Geschäftsreise nach Celle. Bekanntschaften

Fünf Jahre waren David und Lea verheiratet, da riefen ihn Geschäfte nach Celle; seit länger als einem Jahre war Leas Vater gestorben und in Celle bei dem höchsten Gerichtshofe des Kurfürstentums Hannover noch immer ein Prozess anhängig, der dem alten Aaron Königsberger schon seit Jahren viel Verdruss gemacht hatte. Jetzt war dieser Rechtsstreit endlich entschiedet, und zwar zu Gunsten des Hamburger Hauses, und David der einzige Erbe, reiste nun nach Celle, um die Dokumente entgegen zu nehmen, von deren Besitz die Empfangnahme der streitigen Summe abhing; seine Frau begleitete ihn.

Als der Hamburger Kaufmann mit Lea durch die reinlichen, aber so stillen Straßen von Celle ging, sah er sich von einem Bekannten angeredet: es war der Liebling der Hamburger der Schauspiel-Direktor Schröder. Ich bitte um Ihre Kundschaft auf heute, Herr Traub, sagte der Künstler höflich; meine Gesellschaft spielt im Schloss-Theater, und Sie sind ja immer ein großer Theaterfreund gewesen, Sie wie alle Berliner, den alten Fritz allein ausgenommen, der nur für französische Komödie schwärmt. Aber mag der König nicht von uns deutschen Schauspielern wissen wollen, doch lohnt uns der Beifall ausgezeichneter Männer. Da hat mir Keiner größere Ehre erwiesen, als mein Freund, Herr Moses Mendelssohn. Er war im Schauspielhause, als ich den König Lear zum ersten Male in Berlin gab. Als ich ihn am folgenden Tage bei unserem Professor Engel sprach, drückte er mir die Hand und sagte: Ich habe das Unglück des königlichen Greises nicht bis zu Ende mit durchleben können, das war zu viel Wirklichkeit. Ich werde meine zu Tränen geneigten Augen nicht noch einmal zwingen, den Lear zu sehen, über den ich den Schröder vergessen habe. Das war das Lob von Moses Mendelssohn. Doch ich vergesse, dass ich zur letzten Probe muss! Noch Eins: auch die Königin von Dänemark wird die heutige Vorstellung besuchen.


Das kleine, noch ganz im Geschmacke Ludwigs XIV. gebaute Theater im Schlosse zu Celle war von einer bunten Menge gefüllt. Da man Karoline Mathilde von Dänemark erwartete, so waren Alle in bester Kleidung. Die roten, goldgestickten Uniformen der Offiziere, die galonnierten Hofkleider, der Putz der Damen und die dunklen Röcke der „angesehenen“ Bürger, die im Parterre Zugang gefunden hatten, boten ein belebtes Bild.

Unter den Zuschauern im Parterre befanden sich David Traub und seine Frau, Schröder grüßte sie freundlich, als er an ihnen vorüber bis an die Brüstung eines „höhern Ranges“ ging, der für die Offiziere, die Hofleute und die Appellationsräte „der adeligen Bank“ und ihre Damen ausschließlich vorbehalten war. Ein junger, schlanker Offizier stand an der Brüstung und reichte dem Schauspieler vertraulich die Hand. Sie sprachen eine Weile mit einander, dann ging Schröder wieder zurück in den nicht privilegierten Raum. Dort stand neben den Spitzen, welche Traub und seine Krau hatten, ein junger, schlanker Mann. Er warf zuweilen scheue und fragende Blicke auf Lea.

Auch Sie hier, mein lieber Doktor? redete Schröder den jungen Mann an. Ja, der Sohn eines Senators von Hamburg hat ein schönes Leben, er reist, er treibt, was ihm gefällt, und wir armen Komödianten müssen ihn zum Lachen bringen.

Heute bringen Sie mich wenigstens nicht zum Lachen, denn Sie spielen ja nicht mit. Wer war der Offizier dort in der roten Uniform, mit dem Sie so eifrig sprachen?

Graf Bennigsen, Hauptmann in der hannover'schen Garde zu Fuß; wir sind alte Bekannte, ich habe manchen Abend mit ihm verlebt, als vor neun Jahren unsere Gesellschaft in den Wintermonaten in Hannover Vorstellungen gab. Und wenn seine Kameraden zechten und spielten, haben wir manch ernstes Wort mit einander ausgetauscht.

Der Graf hat bedeutende Züge. So mögen die Proconsuln des alten Roms ausgesehen haben, die ihre Legionen zum Siege führten. Doch liegt etwas wie tiefer Missmut auf seiner Stirn.

Sie sind ja ein zweiter Lavater, mein lieber Doktor, und wahrsagen förmlich aus den Gesichtern der Menschen! hat mir eben bitterlich geklagt; der Friedensdienst, der zu dem die Garde-Offiziere verwendet werden, langweilt ihn zum Sterben. Er will den hannover’schen Fahnen Lebewohl sagen und Abenteuer suchen.

Der beneidenswerte Mann! er ist nicht an die Scholle gebunden, er ist Herr seiner Zukunft.

Sind Sie denn das nicht, Doktor Helfert?

Davon ein anderes Mal, mein glücklicher Freund — glücklich, denn Sie durften dem Ruft Ihres Genius von früher Jugend an folgen. Doch, sprach er leise weiter, wer ist die Dame hier neben uns, die Sie vorhin grüßten? Sie ist schön, sehr schön, aber tiefe Unzufriedenheit liegt auf ihren Zügen wie eine schwere, drohende Wolke.

So leise er auch gesprochen, Lea, die neben ihm saß, hatte doch diese letzten Worte gehört. Liest man die entsetzliche Leere in meinem Herzen schon auf meiner Stirn? sagte sie vor sich hin.

Wer ist die Dame? wiederholte Doktor Helfert, sagen Sie mir doch ihren Namen, Schröder.

Still! Ihre Majestät von Dänemark treten ein.

Zwei Kammerherren, alte ergraute Männer, öffneten die Türen, die in jenen bevorrechteten Raum für Adel und Offiziere führten. Karoline Mathilde trat ein, sie, der nichts von ihrer Königskrone geblieben war, als unendlicher Jammer. Sie war schwarz gekleidet, ohne allen Schmuck; ihre Wangen waren gebleicht, die Augen matt, und doch verrieten ihre Züge noch die Spuren großer Schönheit. War sie doch noch vor einem Jahre die schönste Frau am Hofe von Kopenhagen gewesen, wie sie stets als die edelste und reinste in dem Treiben dieses Hofes geglänzt hatte.

Als Karoline Mathilde eintrat, erhoben sich alle Zuschauer; nicht allein der Schwester des mächtigsten Königs seiner Zeit, Georgs III., galt diese Ehrenbezeugung, sie galt auch einem großen Unglücke, das würdig und edel getragen wurde.

Es gibt fast gar keine Armen mehr in Celle, seit die Königin hier ist, flüsterte ein Bürger hinten im Parterre seinem Nachbar zu.

Sie setzte sich in ihren rotsamtnen Sessel; eine heitere Musik begann, dann schallte die Klingel zwei Mal auf der Bühne, und der Vorhang ward aufgezogen. Es wurde eines jener Lustspiele aus der guten alten Zeit der Lustspiele und Possen gegeben, wo das Publikum noch gern lachte, wo der Hanswurst, den der gelehrte Gottsched von der Bühne gejagt, in der Maske eines Bedienten oder Bauerburschen doch nicht selten zurückgekommen war. So schallte der Saal denn oft von dem einstimmigen Lachen des Publikums, und selbst auf der Königin Lippen zuckte es bei den Späßen des Bedienten wie ein flüchtiges Lächeln.

Warum geben Sie denn immer Lustspiele, lieber Schröder, so lange Ihre Gesellschaft hier in Celle ist? fragte der Doktor Helfert, als der erste Akt zu Ende war. Haben Sie den Shakespeare abgeschworen, und verleugnen Sie unseren Lessing, dessen Emilie Galotti uns in Hamburg vor Jahr und Tag zuerst überzeugte, dass dem deutschen Drama ein glänzender Morgen tagt?

Es ist mir ein Geheimrats-Befehl aus Hannover zugekommen, dem zufolge wir nur Lustspiele, Possen, Operetten und Ballette geben dürfen, da Ihrer Majestät von Dänemark trübe Stimmung keine Nahrung durch Tragödien, sondern Aufheiterung durch lustige Szenen erhalten solle.

Sie sollten mir doch sagen, Schröder, wer die Dame dicht neben uns ist, die Sie vorher grüßten.

Still! der Vorhang hebt sich wieder.

Der zweite Akt begann. Ein Knabe und ein kleines Mädchen traten auf; sie berieten sich in einfacher, schmuckloser Sprache, was sie den Eltern zu ihren Nahe bevorstehenden Geburtstagen schenken sollten.

Weh mir! rief die Königin, weh mir, mein Frederik, meine Louise, meine armen Kinder! Und sie erhob sich rasch, und mit der Hand ihre Hofleute abwehrend, die ihr folgen wollten, verließ sie das Theater.

Keine Störung weiter! rief der eine der beiden alten Kammerherren den Schauspielern zu, und das Stück wurde weiter fortgespielt.

Ich habe sehr unvorsichtig gehandelt, flüsterte Schröder dem Doktor zu, der neben ihm stand. Ich hätte mir denken können, dass der Anblick von Kindern, die Königin, seit sie von ihrem Kronprinzen und der kleinen Prinzessin getrennt ist, stets furchtbar erschüttern muss.

Lea stand gleich auf, als die Königin das Theater verlassen hatte. Es ist hier entsetzlich schwül, sagte sie ihrem Manne, ich will einige Minuten hinaus, um frische Lust zu schöpfen.

Ich will dich begleiten.

Nein, ich bitte dich, lass Mich allein gehen, antwortete sie sanfter, als der Ton ihrer Rede sonst war, lass mich allein gehen.

Vor ihr her in dem Schlossgarten hinein ging die Königin raschen und erregten Schrittes.

Die Arme, die Arme! sprach Lea unter Tränen vor sich hin, und dennoch beneide ich sie! Von einem Throne gestoßen, gequält, verhöhnt, verleumdet, ist sie doch reich, unendlich reich, und nicht sie, ich bin zu beklagen, ich, die ich an einen schwachen, elenden Mann gekettet bin, ich, die Kinderlose! Sie hat doch Kinder, einen Sohn, der sie vielleicht einst rächen wird, ein Mädchen, das vielleicht schöner noch als sie, vielleicht glücklicher als sie werden wird. Einsam, gefangen auf der düsteren Festung, hatte sie doch ihr Kind, ihr Töchterlein, und mit ihrer Milch durfte sic es nähren. Ich sitze in einem glänzenden Gefängnis und allein, so furchtbar allein!

Sie sah die Königin den einsamsten Weg des Schlossgartens einschlagen und schlich ihr verstohlen nach. In einer dunklen, von Zypressen gebildeten Gruppe kniete die Weinende nieder und zog ein Medaillon aus ihrem Busen. Es war das Brustbild ihres Knaben Frederik und Locken von ihm und der kleinen Louise Auguste. Sie küsste Bild und Locken; dann betete sie ein Gebet, das innigste, das heiligste Gebet, das Gebet einer Mutter für ihre Kinder.

Als sie sich gestärkt durch das Gebet wieder erhob, sah sie Lea, die unweit von ihr weinend in das herbstliche Gras gesunken war. Auch eine Unglückliche? sagte sie sanft und legte ihre weiße, edle Hand segnend auf Leas Haupt.

Unglücklicher bin ich, weit unglücklicher noch als Eure Majestät.

Ich beklage dich. Suche deinen Trost im Gebete, wo ich ihn finde, und mögest du wie ich in deinem Unglücke bis ans Ende deiner Tage sagen können: Ich darf mein Gebet zu Dir erheben, mein Herr und Gott, denn ich bin rein und unschuldig *)

*) Viele Tatsachen sprechen für die Unschuld der Königin. Struensees Geständnis gegen sie war dem schwachen Manne durch das Elend seines Kerkers, durch Drohungen mit der Folter, welche er abgeschafft hatte, erpresst. Für Karoline Mathilde spricht noch ein durchaus glaubwürdiges, wenig bekanntes Zeugnis. In den Memoiren des dänischen Generals von Falckenskiold (Paris, 1826) über die Verwaltung Struensees, über seinen Sturz und über den an ihm begangenen Justizmord heißt es in einer Note: „Ich hatte 1730 in Hannover Gelegenheit, Herrn Roques, Prediger an der französischen (reformierten) Kirche in Celle, kennen zu lernen. Als ich einst mit ihm über die Königin Karoline Mathilde sprach, erzählte er mir: Ich wurde fast täglich zu der Königin berufen, teils um ihr vorzulesen und auch mit ihr zu unterhalten, zumeist aber um ihr Mitteilungen über die Armen in meiner Pfarre zu machen. Die letzten Tage ihres Lebens besuchte ich sie sehr oft, und wenige Minuten vor ihrem Tode war ich noch bei ihr. Obgleich sehr schwach, hatte sie noch volles Bewusstsein. Als ich ihr die Gebete für Sterbende vorgebetet hatte, sagte sie mir mit fester Stimme: Ich werde vor Gott erscheinen — ich beteure, dass ich unschuldig an den Verbrechen bin, die mir zur Last gelegt werden, dass ich meinem Gemahl niemals untreu gewesen bin. — Ein altes orientalisches Sprüchwort lehrt: „Keiner hintergeht den Andern in der Todesstunde.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Freitag-Abend