Friedrich Chopins gesammelte Briefe

Zum erstenmal herausgegeben und getreu ins Deutsche übertragen.
Autor: Scharlitt, Bernard, Erscheinungsjahr: 1911
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Chopins, Briefe, Musik, Kunst, Sänger, Komponist, Tondichter
Einleitung

Nicht nur Bücher, auch Briefe haben ihre Schicksale. Überaus eigenartige waren es, die den hier zum erstenmal gesammelt und in getreuer Verdeutschung des Originalwortlautes erscheinenden Briefen Friedrich Chopins widerfuhren. Darauf läßt schon der Umstand schließen, daß deren Herausgabe mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Tode ihres Schreibers erfolgt. Diese war aus dem einfachen Grunde nicht früher möglich, weil ein großer Teil der Korrespondenzen des Tondichters erst vor kurzem aufgefunden wurde. Die so späte Auffindung erklärt sich aber in erster Reihe aus den tragischen Geschicken des Landes, zu dessen größten Söhnen der Nokturnensänger zählt. Polens Unglück hat wie dem Leben und Schaffen Chopins, so auch den Schicksalen seiner Briefe das Gepräge verliehen.

Nach dem Tode des Meisters wurde eine ganze Reihe seiner Briefe zusammen mit dem übrigen Nachlasse von seiner schottischen Schülerin, Fräulein Stirling*), erworben und späterhin seiner Mutter zum Geschenk gemacht. Als diese gestorben war, gelangte alles in den Besitz der jüngeren Schwester Chopins, Frau Isabella Barcinska. In das von dieser bewohnte gräflich Zamoyskische Palais in Warschau drangen nun im Jahre 1863 nach einem Bombenanschlag auf den damaligen Warschauer Gouverneur betrunkene Kosaken ein, warfen alles, was sie vorfanden, auf die Straße hinab und verbrannten es dort. Darunter auch einen großen Teil der erwähnten Briefe des Tondichters. Die Mehrzahl hiervon war jedoch zum Glück schon, einige Jahre vorher von dem ersten Chopinbiographen, Moritz Karasowski, kopiert worden. Ein weiterer Rest aber befand sich bereits vor dem Jahre 1863 bei Verwandten Chopins, die auf dem Lande lebten. Und dieser Rest eben wurde vor vier Jahren von dem in der Blüte des Lebens dahingegangenen, hervorragendsten jungpolnischen Tondichter, M. Karlowicz, ausfindig gemacht und in polnischer und französischer Sprache veröffentlicht.

*) Fräulein Jane Stirling, von der ebenso wie von ihrer älteren Schwester, Frau Katharine Erskine, in den Briefen Chopins aus London und Schottland so oft die Rede ist („meine biederen Schottinnen“ nennt sie der Tondichter häufig), war seine anhänglichste Schülerin. Sie hat den Tondichter zu dem Ausfluge nach London und Schottland angeregt, wo sie ihn in wahrhaft schwesterlicher Weise betreute. Als Chopin kurz vor seinem Tode in bitterste Not geriet, erwies sie sich als sein guter Engel, indem sie ihm 25.000 Frcs. zur Verfügung stellte.

Nicht lange darauf ist dem fürstlich Czartoryskischen Museum in Krakau, das bereits eine kostbare Sammlung von Chopinreliquien besaß, eine Serie von unbekannt gebliebenen Briefen des Meisters an den ihm intim befreundet gewesenen polnischen Grafen Albert Grzymala geschenkt worden. Endlich hat vor kurzem der Chopinbiograph Ferdinand Hösick die überaus interessante Korrespondenz des Tondichters mit George Sands Tochter in Paris zustandegebracht.

Die Odyssee der Briefe Chopins ist damit jedoch noch keineswegs erschöpft, Ihr merkwürdigstes Kapitel bildet eine Entdeckung, die von mir gemacht wurde, als ich an die Zusammenstellung dieses Briefbandes schritt. In erster Reihe sollten hier die von dem Chopinbiographen Karasowski glücklich geretteten Briefe aufgenommen werden. Da Karasowski seine Lebensbeschreibung des Tondichters, in der eben auch die Briefe angeführt sind, zuerst in deutscher Sprache veröffentlicht hat, so lag für mich nichts näher, als die Aufnahme dieser Briefe in der Übersetzung Karasowskis. Nun hatte ich aber gelegentlich eines von mir aus Anlaß des 100. Geburtstages Chopins in der „Neuen Freien Presse“ publizierten Festartikels „Chopin und Wien“ worin ich auch unbekannte Wiener Briefe des Tondichters zum erstenmal bekannt gab, die Entdeckung gemacht, daß einer von diesen Briefen schon von Karasowski mitgeteilt worden ist, jedoch in einem Wortlaute, der mit dem des Originalbriefes absolut nicht identisch war. Dies machte mich natürlich stutzen und veranlagte mich zu einem genauen Vergleich der übrigen, in der deutschen Chopinbiographie Karasowskis enthaltenen mit den Briefen in der von ihm einige Jahre später veröffentlichten polnischen Ausgabe dieser Lebensbeschreibung. Das Ergebnis war ein geradezu unglaubliches. Die in der deutschen Ausgabe mitgeteilten Briefe erwiesen sich fast sämtlich als beispiellose Fälschungen. Es blieb mir daher nichts andres übrig, als die gesamten, von Karasowski bekanntgegebenen Briefe aus der polnischen Ausgabe seiner Chopinbiographie von neuem ins Deutsche zu übertragen. Dabei zeigte sich nun aber, daß auch in dieser einesteils der Wortlaut entstellt wiedergegeben ist, anderenteils seitenlange Stellen ausgelassen sind. Dies gilt namentlich von den für seine Charakteristik so überaus wichtigen Briefen Chopins an seinen Lieblingsfreund Titus Wojciechowski, die von Karasowski nicht wortgetreu und durchwegs nur fragmentarisch bekanntgegeben wurden. Bei der von ihm in polnischer Sprache veröffentlichten Korrespondenz des Tondichters mußte Karasowski allerdings mit den eigenartigen russischen Zensurverhältnissen rechnen. Aus welchen Ursachen er aber die von ihm zuerst in deutscher Sprache publizierten Briefe Chopins gefälscht hat, bleibt ein unaufgeklärtes Rätsel. Tatsache ist, daß er mit ihnen — dies lehrt ein einfacher Vergleich — wie ein Schullehrer mit dem Aufsatz eines Schülers umging, indem er einerseits ganze Stellen einfach ausmerzte, dafür aber von ihm selbst „verfaßte“ hinzufügte, andererseits den Wortlaut derart „umstilisierte“, daß schließlich fast nichts mehr von dem originalen übrig blieb. Wie vieles, für die Charakteristik Chopins überaus Bezeichnendes — von dem bis zur Unkenntlichkeit entstellten, natürlich-einfachen Stil des Meisters abgesehen — durch dieses unerhörte Verfahren verloren ging, vermag der Leser aus den in den Fußnoten zu den betreffenden Briefen angeführten krassesten Beispielen zu ersehen. Da nun auch der englische Chopinbiograph, Friedrich Niecks, die Mehrzahl der von ihm angeführten Briefe des Tondichters der deutschen Chopinbiographie Karasowskis entnommen, die der polnischen Ausgabe entnommenen Briefe an Fontana hingegen in allzu freier Übertragung und zum Teil auch gekürzt wiedergegeben hat, so darf wohl gesagt werden, daß von den Briefen Chopins außerhalb Polens bislang nur wenige in ihrem wirklichen Wortlaute bekannt geworden sind.

Der vorliegende Briefband stellt sonach nicht nur die erstmalige Sammlung der bisher aufgefundenen Briefe des Tondichters, sondern auch die erstmalige getreue deutsche Wiedergabe ihres genauen Wortlautes dar. Wir sagen ausdrücklich: der bisher aufgefundenen Briefe. Damit soll eben angedeutet werden, daß unsere Sammlung keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Denn es dürfte, wie die eigenartigen Schicksale der bislang zustande gebrachten gelehrt haben, nicht ausgeschlossen sein, daß eines Tages noch eine neue Reihe von unbekannten Briefen des Tondichters zur Auffindung gelangt.

Bis dahin bleibt jedoch eines gewiß: daß das bisherige Lebens- und Charakterbild Friedrich Chopins mit diesem Briefband in überaus reichem Maß ergänzt und vervollständigt wird. Vor allem durch eine große Anzahl von unbekannt gebliebenen Briefen, die manche Lücke in den Chopinbiographien ausfüllen. Ferner aber durch zwei, in den Briefen des gereiften Tondichters zutage tretende, für das Kennenlernen seines wahren Wesens besonders wichtige Merkmale: die von ihm bis ans Lebensende bewahrte, spezifisch- polnische Eigenart, sowie das bei ihm ebenfalls bis dahin erhalten gebliebene, tiefe Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Polentume. — Merkmale, durch die alle bisherigen Versuche, den Schöpfer der Mazurken zu einem Franzosen zu stempeln, endgültig ad absurdum geführt werden.

Von den biographischen Lücken, die hier ihre Ausfüllung erfahren, ist in erster Reihe die Chopins Bruch mit George Sand betreffende zu nennen, der in den Briefen des Tondichters an seine Angehörigen, sowie an die Tochter der Dichterin zur Aufhellung gelangt. Zum besseren Verständnisse der darin enthaltenen Einzelheiten müssen jedoch die dem Bruche vorangegangenen und auch die Begebenheiten nach diesem hier des näheren dargelegt werden.

Den bislang unbekannt gebliebenen Ausgangspunkt der Ereignisse, die unmittelbar zu der Entzweiung Chopins mit der Dichterin geführt haben, bildete die ihm von dieser verheimlichte Verführung ihrer Tochter Solange durch deren späteren Gatten, den Pariser Bildhauer Jean Baptist Clésinger. Diese Verheimlichung zog eine Reihe von Mißverständnissen nach sich, die schließlich den Bruch zur Folge hatten. In Unkenntnis des zwischen Solange und Clésinger Vorgefallenen setzte nämlich Chopin, der über den Bildhauer schlechte Auskünfte erhalten hatte, der Heirat der beiden den heftigsten Widerstand entgegen. Als nun diese trotzdem erfolgte, konnte Chopin sich dies nicht anders, denn durch die Annahme erklären, George Sand habe ihm auf diese Weise zu verstehen geben wollen, daß seine Rolle bei ihr ausgespielt sei. Wie unrichtig er geurteilt hat, erhellt am besten aus den folgenden, einem Briefe der Dichterin an den intimen Freund Chopins, den polnischen Grafen Albert Grzymala, entnommenen Zeilen, die auch auf ihre Beziehungen zu dem Meister ein neues Licht werfen. „Ich bin, mein Freund“, heißt es dort, ,,mit der Heirat meiner Tochter so zufrieden wie nur möglich. Sie geht ganz in Liebe und Wonne auf, und Clésinger scheint dessen würdig zu sein, weil er sie leidenschaftlich liebt und ihr auch jene Existenz zu bieten in der Lage ist, von der sie träumt. Doch das ist schließlich alles eins, weil man in jedem Fall leidet, nachdem man einmal einen solchen Entschluß gefaßt hat. Ich stelle mir vor, daß Chopin auch nicht wenig gelitten haben muß, zumal da ihm die näheren Umstände fremd geblieben sind und er daher nicht imstande war, mir zu raten. Freilich können seine Ratschläge in realen Lebensangelegenheiten unmöglich in Betracht gezogen werden. Hat er doch niemals die Tatsachen im wahren Lichte gesehen, noch auch von der menschlichen Natur sich in irgend welcher Hinsicht Rechenschaft gegeben. Seine Seele ist ganz Poesie und Musik, und er kann daher nichts ertragen, was seiner Anschauungsweise widerspricht. Abgesehen davon, würde aber sein Einfluß auf meine Familienangelegenheiten für mich den Verlust jeder Autorität meinen Kindern gegenüber bedeuten.

Sprich mit ihm darüber und trachte es ihm im allgemeinen beizubringen, daß er es unterlassen solle, sich allzusehr mit den Angelegenheiten meiner Kinder zu beschäftigen. Wenn ich ihm sage, daß Clésinger (den er nicht leiden kann) unseres Vertrauens würdig ist, so wird er ihn nur noch mehr hassen und sich dadurch am Ende noch die Feindschaft der Solange zuziehen. Dies alles ist überaus schwierig und heikel, und ich weiß nicht, in welcher Weise ich diese kranke Seele beruhigen und ihr Mut zusprechen soll, noch dazu da sie durch alle auf ihre Heilung abzielenden Bemühungen in Aufregung gebracht wird. Das Übel, von dem dieses arme Geschöpf sowohl physisch, wie moralisch zernagt wird, tötet mich schon seit langem; und ich sehe, wie er sich von mir immer mehr entfernt, war jedoch niemals imstande, ihm etwas Gutes zu erweisen, weil das eifersüchtige Gefühl, das er für mich hegt, immer die Hauptursache seiner Trauer ist . . .

Seit sieben Jahren lebe ich mit ihm wie eine Jungfrau. Wenn irgend ein Weib in der Welt ihm unbedingtes Vertrauen hätte einflößen sollen, so bin ich es, doch hat er das niemals begreifen wollen. Ich weiß es nur zu gut, daß viele Leute mich beschuldigen: die einen, daß ich ihn durch die Heftigkeit meiner sinnlichen Triebe zugrunde gerichtet, die anderen, daß ich ihn durch meine Launenhaftigkeit zur Verzweiflung gebracht hätte. Ich vermute, daß Du wohl weißt, wie viel an diesem Gerede wahres ist. Was nun ihn betrifft, so beklagt er sich mir gegenüber, ich hätte ihn durch die Verweigerung meiner Liebkosungen zugrunde gerichtet, während ich die absolute Gewißheit habe, daß ich ihn unzweifelhaft getötet haben würde, wenn ich anders vorgegangen wäre.

Sieh, welcher Art meine Lage in diesem unglückseligen Freundschaftsverhältnis ist, in dem ich mich nach jeder Hinsicht zu seiner Sklavin gemacht habe . . . Ich bin beim Märtyrertum angelangt! Jedoch der Himmel ist mir gegenüber unerbittlich, genau so, als wenn ich für irgend welche große Verbrechen büßen sollte. Denn trotz aller meiner Anstrengungen und Aufopferungen wird derjenige, für den ich absolut reine, mütterliche Liebe empfinde, das Opfer der tollen Anhänglichkeit, die er für mich zu hegen nicht aufhört . . .“

Stellen nun auch diese Ausführungen George Sands jene irrige Annahme Chopins außer Frage, so unterliegt es hinwieder keinem Zweifel, daß sein Widerstand gegen die Eheschließung der Solange mit dem Bildhauer letzten Endes doch ein begründeter war. Dies zeigte sich gleich in den Flitterwochen des jungen Paares, die für dieses durch die ihn verfolgenden Gläubiger Clésingers zu keineswegs angenehmen sich gestalteten. Seine große Schuldenlast, von der die Dichterin zur Unzeit erfuhr, hatte auch Zwistigkeiten zwischen beiden zur Folge, die schließlich dazu führten, daß George Sand ihren Schwiegersohn aus ihrem Landsitz Château Nohant wies. Solange folgte natürlich ihrem Gatten. Zu der Fahrt nach Paris wollte sie nun den in Nohant befindlichen Wagen Chopins benützen, der ihr jedoch von ihrer Mutter verweigert wurde. Solange wandte sich daher an den Tondichter, der ihr mit dem folgenden Billet seinen Wagen unverzüglich zur Verfügung stellte:

„Die Nachricht von Ihrem Unwohlsein hat mich schmerzlich berührt. Ich beeile mich, Ihnen meinen Wagen zur Verfügung zu stellen. Ich habe Ihrer Mutter in dieser Hinsicht geschrieben. Geben Sie auf sich acht!

Ihr alter Freund

Mittwoch. Ch.“


Dieser Schritt Chopins führte unmittelbar zu seiner Entzweiung mit der Dichterin. Über sein Verhalten in der Angelegenheit des Wagens empört, richtete George Sand an ihn ein Schreiben, worin sie ihn mit Vorwürfen überhäufte und ihn sozusagen auf die letzte Probe stellte. Diese bestand darin, daß sie ihn, unter Darlegung der Ursachen ihres Konfliktes mit Clésinger, aufforderte, diesem und der Solange sein Haus zu verbieten. Chopin erwiderte ihr jedoch, daß sie es zu der Heirat, der er sich widersetzt, nicht hätte kommen lassen sollen, nunmehr aber, da diese bereits erfolgt, die Pflicht habe, die materiellen Verhältnisse des jungen Paares zu ordnen, anstatt, wie sie es getan, ihm die Türe zu weisen. Dies sei seine Ansicht, ungeachtet seiner Antipathie gegen Clésinger.

Von da ab hörte jeder Verkehr zwischen Chopin und George Sand auf. Nur ein Zufall fügte es, daß sie einander noch ein letztes Mal begegneten. In einem seiner Briefe an Solange (Nr. 134) schildert Chopin diese Begegnung. Die brüske Art und Weise nun, in der er seine langjährige Freundin bei diesem letzten Zusammentreffen mit ihr behandelte, steht zu seiner Wesensart in so krassem Widerspruche, daß sie fast pathologisch anmuten müßte, wenn sie nicht aus dem Inhalte anderer Briefe sich einigermaßen erklären ließe. So vor allem aus den Briefen an Solange, deren überaus warmer Ton erkennen läßt, daß Chopin die Gefühle, die er für die Mutter gehegt, mit der Zeit auf die Tochter übertragen hat. Wie stark diese gewesen sein müssen, erhellt schon daraus, daß Chopin es zuwege gebracht hat, sich mit dem ihm so unsympathisch gewesenen Bildhauer zu befreunden, ja sogar für dessen Zukunft Sorge zu tragen. Hält man sich diese Tatsachen vor Augen, so wird es begreiflich, daß der Tondichter seiner Freundin ihr Verhalten gegenüber ihrer, bald nach der Hochzeit in arge finanzielle Kalamitäten geratenen Tochter nicht verzeihen konnte. Zu diesem Groll trat dann noch ein rein persönlicher hinzu. Das mehrjährige Zusammenleben mit George Sand hatte es mit sich gebracht, daß der von Natur den Alltagsdingen gegenüber ratlose und unbeholfene Tondichter sich in diesen ganz auf seine Freundin zu verlassen gewöhnt hatte. Dieser Hilfe mußte er nun infolge des eingetretenen Bruches entraten. Es traf ihn dies um so härter, als sein schweres Leiden gerade um jenen Zeitpunkt in das letzte Stadium getreten war. Wenn nun sein, in der Trostlosigkeit des vereinsamten Daseins immer stärker angewachsener Groll gegen dessen vermeintliche Urheberin im Augenblicke des unverhofften Zusammentreffens mit ihr in so elementarer Weise zur Auslösung gelangte, so kann dies, zumal bei einem Todkranken, schwerlich wundernehmen. Um so weniger, wenn wir aus einem der Londoner Briefe des Tondichters an Grzymala (Nr. 152) ersehen, welchen Grad die Erbitterung gegen die einstige Freundin bei Chopin mit der Zeit erreicht hatte. „Ich habe“, heißt es dort, „noch niemals jemanden verflucht, doch gegenwärtig ist es mir bereits so unerträglich, daß es mir scheint, als würde ich mir Erleichterung schaffen, wenn ich Lukrezia*) verfluchen könnte!“

*) George Sand hatte einen Roman unter dem Titel „Lukrezia Floriani“ veröffentlicht. Nach der Ansicht mancher Zeitgenossen der Dichterin soll diese in der Heldin des Romans sich selbst, in dem Helden, Fürst Karl, Chopin dargestellt haben. In ihrer „Histoire de ma vie“ stellt George Sand dies entschieden in Abrede. Aus der von Chopin in diesem Briefe über die Dichterin gebrauchten Bezeichnung „Lukrezia“ geht hervor, daß auch er um jene Ansicht gewußt haben muß. Vergleiche die 1. Fußnote (Seite 242) zu dem 126. Briefe an die Angehörigen.

Nach dem bisher Dargelegten darf wohl gesagt werden, daß dieser Fluch, insofern es sich um die unmittelbare Ursache des Bruches handelte, „Lukrezia“ unverdient getroffen hätte. Genau so unverdient, wie jene Art und Weise war, in der sie von Chopin bei ihrem letzten Zusammentreffen mit ihm behandelt wurde. Nicht minder ungerecht erscheinen im Lichte der hier angeführten Tatsachen die von Chopin in den betreffenden Briefen an die Seinigen gegen George Sand in bezug auf die Heirat der Solange erhobenen Anklagen. Frei von jeder Schuld ist die Dichterin darum aber doch nicht zu sprechen. Nicht nur hat sie durch die, einer Mutter allerdings verzeihliche, Geheimhaltung der Verführung ihrer Tochter die „tragische Schuld“ an dem trostlosen frühen Lebensabend ihres Freundes auf sich geladen, sie hat auch in mancher Hinsicht zu der Entzweiung mit ihm beigetragen. Die Heiratsangelegenheit der Solange hätte an sich schwerlich hingereicht, das langjährige freundschaftliche Verhältnis so rasch zur Lösung zu bringen, wenn diese nicht durch früher eingetretene Ereignisse gewissermaßen vorbereitet worden wäre. Aus manchen Stellen in den vor dem Bruche an seine Angehörigen gerichteten Briefen Chopins, die so viele interessante Einzelheiten über sein Zusammenleben mit der Dichterin enthalten, ist deutlich zu erkennen, daß ihre Beziehungen schon lange vor der Heirat der Solange sich zu trüben begonnen hatten. In erster Reihe durch die von George Sand auf Wunsch ihres Sohnes Maurice ins Haus genommene jugendliche Anverwandte, Augustine Brault. Diese war es, die für den Bruch Chopins mit George Sand gleichsam die Vorbedingungen geschaffen hat. Durch ihre Anwesenheit im Hause der Dichterin begannen deren bis dahin ungetrübt gebliebene Beziehungen zu dem Freunde nach und nach zu unerquicklichen sich zu gestalten. Den Anlaß hierzu bildete das von Chopin auf das schärfste verurteilte, von der Dichterin hingegen geduldete, intime Verhältnis ihres Sohnes zu Augustine. Diese war ihren Eltern von George Sand unter dem Vorwande herausgelockt worden, sie als künftige Schwiegertochter zu erziehen, wurde in Wirklichkeit jedoch von Maurice zu seiner Maitresse gemacht. Chopins Verhalten in dieser Angelegenheit zog ihm natürlich die Feindschaft des Maurice und seiner „Braut'“ zu, die nichts unversucht ließen, dem Tondichter das Zusammenleben mit George Sand unmöglich zu machen. Dies gelang ihnen um so mehr, als die Dichterin auf ihrer Seite war. Schließlich kam es so weit, daß Maurice seine Mutter eines Tages vor die Wahl zwischen ihm und dem Tondichter stellte. Wäre nun inzwischen nicht die Heiratsangelegenheit der Solange gekommen, so hätte diese Haltung des Sohnes der Dichterin sicherlich zu ihrem Bruche mit Chopin geführt. Aber auch noch durch eine andere, rein persönliche Angelegenheit der Frau Sand würde ihre Entzweiung mit Chopin unvermeidlich geworden sein. Zu den Meinungsverschiedenheiten über das Verhältnis ihres Sohnes zu Augustine, das, wie wir aus einem der interessantesten Briefe Chopins an seine Angehörigen (Nr. 147) erfahren, mit einem argen Skandal endete, und über die Heirat der Solange trat noch ein für George Sand bezeichnendes Moment hinzu. Kurz vor dem Bruche mit Chopin knüpfte sie, während dieser noch in Nohant sich aufhielt, zu dem dort zu Gaste weilenden Pariser Journalisten Viktor Borie intime Beziehungen an. Spricht nun auch Chopin in den Briefen an die Seinigen davon ohne dépit amoureux, so darf doch aus dem, was George Sand in ihrem hier angeführten Schreiben an Crzymala, über das „eifersüchtige Gefühl“ des Tondichters für sie mitteilt, geschlossen werden, daß ihn ihre Liaison mit Borie keineswegs unberührt gelassen hat. Ja wer weiß, ob diese bei ihm nicht letzten Endes für den Bruch mit George Sand mit ausschlaggebend geworden ist und in der Folge zu der Steigerung des Grolles gegen die Freundin das meiste beigetragen hat.

Neben den die Einzelheiten über seinen Bruch mit George Sand enthaltenden bilden, wie bereits erwähnt , insbesondere jene Briefe des Tondichters einen überaus wertvollen Beitrag zu seiner Charakteristiky worin sein zeitlebens unverfälscht gebliebenes Polentum zum Vorschein gelangt. Zu diesen zählen die von Paris, London und Schottland aus an seine Angehörigen, an Fontana und Grzymala gerichteten Briefe. Die Briefe Chopins aus seinen jungen Jahren kommen hier nicht in Betracht, weil es für diese nicht erst eines Beweises dafür bedarf, daß er sich als Pole gefühlt hat. Wohl aber ist ein solcher Beweis für die spätere Lebensepoche Chopins vonnöten, weil an sie die Legende von seinem Franzosentum sich knüpft. Und den liefern eben die Briefe aus dieser Epoche. Schon ihre Sprache würde — freilich nur für den Leser der Originalbriefe — genügen, das unverfälscht gebliebene Polentum Chopins in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise darzutun. Wem alle Feinheiten und spezifischen Wendungen, alle Sprichworte, ja sogar Dialektausdrücke des polnischen Idioms bis an das Lebensende in so reichlichem Maße zur Verfügung stehen, wie dies bei Chopin in diesen Briefen der Fall ist, der kann unmöglich jemals Franzose geworden sein. Daß er ein solcher in der Tat niemals gewesen, daß er, im Gegenteil, ungeachtet seines Zusammenlebens mit der großen französischen Dichterin, seines regen Verkehrs mit allen, die zu seiner Zeit in Paris Namen und Rang hatten, sich seine polnische Eigenart bewahrt hat, erhellt fast aus jeder Zeile dieser Briefe. Sie dokumentiert sich vor allem in dem für die Polen charakteristischen Überschwang an Herzlichkeit, den Angehörigen und Freunden gegenüber. Nicht minder in der gleichfalls spezifisch-polnischen Nörgelsucht Chopins, dem „allem einen Lappen anhängen“ wie es der Pole treffend bezeichnet. Darin, insbesondere in der beißendwitzigen Art wie dies geschieht, ist Chopin so echter Pole, daß eine einzige Wendung genügt, um dies festzustellen. Allerdings nur für den Landsmann des Tondichters. Denn neben vielem anderen geht in der Übersetzung vor allem der unmöglich wiederzugebende Blütenstaub des Ausdruckes, wenn so gesagt werden darf, verloren. Unverkennbar polnisches Gepräge trägt ferner die in diesen Briefen zutagetretende Art und Weise, in der Chopin Menschen und Dinge beurteilt. Er bleibt darin zeitlebens der in der Fremde weilende Pole, der alles vom polnischen Gesichtspunkte aus betrachtet. Echt polnisch ist auch die Wehmut, mit der er immer wieder an das Vergangene zurückdenkt. Es ist dies jenes Gefühl, für das nur die polnische Sprache einen Ausdruck besitzt, der „Zal“ lautet, und das auch den Grundakkord gleichsam der Schöpfungen Chopins bildet. Nur aus diesem Gefühle heraus sind jene „espaces imaginaires“ verständlich, von denen Chopin in dem an seine Angehörigen nach dem Besuche seiner Schwester Louise in Nohant gerichteten Briefe (Nr. 116) spricht. Ein Zustand, den er selbst auf sein polnisches Wesen mit den Worten zurückführt: ,,Ich schäme mich dessen gar nicht, ist doch bei uns das Sprichwort entstanden, ,daß einer durch Imagination zur Krönung fuhr‘, und bin ich doch ,ein echter blinder Masure‘.“ Dieses polnische Wesen ist es auch, das uns in Chopins Sehnsucht nach der in Paris unbekannten Be- scherung am Heiligen Abend entgegentritt, die in Polen ,,panna gwiazdka“ genannt wird. Ebenso in seiner Freude darüber, daß er mit dem nach Paris gekommenen Warschauer Musiker Nowakowski „po swojemu“ d. h. auf polnisch sich wird „ausplaudern“ können, nachdem er durch die Entlassung seines polnischen Dieners Jan schon seit langem keine Gelegenheit hierzu gefunden. Doch dies alles ließe sich letzten Endes auf das bekannte Wort Goethes zurückführen, daß niemand die Eindrücke seiner ersten Jugend jemals ganz überwinden könne. Dem widerspricht nun aber in unwiderleglicher Weise des Tondichters tiefes Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Polentume, wie es namentlich in dem Briefe an seinen in Amerika weilenden Jugendfreund Fontana (Nr. 136) zutage tritt. So wie Chopin hier von der Wiederherstellung Polens spricht, kann nur sprechen, wer niemals aufgehört, mit jeder Faser seines Wesens sich als Pole zu fühlen. Dieses Zugehörigkeitsbewußtsein bekundet sich nicht minder darin, daß der in dem „Hunde-London“ todkrank zu Bette liegende Meister dieses, wie er an Solange (Nr. 155) schreibt, verläßt, um in einem Konzert zugunsten seiner Landsleute mitzuwirken. Es ließe sich hier noch eine ganze Reihe von Briefstellen anführen, aus denen Chopins Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Polentume in beredtester Weise spricht. Wir beschränken uns auf die Hervorhebung der bezeichnendsten und verweisen den Leser bezüglich der anderen auf die betreffenden Briefe. Kommt nun auch den hier hervorgehobenen ein höherer Wert zu, so sind die übrigen Briefe darum doch nicht von geringerer Bedeutung. Sie bilden vielmehr insgesamt gleichsam eine Autobiographie des Tondichters, indem sie uns seinen Lebensgang fast von dem zartesten Knabenalter an verfolgen lassen. Freilich kann, in Anbetracht dessen, daß ein großer Teil der Korrespondenzen Chopins zugrunde gegangen ist, von einer lückenlosen Verfolgung keine Rede sein. Im großen ganzen sehen wir aber dennoch die Entwicklungslinie des Chopinschen Werdeganges einem roten Faden gleich durch diesen Briefband sich ziehen. Sie beginnt mit den Briefen des jugendlichen Chopin an seine Schulkollegen Wilhelm von Kolberg, Jan Matuszynski, Eustach Marylski, sowie in einem Schreiben an seinen Lehrer Elsner, reißt wohl für einen kurzen Zeitraum ab, um dann aber in den Briefen an die Angehörigen und an Titus Wojciechowski fast ohne Unterbrechung bis zu dem Momente fortzulaufen, wo der zwanzigjährige Chopin Warschau für immer verläßt. Von da ab stoßen wir auf größere Lücken. So können wir nur noch den zweiten Wiener Aufenthalt Chopins im Jahre 1831 in den Briefen an Matuszynski und an Wojciechowski, an die Eltern und an Elsner verfolgen, denn die Korrespondenzen aus den Münchener und Stuttgarter Tagen des Tondichters fehlen. Der Beginn der Pariser Epoche Chopins ist leider nur mit zwei Briefen an Wojciechowski, je einem an Elsner und Dziewanowskiy einem in ganz eigenartiger Weise gemeinsam mit Liszt an Hiller geschriebenen, und schließlich mit einem Briefe an Franchomme vertreten. Nach einer fünf Jahre umfassenden Lücke spinnt sich jedoch in den Briefen an die Mutter und den Bruder der mit dem Tondichter verlobt gewesenen Komtesse Maria Wodzinska, an Fontana, Franchomme, Gutmann, an die Angehörigen und endlich an George Sands Tochter und an Grzymala der biographische Faden fast lückenlos bis zu den letzten Lebenstagen Chopins fort.

Wenden wir uns nun zu den einzelnen Adressaten und dem Inhalte der an sie gerichteten Briefe.

Den Reigen eröffnen die Schulkollegen Chopins Eustach Marylski und der nachmalige wirkliche Staatsrat Wilhelm von Kolobrzeg- Kolberg, ein Bruder des Malers Anton, dessen ausgezeichnetes Chopinporträt am Eingange dieses Bandes reproduziert ist. Der Brief an Marylski und der erste der beiden an Kolberg gerichteten Briefe sind dem Datum nach die ältesten von den erhalten gebliebenen Episteln des Tondichters. Sie stammen aus seinen Knabenjahren. Der an Kolberg gerichtete Brief (Nr. 2) ist der interessantere. Chopin zählte, als er ihn schrieb, 14 Jahre. Er weilte damals in Szafarnia, einem den Eltern seines Schulkollegen Dominik Dziewanowski gehörigen Landgute, auf dem er mehrere Jahre hindurch seine Sommerferien zu verbringen pflegte. Der mit echtem Gymnasiastenübermute geschriebene Brief des Vierzehnjährigen trägt schon deutlich das Merkmal des für den gereiften Chopin so charakteristischen Witzes. Noch deutlicher tritt dieser in dem zweiten Briefe an Kolberg (Nr. 4) zutage, der von Reinertz aus geschrieben ist, wo der sechzehnjährige Chopin, dessen Gesundheit schon in diesen jungen Jahren nicht die beste war, zum Kurgebrauche weilte. Hier zeigt sich auch schon die später so stark entwickelte Nörgelsucht Chopins, die jedoch zugleich eine frühreife Menschenkenntnis verrät. Diese dokumentiert sich namentlich in der Art und Weise, wie der jugendliche Chopin über die Kurgäste sich lustig macht. Sie gemahnt fast an jene, in der der gereifte Tondichter einige Jahrzehnte später in dem von Schottland aus an seine Pariser Schülerin, Frl. De Rozières, gerichteten Briefe (Nr. 150) die Gäste des Schlosses Keir persifliert.

Von der bei ihm so frühzeitig entwickelten, für ihn so charakteristischen Spottsucht Chopins, die mitunter Heinisch anmutet, zeugen auch die von Berlin aus an die Seinigen geschriebenen Briefe des Siebzehnjährigen. Die Briefe an die Angehörigen bilden überhaupt einen überaus wertvollen Beitrag zur Charakteristik Chopins, wie sie denn in bezug auf den Inhalt zu den interessantesten der ganzen Sammlung zählen, hinsichtlich des Umfanges aber nur in jenen an Wojciechowski und Orzymaia ihresgleichen finden. Der fast beispiellose Umfang der meisten dieser Briefe findet seine Erklärung zunächst darin, daß Chopin, namentlich in der zweiten Lebenshälfte, kein Freund des Briefschreibens war und daher seine Episteln in tagelang unterbrochenen „Fortsetzungen“ zu schreiben pflegte. So kam es, daß manche darunter sich zu förmlichen Tagebüchern auswuchsen. Andererseits aber erklären sich diese umfangreichen Schreiben auch aus dem Bestreben Chopins, diejenigen, die seinem Herzen am nachten standen, für die Seltenheit seiner Briefe durch deren reichen Inhalt zu entschädigen. Daher die, insbesondere in den von Paris, London und Schottland aus an die Angehörigen gerichteten Briefen, enthaltene bunte Fülle der Mitteilungen, von denen aber jede unser Interesse zu wecken vermag, weil sie für das Wesen des Tondichters bezeichnend ist. Was aber den Briefen an die Seinigen ihren besonderen Wert verleiht, das ist das darin zutage tretende innige Verhältnis Chopins zu diesen. Neben der abgöttischen Liebe für die Mutter, die sich in der steten Besorgnis um ihr Wohl kundgibt, lassen diese Briefe vor allem auch das besonders zärtliche Verhältnis Chopins zu seiner älteren Schwester Louise von Jedrzejewicz erkennen. Ein gut Teil der Pariser und Londoner Briefe ist eigentlich an Louise gerichtet, die des Tondichters Vertraute war, vor der er namentlich nach dem Bruche mit George Sand sein Herz ausschüttete. Für die Innigkeit dieses geschwisterlichen Verhältnisses spricht wohl am beredtesten der herzbewegende Pariser Brief (Nr. 161), mit dem der sterbenskranke Meister seine Schwester um ihren Besuch bittet. Ferner zeugen diese Briefe auch von dem brüderlich -kollegialen Verhältnis Chopins zu dem Gatten Louises. Für ihn schließt der Tondichter immer die neuesten Pariser Boulevard- Witze und einiges aus der Chronique scandaleuse der Seinestadt bei. Wie er denn angesichts des damals noch unentwickelten Zeitungsnachrichtendienstes stets bestrebt ist, in den Briefen an die Seinigen diesen soviel als möglich an Weltneuigkeiten mitzuteilen. Dank diesem Umstände bilden die Briefe Chopins an seine Angehörigen interessante Beiträge zur Welt- und Kunstgeschichte seiner Tage. Zugleich aber erfahren wir aus ihnen, daß der Nokturnensänger großes Interesse für alle Tagesereignisse, insbesondere aber für die neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften bekundete. Neben den Neuigkeiten aus aller Welt, nehmen in diesen Briefen die eigenen Erlebnisse Chopins den breitesten Raum ein. Doch sind es mehr die äußeren, deren Schilderung sich mitunter wie ein interessantes Feuilleton liest. In die inneren, die er den Seinigen aus Liebe zu ihnen vorenthält, weiht er hingegen seine intimsten Freunde ein: Titus Wojciechowski und Jan Matuszynski, späterhin Graf Albert Grzymata.

Die an diese gerichteten Briefe bilden die Hauptquelle, aus der wir unsere Kenntnisse über das Wesen des Tondichters schöpfen. So lernen wir aus ihnen vor allem den seltenen Freund in Chopin kennen.

Von diesen drei Freundschaftsbündnissen war das mit Titus Wojciechowski ein geradezu beispielloses. Gleich Matuszynski ein Schulkamerad Chopins, widmete sich Wojciechowski späterhin der Landwirtschaft auf seinem in der Nähe von Warschau gelegenen Gute Poturzyn. Er scheint sehr musikalisch gewesen zu sein. Denn wie wir aus den Briefen an ihn ersehen, legte der Tondichter auf Wojciechowskis Urteil über seine Kompositionen ein großes Gewicht. Chopins Freundschaft mit Wojciechowski trug ein ausgesprochen romantisches Gepräge. Hierbei kommt nun allerdings auch der an anderer Stelle bereits hervorgehobene Überschwang im Gefühlsleben des Tondichters mit in Betracht. Nur aus diesem heraus sind für einen Nichtpolen die geradezu liebeglühenden Ergüsse des jungen Chopin in den Briefen an seinen geliebten Titus verständlich. Leider besitzen wir nicht die Antwortschreiben Wojciechowskis, um beurteilen zu können, ob auch bei ihm die Gefühlsinnigkeit eine so starke war, wie bei dem Tondichter. Aus manchen Briefstellen darf jedoch geschlossen werden, daß er sozusagen mehr der empfangende Teil gewesen ist und gegen die zuweilen recht stürmischen Liebesbezeigungen Chopins sich passiv verhalten hat. Um so bezeichnender für das Wesen des Tondichters, daß er trotzdem in seiner Liebe zu dem Freunde unerschütterlich geblieben ist. Daß Chopin über das kühlere Verhalten Wojciechowskis sich jedoch im klaren gewesen ist, beweist seine Zurückhaltung diesem gegenüber in bezug auf die intimste Herzensangelegenheit: die Jugendliebe zu der Warschauer Sängerin Konstanze Gladkowska. Wohl ist es ihm Bedürfnis, in den Briefen an Wojciechowski sich auch über diesen Herzenssturm auszusprechen. Er tut es jedoch immer ohne Nennung seines ,,Ideals“. Zwang ihn nun auch die Kühle Wojciechowskis, diesem den Einblick in sein Allerheiligstes gleichsam nur durch einen Schleier zu gewähren, so war Chopin ihm gegenüber in allem übrigen, was sein Inneres bewegte, darum doch nicht verschlossen. Im Gegenteil. Wenn ihn Kummer und Sorgen bedrücken, wenn er ratlos ist, flüchtet er immer an die Freundesbrust .Wojciechowskis, klagt ihm seine Not, weil er überzeugt ist, daß dessen Briefe ihm die ersehnte Beruhigung bringen werden. Wojciechowskis männlich- entschlossenes Wesen scheint dem zartbesaiteten, fast weiblichen Chopins den Halt gewährt zu haben, der solchen Naturen immer mangelt. Neben den für die Charakteristik Chopins so wichtigen Einzelheiten enthalten die Briefe an Wojciechowski nicht minder wichtige biographische, und werfen auch ein Licht auf das damalige Warschauer Musikleben, ebenso auf die erste Zeit der Pariser Epoche Chopins. Endlich sind auch die letzten zwei Pariser Briefe an Wojciechowski, als Abschiedsgrüße gleichsam des todkranken Meisters an den Jugendfreund, von ganz besonderem Interesse.

Während Chopin für Wojciechowski eine schwärmerische Liebe hegte, trug sein Verhältnis zu Jan Matuszynski das Gepräge der echten Busenfreundschaft. Wojciechowski gehörte nur sein Herz, Matuszynski sozusagen seine Seele. Er ist sein Vertrauter, ihm enthüllt er sein Innerstes. Dies tritt namentlich in den von Wien aus an ihn gerichteten Briefen zutage. Sie zeigen uns Matuszynski in der Rolle eines postillon d'amour des jungen Meisters. Er überbringt dem Jugendideale Chopins, der Sängerin Gladkowska, dessen liebeglühende Episteln vom fernen Donaustrande. Ihn weiht Chopin in alle Phasen dieses seines ersten Herzenssturmes ein. Die Briefe an Matuszynski sind darum auch für die Charakteristik Chopins von großem Werte. Sie zeichnen sich vor allen anderen auch durch ihren Stil aus. Dies gilt namentlich von dem wundervollen Wiener Weihnachtsbrief*), der ein Stimmungsbild aus dem Stephansdom enthält, das wie ein in Worte gesetztes Nokturno anmutet.

*) Dieser Brief (Nr. 41) ist hier zum erstenmal in seinem genauen Wortlaute wiedergegeben.

Dr. Jan Matuszynski, gleich Wojciechowski ein Schulkollege Chopins, war im Jahre 1809 zu Warschau geboren, studierte dortselbst Medizin und wurde 1830 Militärarzt. Ein Jahr später holte er sich in Tübingen durch cum laude peracta examina den Doktorhut und begab sich nach Paris, wo er durch seine Tüchtigkeit bald die Aufmerksamkeit der dortigen medizinischen Koryphäen auf sich lenkte und eine Professur an der Ecole de Médecine erhielt. Sein zarter Organismus hielt jedoch dem Eifer, mit dem der junge Professor sich seinem Berufe widmete, nicht stand, und Matuszynski erlag in der Blüte des Lebens 1842 der Schwindsucht. Sein Tod war für Chopin ein schwerer Schicksalsschlag, weil er in Matuszynski nicht nur den treuesten Freund, sondern auch den besten Berater verlor. Für den großen Einfluß, den Matuszynski auf Chopin ausgeübt, spricht am beredtesten die Tatsache, daß George Sand nach dem Bruche mit dem Tondichter einer Freundin gegenüber geäußert hat, alles würde eine andere Wendung genommen haben, wenn Matuszynski am Leben geblieben wäre. Schließlich verdient noch hervorgehoben zu werden, daß Matuszynski sehr musikalisch war. In seinen jungen Jahren spielte er vollendet die Flöte und pflegte auch mit Chopin zusammen zu musizieren. Infolge des Lungenleidens, das er als Militärarzt sich auf dem Schlachtfelde zugezogen hatte, mußte er jedoch später das Flötenspiel aufgeben.

Waren Wojciechowski und Matuszynski die intimsten Freunde Chopins, so trug sein Verhältnis zu dem dritten seiner Jugendfreunde, Julian Fontana, mehr das Gepräge der guten Kameradschaft. Fontana war der getreue Adlatus Chopins in Paris. Er ist es, der als ausgezeichneter Musiker die Kopien von Chopins Kompositionen fertigt und das saure Amt eines Vermittlers zwischen dem Tondichter und seinen Verlegern versieht, wenn dieser fern von der Seinestadt weilt. Er besorgt auch alle sonstigen Alltagsangelegenheiten Chopins, — von der Wohnungssuche und -einrichtung angefangen bis herab auf die Bestellungen bei Schneider, Hutmacher usw. Die Briefe an Fontana sind darum auch hinsichtlich ihres Inhaltes nicht so interessant, wie die an die beiden intimsten Freunde. Keineswegs darf von ihnen jedoch, wie dies Niecks tut, behauptet werden, daß sie für die Charakteristik Chopins von geringem Werte sind. Denn handeln sie auch zum überwiegenden Teil von Alltagsdingen, so gewähren sie doch gerade um dieser willen einen nicht zu unterschätzenden Einblick in das Wesen des Tondichters. So lassen sie uns vor allem erkennen, daß Chopin, so unbeholfen er auch sonst in Dingen des Alltags war, sein Interesse den Verlegern gegenüber doch zu wahren verstanden hat und — darin Heine ähnlich — allen ihren Kniffen sich gewachsen zeigte. In dem ziemlich derben Schimpfen auf die Verleger zeigt sich Chopin als echter Pole, nicht minder in der dabei zutagetretenden Abneigung gegen die Juden. Von größtem Werte für die Charakteristik Chopins sind die in den Briefen an Fontana enthaltenen Einzelheiten über das von dem Tondichter auf Wohnung und Kleidung gelegte Gewicht. Er gemahnt darin an Richard Wagner, freilich nur mutatis mutandis. Denn Chopins Luxusbedürfnis bewegte sich im Vergleich zu dem des Bayreuther Meisters in recht bescheidenen Grenzen. Die Ähnlichkeit ist jedoch insofern unverkennbar, als auch Chopin auf die Ausstattung seiner Wohnräumlichkeiten sehr bedacht ist, selber die Farben der Zimmertapeten bestimmt und auch hinsichtlich seiner Garderobe dem Dichterkomponisten in bezug auf die Wahl der feinsten und elegantesten Stoffe nicht nachsteht. Schließlich enthalten die Briefe an Fontana interessante Details über das Zusammenleben Chopins mit George Sand und über den gemeinsamen Aufenthalt auf Majorka. Einige von Palma und Valdemosa aus geschriebene Briefe zeugen auch von der unleugbaren schriftstellerischen Begabung Chopins, die sich namentlich in den vollendeten Schilderungen dieser Ortschaften dokumentiert.

Julian Fontana ist ein Altersgenosse Chopins gewesen, denn er war gleich diesem im Jahre 1810 geboren. Er studierte auch — allerdings nur aus Liebhaberei — bei dem Kompositionslehrer Chopins, Josef Elsner, als Beruf hingegen die Rechte. Über seine weiteren Lebensschicksale erfahren wir aus Sowinskis „Les musiciens polonais et slaves“, daß er 1830 an dem polnischen Aufstande teilgenommen und nach dessen tragischem Ausgange sich nach London gewandt hat, wo er als Klavierlehrer wirkte. Im Jahre 1835 trat er in Paris mehreremal mit Erfolg als Virtuose auf, wohnte dort einige Jahre — eben in der Zeit, aus der die überwiegende Mehrzahl der Briefe Chopins an ihn datiert — und ging im Jahre 1841 nach Havanna, späterhin nach New York. Aus einem der beiden hier zum erstenmal publizierten Briefe an Fontana aus dem Jahre 1848 geht hervor, daß der Tondichter mit dem in Amerika weilenden Freunde noch in Korrespondenz gestanden war. Diese beiden Briefe sind ihrem Inhalte nach die wertvollsten der ganzen Serie. Der Pariser Brief (Nr. 136) wegen des darin zutage tretenden, bereits hervorgehobenen Zugehörigkeitsbewußtseins Chopins zum Polentume, der schottische (Nr. 146) als ein erschütterndes Dokument der wehmütig-humorvollen Resignation des todkranken Meisters. Fontanas Leben hat einen überaus tragischen Abschluß gefunden. Nachdem er reich geheiratet hatte und dadurch in den Stand gesetzt worden war, seinen Beruf als Klavierlehrer aufzugeben, wurde er plötzlich taub. Als ihm bald darauf seine Frau starb, griff er in Verzweiflung zum Selbstmord, indem er sich erschoß.

Ein innigeres Verhältnis, als das zu Fontana verband den Tondichter mit dem polnischen Grafen Albert Grzymala, der in Paris lebte und unter den dortigen polnischen Emigranten eine große Rolle spielte. Dieses Verhältnis gestaltete sich namentlich in den letzten Lebensjahren Chopins schon deshalb zu einem besonders innigen, weil Grzymata nach dem Tode Matuszynskis und der Übersiedelung Fontanas nach Amerika der einzige von den langjährigen polnischen Freunden des Meisters in der Seinestadt geblieben war. Grzymala wurde auch gewissermaßen der Nachfolger Fontanas in den Liebesdiensten für Chopin. Mit dem Unterschiede jedoch, daß es zum Schlusse schon mehr Samariterdienste geworden waren. Die an Grzymala gerichteten Briefe sind, mit Ausnahme von vier Briefen, die Niecks in seiner Chopinbiographie bekanntgegeben hat, hier sämtlich zum erstenmal veröffentlicht. Sie bedeuten eine wertvolle Ergänzung zu den Lebensbeschreibungen des Tondichters. Denn sie enthalten vor allem neue, interessante Einzelheiten über den Aufenthalt Chopins in London und Schottland. Manche davon sind zwar auch in den von dort aus geschriebenen Briefen an die Angehörigen und an Gutmann, sowie in dem Briefe an Frl. De Rozières erwähnt. Sie betreffen jedoch nur die äußeren Erlebnisse Chopins. Über das, was in der Seele des sich seines hoffnungslosen Zustandes völlig bewußten Tondichters in den Tagen seines Aufenthaltes in London und Schottland vorging, geben uns aber nur die Briefe an Grzymala Aufschluß. Für diesen Aufenthalt waren hauptsächlich Gründe materieller Natur ausschlaggebend gewesen. Chopins Hoffnungen nach dieser Hinsicht hatten sich dort jedoch nicht erfüllt. Hierzu trug nun, neben verschiedenen lokalen Umständen, in erster Reihe sein durch das dortige Klima immer mehr sich verschlimmernder Gesundheitszustand bei. Die damit verbundenen Beschwerden und die stete Angst, in der Fremde krank darniederliegen zu müssen, erklären die aus den meisten dieser Briefe sprechende verzweifelte Stimmung Chopins. In geradezu erschütternder Weise bekundet sich diese in jenem Briefe (Nr. 152), worin er gegen George Sand sich wendet. Nicht wenig trugen zu dieser Stimmung auch die tristen Nachrichten über die revolutionäre Bewegung im Posenschen bei. Um so bezeichnender ist es nun aber für das innerste Wesen Chopins, daß er selbst in einer solch trostlosen Verfassung seinen angeborenen Humor nicht verliert. Nur daß es eben mehr ein Galgenhumor ist, der zuweilen an den des Matratzengruft-Heine gemahnt. So namentlich in dem herzergreifenden Londoner Briefe (Nr. 156), dessen zahlreiche Streichungen von der Stimmung Zeugnis geben, in der er geschrieben wurde, und worin Grzymala von Chopin über die Grundlosigkeit des Gerüchtes aufgeklärt wird, das von seiner Verheiratung mit seiner schottischen Schülerin, Frl. Jane Stirling, wissen wollte. Dieser Brief ist in biographischer Hinsicht einer der wertvollsten der ganzen Sammlung, denn er enthält gleichsam in nuce die Lebenstragödie des Tondichters.

Über das bei Chopin Zeit seines Lebens erhalten gebliebene Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Polentume ist an anderer Stelle bereits ausführlich gesprochen worden. Hier muß noch hervorgehoben werden, daß dieses sich auch in den Freundschaftsbündnissen des Tondichters offenbarte. Denn wie wir sehen, waren es durchweg solche mit Landsleuten. Die einzige intime Freundschaft Chopins mit einem Nichtpolen war die mit dem Pariser Cellovirtuosen Auguste Franchomme. Chopin lernte diesen gleich zu Beginn seiner Pariser Epoche kennen und schloß mit dem musikalisch hochbegabten Künstler ein Freundschaftsbündnis, das mit den Jahren fast ein ebenso herzliches wurde, wie das mit seinen polnischen Jugendfreunden. Franchomme teilte sich sozusagen mit Fontana und Grzymata in die Liebesdienste für den Freund. Auch er vermittelt zwischen Chopin und dessen Verlegern. Die Briefe an ihn handeln darum hauptsächlich von Verlagsangelegenheiten. Aus manchen Stellen gewinnen wir aber auch ein Bild von der Innigkeit dieses freundschaftlichen Verhältnisses, das sich auch auf die Gattin Franchommes erstreckte. Sie spricht nicht minder aus dem zärtlichen Interesse, das Chopin den Kindern Franchommes entgegenbringt. Von biographischem Interesse ist das kurze, aus den letzten Lebenstagen des Tondichters stammende Billet (Nr. 165), mit dem er den Freund um Wein bittet und ihm einschärft, die Flasche gut zu versiegeln. Diese übergroße Vorsicht Chopins erklärt sich aus dem bei ihm im Laufe seiner Krankheit immer stärker zur Entwicklung gelangten Mißtrauen, das er namentlich gegen seine Ärzte hegte, deren Arzneien er, wie wir aus einem der Briefe an Grzymala (Nr. 159) ersehen, wegzuwerfen pflegte. Die Briefe an Franchomme beschließen die den überwiegenden Teil dieses Bandes ausmachende Korrespondenz Chopins mit seinen intimsten und intimen Freunden.

Von den Adressaten, zu denen der Tondichter freundschaftliche Beziehungen unterhielt, ist in erster Reihe Ferdinand Hiller zu nennen. Hiller war der einzige deutsche Komponist jener Tage, mit dem Chopin sich befreundet hat. Welch hohe Meinung er von Hiller hatte, geht aus dem ersten Pariser Briefe Chopins an Titus Wojciechowski (Nr. 49) hervor. Für die Art der freundschaftlichen Beziehungen zu Hiller spricht jedoch am beredtsten, daß Chopin mit ihm Briefe wechselte, was, wie bereits erwähnt, nur bei jenen der Fall war, die dem polnischen Meister besonders nahestanden. Von den beiden Briefen an Hiller ist der gemeinsam mit Liszt geschriebene ein musikgeschichtlich interessantes Dokument*). Denn er zeugt von dem um jene Zeit noch ungemein kollegial gewesenen Verhältnis Chopins zu Liszt, das späterhin durch des letzteren Verschulden nicht mehr bestand.

*) Dieser Brief (Nr. 56) ist hier zum erstenmal in deutscher Sprache wiedergegeben.

Von einem freundschaftlichen Verhältnis Chopins zu seinem Lieblingsschüler, Adolph Gutmann, darf nur insofern gesprochen werden, als der Tondichter diesem gegenüber mit der Zeit mehr Freund als Lehrer geworden war. Stand er doch mit dem um vieles jüngeren Schüler sogar auf dem Du-Fuße. Gutmann, ein gebürtiger Heidelberger, war fünfzehn Jahre alt, als ihn sein Vater nach Paris brachte, um ihn Chopin zur Leitung zu übergeben. Von dem Spiele des Knaben entzückt, nahm der Meister seine Ausbildung sogleich in die Hand. Nach dem Zeugnis vieler Zeitgenossen soll Gutmann einer der vollendetsten Chopin-Interpreten geworden sein. In den Briefen an seine Angehörigen und an Grzymala kommt Chopin häufig auf Gutmann zu sprechen. Von den an diesen selbst gerichteten sind leider nur zwei Briefe vorhanden, der eine aus London, der andere aus Calder-House bei Edinburgh. Beide bilden gleichsam eine Ergänzung zu den von dort aus an die Angehörigen und an Grzymala gerichteten Briefen des Tondichters.

Ein ähnliches Verhältnis, wie das zu Gutmann, verband Chopin mit seiner Pariser Schülerin Frl. Marie De Rozières. Nur daß diese ihrem Lehrer sich dienlicher erwies, als ihr Kollege. Gleichsam ein weiblicher Fontana, setzt sie immer vor der Rückkehr Chopins aus Nohant seine Pariser Wohnung instand und sendet ihm die während seiner Abwesenheit für ihn in Paris angelangten Briefe nach. Von Frl. De Rozières, deren Namen er mit dem Diminutiv „Derozierka“ zu polonisieren pflegt, ist darum in den Briefen Chopins sehr häufig die Rede. Der Tondichter hegte für seine Schülerin wahrhaft freundschaftliche Gefühle, was ihn jedoch nicht hinderte, in einem Briefe an Fontana ihre Klatschsucht festzunageln. Der hier zum erstenmal bekanntgegebene Brief an Frl. De Rozières (Nr. 150) enthält ein von Chopin überaus gelungen und witzig gezeichnetes Bild der vornehmen Welt Schottlands. Feener auch Äußerungen über George Sands Tochter, die von der innigen Zuneigung des Tondichters zu dieser Zeugnis geben.

In Edinburgh befreundete sich Chopin mit einem dort lebenden Landsmann, dem Arzt Dr. Lyszczynski (englische Schreibweise: Lishinski). Dieser hatte den Tondichter bei dessen Ankunft in Edinburgh am Bahnhofe in polnischer Sprache bewillkommt und ihm späterhin Gastfreundschaft angeboten. Chopin, dem der Landsmann sympathisch war, nahm die Einladung an und wohnte einige Zeit bei ihm. Der Gesundheitszustand des Tondichters war dazumal ein derart kläglicher, daß Dr. Lyszczynski seinen Gast in dessen eine Treppe hoch gelegenes Zimmer tragen mußte. Das freundschaftliche Verhältnis zu Dr. Lyszczynski scheint trotz der kurzen Zeit, die Chopin bei diesem geweilt, ein sehr herzliches gewesen zu sein. Dies erhellt aus dem kurzen Briefe des Tondichters an diesen letzten seiner landsmännnischen Freunde (Nr. 154), mit dem er nach echt polnischer Art bald auf dem Du -Fuße gestanden war.

In biographischer Hinsicht sowohl, wie in musikgeschichtlicher sind die Briefe Chopins an seinen Kompositionslehrer Josef Elsner von hohem Interesse. Gleich der erste, von Reinertz aus (im Original französisch) geschriebene, hier zum erstenmal bekanntgegebene Brief des Sechzehnjährigen (Nr. 5) zeugt von der großen Verehrung Chopins für seinen Lehrer. Diese wuchs, wie aus den Wiener und Pariser Briefen des jungen Meisters hervorgeht, mit den Jahren immer mehr. Und Elsner verdiente sie in vollem Maße. War er es doch, der dem Schaffen Chopins dadurch den richtigen Weg wies, daß er ihn auf das nationale Element das Hauptgewicht zu legen gelehrt hat. Allerdings irrte Elsner, trotz der geradezu divinatorischen Weise, in der er den Genius Chopins frühzeitig erkannt hatte, wenn er meinte, der Sänger der Nokturnen werde als Opernkomponist neben Mozart und Rossini einen Platz erhalten. Indem er ihn aber unausgesetzt darin bestärkte, auf die Entwicklung der eigenen Individualität bedacht zu sein, trug er zur Hebung des Selbstgefühls in Chopin das meiste bei. Bis zu welchem Grade ihm dies gelungen war, erhellt aus dem Pariser Brief (Nr. 50) des zwanzigjährigen Tondichters, worin er seinem Lehrer versichert, er habe den festen Vorsatz — „sich eine neue Welt zuschaffen!“*) Ein wahrhaft prophetisches Wort, das erst dank der in jüngster Zeit erkannten Rolle Chopins in der Entwicklungsgeschichte der Tonkunst zu seiner vollen Geltung zu gelangen beginnt. Ebenso wie der Pariser Brief durch seine interessanten Einzelheiten über das dortige Musikleben, sind die Wiener Briefe an Elsner wegen ihrer Mitteilungen über das der Donaustadt musikgeschichtlich von großem Werte.

*) So lautet diese Stelle im Originalbriefe Chopins. Karasowski „änderte“ sie in „eine neue Kunstära zu schaffen“ „um“ und sie wurde auch so vielfach zitiert.

Josef Elsner, von Geburt Schlesier, wurde, nachdem er sich in Warschau niedergelassen, nicht nur ein treuer Sohn Polens, sondern auch einer der Stammväter der polnischen Nationalmusik. Er und Kurpinski sind die ersten Komponisten Polens, die in ihren Schöpfungen volkstümliche Motive verwenden. Sie dürfen daher das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, Chopin den Weg geebnet zu haben. Denn ihre Ansätze zu einer polnischen Nationalmusik wurden von ihm in unvergleichlicher Weise zur Weiterentwicklung gebracht. Als Direktor des Warschauer Konservatoriums und der dortigen Nationaloper, für die er zahlreiche, mit Erfolg aufgeführte Opernwerke schrieb, hat Elsner zur Hebung des Musiklebens in Polen nicht wenig beigetragen. Außerhalb Polens hat sich Elsner als Kirchenkomponist einen Namen gemacht. Als solcher war er insbesondere in der Pariser Musikwelt sehr geschätzt, wie dies aus dem dortigen Briefe Chopins an ihn (Nr. 50) hervorgeht. Elsner hat seinen großen Schüler, an dem er mit inniger Liebe hing, überlebt. Denn er starb erst 1854.

Die hier zum erstenmal bekanntgegebenen Briefe Chopins an die Gräfin Theresa Wodzinska, die Mutter der mit ihm verlobt gewesenen Komtesse Maria, füllen zum Teil eine Lücke in den Biographien des Tondichters aus. Denn sie werfen ein neues Licht auf die Beziehungen Chopins zu den Angehörigen seiner Braut. Freilich bilden sie für das von Niecks -und anderen Chopinbiographen bezweifelte Verlöbnis des Tondichters mit der Komtesse keinen Beweis. Diesen besitzen wir nun aber in den von Kartowicz publizierten Antwortschreiben der Gräfin, aus -denen klar hervorgeht, daß sie Chopin als ihren künftigen Schwiegersohn betrachtet hat. So vor allem aus einem Briefe, der den Schlüssel gleichsam zu der von dem Tondichter in seinem ersten Schreiben an die Gräfin (Nr. 59) erwähnten „grauen Stunde“*) bildet. Um diese hatte nämlich Chopin kurz vor seiner Abreise aus Dresden, wo er im Jahre 1835 mit der Gräfin und Maria zusammengetroffen war, um die Hand der Komtesse angehalten. Daß nun seine Werbung angenommen wurde, beweist die folgende Stelle aus dem erwähnten Briefe der Gräfin: „Glaube nicht, daß ich mein Versprechen zurücknehmen werde, ich möchte Dich nur einstweilen um Stillschweigen bitten. Sei nur auf Deine Gesundheit bedacht, da ja von dieser alles abhängt.“ Die von der Gräfin zum Ausdruck gebrachte Bitte und Ermahnung, von welch letzterer auch Chopin in einem seiner Briefe (Nr. 59) spricht, finden ihre Erklärung darin, daß Graf Wodzinski der Verbindung seiner Tochter mit dem Tondichter einzig um dessen schwankenden Gesundheitszustandes willen sich widersetzte. Chopins Verlöbnis mit Maria Wodzinska wurde schließlich auch aus diesem Grunde gelöst. Die Briefe des Tondichters an die Mutter seiner Braut lassen deutlich erkennen, daß er sie im Grunde nur zu dem Zwecke schreibt, um Nachrichten über Maria, insbesondere aber die so heißersehnte Mitteilung zu erhalten, wann er mit ihr wieder zusammentreffen werde. Leider sollte es nicht dazu kommen. Denn auf Wunsch ihres Vaters verheiratete sich Maria im Jahre 1837 — durch eine eigenartige Schicksalsfügimg — mit einem Sohne von Chopins Paten, Graf Friedrich Skarbek**).

*) So heißt im Polnischen die Dämmerstunde.

**) Ausführliches über Chopins Verhältnis zu Maria Wodzinka enthält die Einleitung zu dem von Kornelia Parnas über meine Anregung im Verlage von Breikopf & Härtel vor kurzem unter dem Titel „Maria, Ein Liebes- Idyll in Tönen“ herausgegebenen, hochinteressanten Album, mit Lichtdruckwiedergaben von Jugendkompositionen des Tondichters.


Eine Ergänzung gleichsam zu den Briefen an die Mutter bildet der von Chopin an den Bruder Marias, Graf Felix Wodzinski, von Paris aus gerichtete Brief (Nr. 57). Aus diesem spricht die innige Liebe des Tondichters zu der Komtesse, von der wir erfahren, daß sie sehr musikalisch gewesen sei.

Als die wenigen Adressaten, an die Chopin, entgegen seiner Gepflogenheit, nur mit ihm besonders nahestehenden Personen zu korrespondieren, ausnahmsweise einige Zeilen gerichtet hat, sind zum Schlüsse der Pariser Verleger Maurice Schlesinger, der Chef des dortigen berühmten Pianofortehauses, Camille Pleyel, und endlich die Verleger Breitkopf & Härtel zu nennen.

Es erübrigt uns noch ein Wort über den Stil Chopins, und eins pro domo — die Übersetzung der Briefe betreffend.

Wenn je, so gilt von Chopins Schreibweise das Wort Buffons: „Le style c'est l’homme.“ Denn sie trägt ein ausgesprochen individuelles Gepräge, enthält alle Merkmale der so einzigartigen Persönlichkeit des Tondichters. Darf nun auch an sie der literarische Maßstab nicht gelegt werden, so zeugt sie doch unleugbar von der schriftstellerischen Begabung Chopins. Auch er kennt die „Kunst des Stils“, von der Nietzsche spricht: „einen inneren Zustand, eine innere Spannung durch Zeichen, eingerechnet das Tempo dieser Zeichen, mitzuteilen.“ Und darin, daß dieses zum überwiegenden Teil ein tempo rubato ist, dokumentiert sich eben das innerste Wesen des Schöpfers dieses Zeitmaßes. Nicht minder aber bekundet es sich in seinem Stil als solchem, der ein romantischer par excellence ist. Manche Briefstelle könnte ganz gut von Heine geschrieben sein, mit dem Chopin auch sonst viel Ähnlichkeit hatte. Das Erstaunlichste nun aber ist des Tondichters vollendete Beherrschung der Sprache, ungeachtet dessen, daß er nach den übereinstimmenden Mitteilungen seiner intimsten Freunde seit seiner Niederlassung in Paris niemals ein Buch (also auch kein polnisches) gelesen hat.

Das vollendete Polnisch seiner Briefe ist es denn auch, was ihrer Übersetzung die größten Schwierigkeiten bereitet. Denn da Chopin für seine inneren Zustände und Spannungen nur in spezifisch-polnischen Wendungen jene Zeichen im Sinne Nietzsches findet, so kann eine ,,sinngemäße“ Übertragung unmöglich hinreichen. Polonismen waren daher unvermeidlich. Sie bildeten für mich den einzigen Ausweg, wollte ich den Meister vor „Umstilisierungen“ à la Karasowski bewahren. In Anbetracht dessen, daß es sich nicht um die Briefe eines berühmten Schriftstellers handelt, bei dem es vor allem auf die vollendete Form ankommt, glaubte ich eher diese, denn die individuelle Ausdrucksweise Chopins opfern zu müssen. Dabei ließ ich mich auch von dem Gedanken leiten, dadurch eben dem Nichtpolen die Möglichkeit zu bieten, aus den Briefen des Tondichters dessen wahres Charakterbild zu erkennen. Und ich darf darum wohl auch der Hoffnung mich hingeben, bei der in jüngster Zeit, namentlich dank der zu so hoher Entwicklung gelangten deutschen Chopinforschung, immer mehr anwachsenden Gemeinde des Nokturnensängers in deutschen Landen Nachsicht zu finden. Um so mehr, als ich durchaus nicht etwa aus der Not eine Tugend gemacht, vielmehr einzig und allein bestrebt war, die Eigenart der Originalbriefe Friedrich Chopins in der Übersetzung nach Möglichkeit zu wahren.

Wien, Weihnachten 1910.

Der Herausgeber.

Frédéric Chopin 1810-1849

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Chopin

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Pianist Frédéric Chopin

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George Sand 1804-1876 französische Schriftstellerin

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Chopin - Genie ohne Glück

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Joseph Xaver Elsner 1769-1854 Komponist und Musiklehrer

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