Elias von Wilna. Hamburg

Der Mann aus Wilna und sein Schützling wanderten den Weg nach Deutschland zu. Trost findet seinen Weg so leicht in Kinderherzen, und bald wurde der kleine Moses wieder heiter und empfänglich für die Eindrücke der Wanderung. — Als sein Führer aber von Polen schied, wandte sich das Auge seiner Seele noch einmal innig auf seine Vergangenheit zurück.

Elias von Wilna hatte nie Vater, noch Mutter, noch Bruder, noch Schwester gekannt. Nach einem Raubzuge der Kosaken, der sich bis vor die Tore von Wilna ausgedehnt, hatte ein jüdischer Kaufmann das Kind in einem zerstörten Hause zwischen den von Lanzenstichen durchbohrten Leichen seiner Eltern gefunden. Es waren seine Glaubensgenossen, die er hier in ihrem Blute liegen sah, das sagte ihm ihr dunkles Haar, das sagten ihm die hebräischen Gebetbücher, welche die Kosaken als eine zu wertlose Beute auf die Erde geworfen hatten. Der Kaufmann, schon im höheren Mannesalter stehend, war ein kinderloser Witwer, und so nahm er die Waise zu sich. Er sorgte treulich für den kleinen Knaben, den er Elias nannte, er gab ihn früh in die Schule, und da der Kleine mehr als gewöhnliche Anlagen verriet, so bestimmte er ihn für die Laufbahn eines Rabbinen. So wuchs der Knabe zwischen Büchern und Lehrern auf. Sein Lebensmorgen war wie der Morgen eines Herbsttages, ruhig, milde, ohne Sturm, aber auch ohne Sonne, ohne Blumen, ohne den Gesang der Vögel. Er hatte ja keine Eltern, die seine Tage mit Liebe überwachten, er hatte keine Geschwister, zwischen denen er aufgewachsen wäre, wie die Bäume des Waldes in fröhlichem Wetteifer mit einander aufwachsen. Er ward groß in der Einsamkeit, wie die schlanke Tanne in der Haide groß wird. Der Mann der ihn zu sich genommen, hatte das aus Pflichtgefühl, aus Gehorsam gegen die heilige Schrift getan, die Erbarmen gegen die Witwen und Waisen anbefiehlt; aber er war zu alt, um das Herz eines Kindes an sich zu fesseln, zu beschränkt um zu ahnen, was diesem Kinde fehle, das doch reichliche Nahrung, guten Unterricht und ein weiches Lager habe. — Als Elias fast ein Dreißiger war, starb sein Pflegevater; er hatte ihn immer wie ein Kind abhängig von sich, auf sehr wohlwollende Weise abhängig, aber doch immerhin abhängig, gehalten. Nach seinem Tode hatte er den Pflegesohn mit einem kleinem Vermächtnisse bedacht, sein übriges Vermögen ererbten Verwandte. — So stand Elias noch weit einsamer da. Er suchte Beschäftigung, Zerstreuung und suchte den ganzen Inhalt seines Lebens in Studien und Büchern. Wohl galt er unter den Rabbinen der bei allen europäischen Juden damals sehr berühmten hohen Schulen von Wilna als ein ausgezeichneter Kopf, wohl lernte er auch das römische Altertum kennen und in den Versen Homers eine schmucklose Größe verehren, und doch — die Bücher stillten eine Sehnsucht nicht, die an seinem Herzen nagte. Lebenslust, Lebensglut stellten Forderungen an ihn. Dann liebte er mit der Glut, eines Mannes, dessen Leben fast zur Hälfte schon still und ernst dahin gegangen war — und die er liebte, sie war die Tochter eines wohlhabenden Wechslers, an dessen Tische er jede Woche einen bestimmten Tag gastliche Aufnahme fand. Er fühlte es, sie, die seinem Herzen so teuer war, liebte ihn wieder, und über die Schneefelder Polens lagerte es sich für ihn wie der Glanz eines üppigen Frühlings im Lande Italien, und Alles blühte und jubelte vor seinen freudetrunkenen Augen. — Er harte mit der beliebten heimlich gesprochen, stammelnd wie ein blödes Kind hatte er ihr gestanden, was sein Herz bewegte, sie hatte ihm die Hand gedrückt, sie hatte ihn mit den süßesten Namen genannt... Das goldene Kalb wird noch immer angebetet. Wider ihren Willen wurde Eva mit einem reichen Kornhändler aus dem weit entlegenen Krakau verlobt. — Am Tage der Hochzeit mußte Elias eine furchtbare Prüfung besteben. Da er als ein frommer und gelehrter Mann bekannt war und der Rabbine, der eigentlich die Trauung vornehmen sollte, plötzlich erkrankte, bat ihn der Vater der Braut, die heilige Handlung vorzunehmen. Er konnte weder einen Antrag ablehnen, der sehr ehrenvoll war und dessen Ausführung nach den Lehren der Rabbinen ein gutes Werk ist, noch sich einem Manne ungefällig erweisen, der ihm früher manches Gute getan. — In der alten Sagen wird wohl erzählt, das Dulder ihre Brust mit eisernen Reifen zusammenschnürten, damit ihnen das Herz in der Brust nicht breche; so waffnete auch Elias sich um Standhaftigkeit. Vor sich sah er die sanfte, edle Gestalt der Braut, gehoben durch die schöne eigentümliche Tracht neben dem plumpen, vierschrötigen Bräutigam, und er sprach ruhig und tonlos die vorgeschriebenen Gebete. Und als die Trauung vollendet, als auch er den Brautleuten sein „gut Glück“ gewünscht hatte, eilte er in seine stille Wohnung zurück und weinte lange, lange. — Dann versenkte er sich wieder in seine Bücher und forschte wieder mit rastlosem Eifer in den alten Geschichten des Morgenlandes und des Abendlandes. Da ließ ihn einer der vornehmsten Rabbinen der hohen Schule rufen. Ihr lernt und lernt immer, mein Freund, und seid doch durch Wissen und durch Alter schon so sehr zum Lehren berufen; wäre hier ein Platz für Euch offen, wir Anderen würden Euch gern begrüßen als einen Säemann, der uns hilft, die Saaten der Frömmigkeit auszustreuen. Da dem aber nicht so sein kann, so höret meinen Rat; geht in das deutsche Land: unsere Glaubensgenossen, die dort wohnen, nehmen gern Lehrer und Führer von uns. Ich will Euch Briefe an Rabbinen in Deutschland mitgeben, die gleich Euch hier in Wilna gelernt haben; Euch wird dort das Lehramt dann nicht fehlen. — Nach Deutschland! Aus seinen Studien außerhalb des Bereiches jüdischer Wissenschaft wusste Elias, dass im römischen Reiche eine klarere Luft wehe, als in seinem finsteren Polen. Und was hatte er hier zu hoffen, da seine Geliebte seit Jahren für ihn verloren war? So griff er denn, ein vierzigjähriger Mann, nach dem Wanderstabe, und eine Fügung des Himmels führte eine Waise in seinen Weg.


In den deutschen Städten fand Elias von Wilna unter seinen Glaubensgenossen eine freundliche Aufnahme. Er hätte seine Reisen gern recht weit ausgedehnt, wäre gern von Gemeinde zu Gemeinde gewandert, die freundliche Bewirtung hier durch eine Gastpredigt, dort durch Mitteilung scharfsinniger Sprüche vergeltend; aber die Sorge für den kleinen Moses war doch mächtiger, als die Reiselust, die jetzt in ihm erwacht war. In Berlin erfuhr er, dass in Hamburg eine ziemlich gut besoldete Lehrerstelle, an einer Knabenschule, welche auf einer milden Stiftung beruhte, unbesetzt sei. So wanderte er denn aus der preußischen Hauptstadt in die Hansestadt, und seine Bemühungen um jene Stelle waren nicht vergeblich. Der Ober-Rabbine von Hamburg gab sie ihm gern und bald waren er und sein Knabe heimisch in der alten Stadt, die sich gern das deutsche London nennen hört.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Freitag-Abend