles und um den Kopf kurz abgeschnittenes, ungepudertes und ungekräuseltes Haar und ein ziemlich uneleganter, aber doch feiner und gentlemanmäßiger Anzug —“ ein scharf gezeichnetes Bild, das sehr wohl zum Verfasser der „Lucinde“ passt. Dieses im Jahre 1799 erschienene Werk des Freundes sollte Schleiermacher manchen Verdruss bereiten. Er schrieb darüber seine bekannten „Briefe“ — wo gäbe es jetzt einen Geistlichen, der den Mut hätte, ein solches Buch zu besprechen, geschweige denn über Gebühr anzuerkennen? Wohl hatte Dorothea Veit, Schlegels Freundin, darum recht, wenn sie an Schleiermacher schrieb: „Das muss ich Ihnen aber doch sagen, dass Sie mir wenigstens so kühn wie die „Lucinde“ selbst zu sein scheinen und dass Sie der Welt hoffentlich mit Ihrer Gründlichkeit vollends den Kopf verrücken werden.“ Eine neue Zeit war angebrochen, manche Fessel gesprungen; kein Wunder auch, dass sich der leichtbewegliche, feinfühlige Schleiermacher von einem Buche mit fortreißen ließ, in dem eine stürmische Leidenschaft heiß und feurig aufschäumte. Auf die Vorwürfe des Hofpredigers Sack darüber antwortete Schleiermacher mit einer Hoheit und einem sittlichen Adel, die den unvergesslichen Mann in seiner ganzen Größe zeigt: „. . . Nie werde ich der vertraute Freund eines Menschen von verwerflichen Gesinnungen sein; aber nie werde ich aus Menschenfurcht einem unschuldig Geächteten den Trost der Freundschaft entziehen; nie werde ich meines Standes wegen, anstatt nach der wahren Beschaffenheit der Sache zu handeln, mich von einem Schein, der andern vorschwebt, leiten lassen. Einer solchen Maxime zufolge würden ja wir Prediger die Vogelfreien sein im Reiche der Geselligkeit; jede Verleumdung gegen einen Freund könnte uns von ihm verbannen. Vielmehr ist das Ziel, welches ich mir vorgesetzt habe, dieses, durch ein untadelhaftes, gleichförmiges Leben es mit der Zeit dahin zu bringen, dass nicht von einem unverschuldeten Übeln Ruf meiner Freunde ein nachteiliges Licht auf mich zurückfallen kann, sondern vielmehr von meiner Freundschaft für sie ein vorteilhaftes auf ihren Ruf.“

Durch Schlegel war Schleiermacher auch mit Fichte, Tieck und Novalis bekannt geworden, ohne in ein vertrauteres Verhältnis mit einem derselben zu treten. Fichtes Weltanschauung konnte dem Anhänger Spinozas, der Schleiermacher damals war, nicht zusagen; Tieck stellte er zwar in literarischer Beziehung sehr hoch, seinem Gemüt aber stand Novalis am nächsten. Aussprüche des letztern wie: „Die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb, überall zu Hause zu sein“, waren Schleiermacher verwandte Klänge und mussten ihn im tiefsten Innern berühren.

Hegel behauptet, der Mann sei das Tier, das Weib die Pflanze der Schöpfung; aber zarter organisierte Männer führen immer mehr ein Pflanzenleben und auch Schleiermacher konnte sich inniger an Frauen anschließen als an Männer; denn es war so vieles in seinem Gemüt, was diese selten verstanden. In dem Bewusstsein dieses Pflanzendaseins schrieb er an seine Freundin Henriette Herz:

„Ach, Liebe, tun Sie Gutes an mir und schreiben Sie mir fleißig! Dies muss mein Leben erhalten, welches schlechterdings in der Einsamkeit nicht gedeihen kann! Wahrlich, ich bin das allerabhängigste Wesen auf der Erde; ich zweifle sogar, ob ich ein Individuum bin! Ich strecke alle meine Wurzeln und Blätter aus nach Liebe; ich muss sie unmittelbar berühren, und wenn ich sie nicht mit vollen Zügen in mich schlürfen kann, bin ich gleich trocken und welk.“ Mit Henriette Herz verband ihn die reinste und innigste Freundschaft. Den meisten Anstoß fand die Welt daran, dass Henriette eine Jüdin war; aber Schleiermacher trotzte solchen kleinlichen Vorurteilen.

Seine Freunde dagegen fürchteten, dass Leidenschaft bei dieser seiner Freundschaft im Hintergrunde liege, dass er selbst dies früher oder später entdecken und es ihn unglücklich machen würde. Schleiermacher trat auch dieser Ansicht entgegen, und behauptete, dass nicht in jedem Verhältnis zwischen Mann und Frau auf Leidenschaft zu schließen sei und gerade hier Freundschaften entstehen könnten, die kein unreiner Hauch zu trüben vermöchte.

In demselben Jahre, 1799, in dem Schlegels „Lucinde“ erschienen, gab Schleiermacher seine „Reden über die Religion“ heraus. Der Hofprediger Sack, der sie zur Zensur bekommen hatte, bemerkte unter andern in seinem scharfen Tadel darüber: „Was ist ein Prediger, der das Universum für die Gottheit hält, dem Religion nichts weiter ist als eine Anschauung des Universums?“ Schleiermacher entgegnete darauf: „Ich habe nur gesagt, dass die Religion davon nicht abhänge, ob man im abstrakten Denken der unendlichen , übersinnlichen Ursache der Welt das Prädikat der Persönlichkeit beilege oder nicht. . . Von dem Faktum, dass einige Menschen Gott die Persönlichkeit beilegen, andere nicht, habe ich den Grund in einer verschiedenen Richtung des Gemüts aufgezeigt und zugleich, dass keine von beiden die Religion hindere“. . . Wie hat sich seit dieser lichten, weiten Anschauung unser religiöser Horizont verengt! Der Buchstabenglaube, das strenge, starre Bekennertum, das nicht zu denken wagen darf, ruht wie eine bleierne Wolke über uns.

Schleiermacher gewann trotz und in diesen Kämpfen immer mehr Boden und fand überall für seine Lehre und freien Gedanken die lebhaftesten Sympathien. Selbst die Kinder des Hofpredigers Sack scheuten keinen noch so weiten Weg, um ihn predigen zu hören; denn er predigte aus dem Herzen zum Herzen. „Meine Religion ist so durch und durch Herzreligion, dass ich für keine andere Raum habe.“ Schleiermachers gesellige Beziehungen waren sehr ausgedehnt; nur selten wies er eine Einladung zurück und so sah er auch viele Leute in seinem Hause. Hatte er am nächsten Tage zu predigen, so stellte er sich oft im Gesellschaftszimmer etwa eine Viertelstunde an den Ofen und blickte still vor sich hin. Dann wussten seine nähern Freunde, dass er über die Predigt nachdenke und ließen ihn ungestört.

Am Neujahrstage 1801 brachte Schleiermacher seinen Zeitgenossen und der Nachwelt seine „Monologe“ als Festgabe. Nirgends zeigt sich frischer und lebendiger die Kunst seines Strebens, die zu Harmonie sich emporringende Seele, als in diesem Werke, und in mächtiger Begeisterung schließt er das Buch mit folgenden Worten: „Nie werd’ ich mich alt dünken, bis ich fertig bin, und nie werd’ ich fertig sein, weil ich weiß und will, was ich soll. Und so seh’ ich lächelnd schwinden der Augen Licht und keimen das weiße Haar zwischen den blonden Locken. Nichts, was geschehen kann, mag mir das Herz beklemmen; frisch bleibt der Puls des innern Lebens bis an den Tod.“

Wie wenig Schleiermacher zu den Strenggläubigen unserer Tage passen würde, zeigt sich auch darin, dass er es für eine sittliche Pflicht hielt, eine Ehe aufzulösen, bei der das innere Leben der einen Hälfte zu Grunde gehe; ja er hätte sich nicht gescheut, eine geschiedene Frau zu Heiraten — im Gegensatz zu unsern Theologen, die eine Trauung Geschiedener weigern, wenn nur gesetzliche und nicht auch kirchliche Scheidungsgründe vorhanden sind. Frau Prediger Grunow lebte in einer solch unglücklichen Ehe und es war beschlossen, dass Schleiermacher die „Geschiedene“ als feine Gattin heimführen sollte. Zum tiefsten Schmerz Schleiermachers war es aber Leonore Grunow selbst, die von Verwirklichung dieser Träume zurücktrat. Noch mitten in solchen Kämpfen schrieb er an sie: „Kein Wunsch kann so sehr sich selbst realisieren als der, dass die Kraft des Gemüts immer zusammentreffen möge mit der Gunst des Augenblicks, und dass aus dem Wenn und Wie unseres Tuns ein göttlich gutes Geschick hervorleuchte, indes es doch nichts gewesen ist als der unter allen schmerzlichen Gefühlen bewahrte klare Blick des Geistes und die Freiheit eines reinen und regsamen Gemüts.“ Wem solche Gedanken das Herz erfassen, der steht immer mitten im Leben, und wie auch neue Wellen an ihn heranrollen, er bewahrt sich jene Tiefe und Innigkeit des Gemüts, die alle und jede Zukunft warm und liebevoll erfasst. In. diesem Sinne schrieb er: „Alles gefühlt zu haben — das ist der Reichtum des Lebens — alles, was ein liebendes Herz bewegen kann, gleichviel wie und was.“

Um den Seelenkämpfen ein Ende zu machen, in die er durch die beabsichtigte Verbindung mit Eleonore Grunow geraten war, verließ er Berlin und nahm eine Predigerstelle in Stolpe an, erhielt aber schon im Mai 1804 durch eine Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. eine Professur an der Universität zu Halle. Hier, vom Katheder herab, sprühte sein Geist jene zündenden Funken, die in den Herzen seiner Zuhörer einen unauslöschlichen Eindruck machten; hier wurde seine Tätigkeit zum reinsten, schönsten Segen für das Vaterland; denn die von lichtem, höhern Anschauungen getränkten Schüler Schleiermachers waren die Pfeiler, die gegen die unaufhaltsam hervorbrechenden Fluten des Pietismus einen Damm bildeten, daran sich die heftigsten Wogen brachen. Aber in welcher Gemütswärme, welcher geistigen Kraft stand er auch vor seinen jugendlichen Zuhörern! Wie wusste erste anzuregen, ihnen zu imponieren, sie zu fesseln! Und in der Stunde der Not wurde aus dem schwachen, gebrechlichen Mann ein Held, der mit Begeisterung für die höchsten Güter des Lebens, für Freiheit und Vaterland, einstand. Die echt vaterländische Gesinnung, die er in jenen über Preußen mit der Niederlage von Jena hereingebrochenen schweren Tagen an den Tag legte, konnte die Zuneigung der Studenten für ihn nur steigern. Ein Mann, der da an eine Freundin schrieb: „Bedenken Sie, dass kein einzelner bestehen, dass kein einzelner sich retten kann, dass doch unser aller Leben eingewurzelt ist in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung“, ein solcher Mann musste wohl jugendliche Herzen mit sich fortreißen! Dabei blieb, inmitten des sinkenden Vaterlandes, Schleiermachers Hoffnung auf eine schönere Zukunft ungetrübt; er glaubte an sein Vaterland: „Ich bin gewiss, dass Deutschland, der Kern von Europa, in einer schönen Gestalt wieder sich bilden wird; wann aber — und ob nicht erst nach weit härtern Trübsalen und nach einer langen Zeit schweren Druckes, das weiß Gott!“

Im Mai 1809 vermählte sich Schleiermacher mit der Witwe eines seiner Freunde, die schon längst seinem Herzen nahe gestanden hatte, und er, dem die Ehe so rein und heilig galt, fühlte sich nun erst wahrhaft glücklich. Nur wer lange lebt, vermag seinen Gedanken Bahn zu brechen und seinen Ideen allmählich Geltung zu verschaffen, und Schleiermachers starke Seele wusste gleichsam den Lebensfunken auch so lange an seinen zarten, gebrechlichen Körper zu bannen, dass ihm die Saat noch entgegenreifte, die er ausgestreut. Als er am 12. Februar 1834 das Auge für immer schloss, konnte er in Frieden scheiden, sein Werk war vollbracht, seine große, milde Seele hatte Licht und Wärme in die Christuslehre gehaucht, die sie in dem Munde eifernder Priester verloren; in ihm hatte sie etwas von ihrer historischen Bestimmung wiedergefunden: ein Ring zu werden, der die ganze Menschheit umschließt.

Wie die Welt nicht fertig, sondern im ewigen Werden begriffen, so ist es auch das Christentum; es darf sich nicht abschließen gegen die Strömungen der Zeit, sondern muss wie ein weiter voller Strom in sich aufnehmen und auf seine Weise zu verarbeiten suchen, was die Jahrhunderte in seine Wellen werfen. Das hatte Schleiermacher erkannt z sein Christentum war nicht verknöchert, hart und unzugänglich wie das seiner Nachfolger; er begriff, dass die christliche Lehre ein Evangelium der Liebe und der ein wahrer Priester derselben sei, der Glück und Sonnenschein um sich zu breiten suche und dem selbst der hellste Sonnenschein durch das Herz zittere. Und so kam es, dass der gefeierte Geistliche ein Freund der Musen wurde, Plate übersetzte, mit den Dichtern der romantischen Schule verkehrte, die eine wilde Lebenslust predigten, mit einer Jüdin ein Freundschaftsbündnis schloss und selbst vor dem Gedanken nicht zurückschreckte, eine geschiedene Frau zu Heiraten. Welcher Kontrast mit den meisten Geistlichen von heute! Seine romantischen Freunde gingen noch weiter; sie wollten eine neue Religion stiften, aber dies waren leere Seifenblasen und Karl Gutzkow behauptet in seinem „Zauberer von Rom“ mit Recht: „Unsere Zeit ist nicht zu neuen Religionsschöpfungen gemacht, die einzige Religion des Bruchs mit aller Religion etwa ausgenommen.“ „Idealistisch zu streben und realistisch zu handeln, darin besteht der echte menschliche Wille“, behauptet Kuno Fischer. Durch Schleiermachers ganzes Dasein zog sich diese Lebensmaxime; er wusste das Widersprechendste in sich harmonisch auszugleichen und konnte deshalb an Jacobi schreiben: „Ich bin mit dem Verstände ein Philosoph, denn das ist die ursprüngliche und unabhängige Tätigkeit des Verstandes, und mit dem Gefühle bin ich ganz ein Frommer, und zwar als solcher ein Christ, und habe das Heidentum ganz ausgezogen oder vielmehr nie in mir gehabt. Sie sind aber, wie wir alle wissen, mit dem Verstände auch ein Philosoph und gegen alle, welche glauben katholisch werden zu müssen, fest entschlossen immer fortzuphilosophieren, und darin sind wir schon vollkommen einig — denn ich will mir auch das Philosophieren in alle Ewigkeit nicht nehmen lassen.“

So mild und weich Schleiermachers Seele war, konnte er dennoch scharf und schneidend sein; in einem Briefe an Eleonore Grunow äußerte er sarkastisch: „Denken Sie sich, dass ich mich entschlossen habe, einen Aufsatz an Jenisch im „Brennus“ zu lesen; ich meinte, es könnte doch vielleicht etwas darin stehen. Ist das nicht gerade wie ein Setzen in die Lotterie, weil ich meine, ich könnte doch einmal etwas gewinnen?“ Und was würden seine jetzigen Amtsbrüder zu dem Ausruf sagen: . . . „Ich wollte, der Teufel holte die Hälfte alles Verstandes in der Welt — meine Quota will ich auch hergeben, wiewohl ungern — und wir könnten dafür nur den vierten Teil der Phantasie bekommen, die uns fehlt auf dieser schönen Erde.“ Als Jenisch, der Schleiermacher mit den schmähendsten Angriffen verfolgt, sich selbst entleibt hatte, schrieb er nicht ohne Hohn: „Von dem Verdacht, dass er noch lebt, hat sich der Verfasser doch nun hinlänglich gereinigt.“ Die Rahel, die diesen heiligen Zorn, der auch den Besten zuweilen ergreift, sehr gut kannte, hatte da freilich nicht so unrecht, wenn sie behauptete, „Fichte habe Klauen, Schleiermacher Messer im Kopf.“

Schleiermachers Gedanken sind nicht eigentlich tief, aber von außerordentlicher Wärme und Innigkeit — sie zünden nicht, sie strahlen nur ein mildes, sanftes Licht aus.

Elisa Maier, die schon aus dem reichen Schatze der Schriften Georg Forsters und Wilhelm von Humboldts sinnvolle Gedanken, Sprüche und Erfahrungen zu einem harmonischen Ganzen zusammengestellt, hat soeben aus Schleiermachers Werken eine ähnliche Blumenlese: „Lichtstrahlen aus Friedrich Schleiermachers Werken“ (Leipzig, F. A. Brockhaus), herausgegeben. Mit der ganzen Schmiegsamkeit einer Frauenseele hat sie sich in die Schriften und das Leben des verehrten Mannes eingelebt; das Ganze seiner Persönlichkeit, seines Wirkens und seines Glaubens tritt uns aus diesem Buche fesselnd, kräftig und begeisternd entgegen.

Wer vergäbe ein Wort wie dieses: „Wohl kann ich sagen, dass die Freunde mir nicht sterben; ich nehme ihr Leben in mich auf und ihre Wirkung auf mich geht niemals unter, mich aber tötet ihr Sterben!“

„Die Anhänger des tobten Buchstabens, den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt; die wahren Beschauer des Ewigen waren immer ruhige Seelen, entweder allein mit sich und dem Unendlichen, oder, wenn sie sich umsahen, jedem, der das große Wort nur verstand, seine eigene Art gern vergönnend.“

Erinnern diese Worte nicht an die ruhige Weise Goethes, der, im Spinozismus groß geworden, jeden seinen Weg gehen ließ und der Hoffnung war, dass sie alle an ein Ziel führten — wenn man nur rüstig und unverdrossen vorwärts schritte, und der an dem Gedanken Spinozas festhielt: „Wer Gott recht lieb hat, der muss nicht verlangen, dass Gott ihn wieder lieben solle!“ Gottes Gedanken zu erkennen, das bleibt das höchste Ziel des Lebens. Aber indem wir den Blick zu ihm erheben und staunend vor seinen Wunderwerken in den Staub sinken, dürfen wir nicht verlangen, dass Er uns an die Brust schließen, dass Er unsere Sprache reden solle. Denken wir uns Gott nicht allein als die Kraft, die im Staubatom wie im Sternenwalten sich tätig bekundet, sondern denken wir ihn uns auch als liebende Gottheit, die wunderbar unsere Schicksale leitet und uns aus Nacht zum Licht führt! Wie Sterbliche ein Herz haben, das die Gottheit innig liebend sucht, warum sollte nicht auch Gott ein sorgender Vater für uns sein zu derselben Zeit, wo er als großer Allgeist die Welt an sich vorüberrollen lässt?

Friedrich Schleiermacher (1768-1834) Protestantischer Theologe, Philosoph, Publizist

Friedrich Schleiermacher (1768-1834) Protestantischer Theologe, Philosoph, Publizist

Lessing, Gotthold Ephraim (1729-1781) bedeutender Dichter der deutschen Aufklärung

Lessing, Gotthold Ephraim (1729-1781) bedeutender Dichter der deutschen Aufklärung

Kant, Immanuel (1724-1804) deutscher Philosoph

Kant, Immanuel (1724-1804) deutscher Philosoph

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1770-1831) deutscher Philosoph

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1770-1831) deutscher Philosoph

Herder, Johann Gottfried (1744-1803) Dichter, Übersetzer, Theologe, Kulturphilosoph

Herder, Johann Gottfried (1744-1803) Dichter, Übersetzer, Theologe, Kulturphilosoph

Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772-1801) Schriftsteller, Philosoph, Jurist

Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772-1801) Schriftsteller, Philosoph, Jurist

Spinoza, Baruch de (1632-1677) niederländischer Philosoph

Spinoza, Baruch de (1632-1677) niederländischer Philosoph