Die Offenbahrung

Am anderen Tage klopfte es zur festgesetzten Stunde leise an die Tür des Doktor Helfert. Auf sein Herein trat ein junger Mann, in einen Mantel gehüllt, einen Hut mit breiter Krampe tief in das Gesicht gedrückt, in das Zimmer. Hut und Mantel abwerfen, war ein Augenblick — dann stand vor ihm jene Dame, die einst im Theater von Celle einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Lea erzählte von ihrer Jugend, wie sie nie die milde Liebe einer Mutter gekannt, wie der Vater den ganzen Schatz seiner Liebe auf seinen einzigen Sohn gehäuft. Ich habe einmal als Kind von Aschenbrödel gehört, sprach sie heftig weiter, das arme Mädchen war von ihrem Vater verstoßen. Ich musste nicht wie Jene die Dienste einer Magd verrichten, nein, mich umgab Reichtum und Behaglichkeit; aber ich fühlte bitter, dass ich dem Herzen meines Vaters ein Aschenbrödel war. — Beim Tode ihres Bruders, erzählte sie weiter, habe sie das Gefühl durchbebt, ein Nebenbuhler sei fort, und sie erbe nun einen Teil der Liebe des Vaters von ihm. Dann habe sie sich von einem Diener ihres Vaters glühend geliebt geglaubt, diese Liebe freilich, nicht erwidert, aber ihr Stolz sei dadurch geschmeichelt worden, der Gedanke habe ihr geschmeichelt, diesen Mann zu sich zu erheben. Es sei eine Täuschung gewesen, Jener habe ein Dorfmädchen geliebt. Einen Mann, der ihr ergeben, habe sie besitzen wollen, und so habe sie, den Lieblingswunsch des Vaters erratend, ihre Hand verschenkt. Dann schilderte sie diesen Mann einer törichten Wahl als eine jämmerliche Puppe, als einen elenden Sklaven seiner Habsucht und seines Geldes.


Nach diesem hastig und mit leiser Stimme gesprochenen Geständnisse schwieg sie einen Augenblick. Da sah ich Sie, sprach sie weiter, und eine tiefe Röte bedeckte wie ein Purpurmantel ihre Züge, ich sah einen Blick, der mit Teilnahme auf mir ruhte, ich zwang mich, diesen Blick kalt und teilnahmslos zu erwidern. Ich habe dann bald erfahren, wer Sie sind, bald mir aus stillen Beobachtungen ein teures Bild geschaffen. Der Sohn eines Senators, eines Rechtsgelehrten von Ruf, sollten Sie desselben Weges geben, der in diesem Freistaate zu den höchsten Ehren führt, und mussten Anwalt werden. Ihr Geist aber möchte sich in andern Bahnen versuchen; es ist wahr, was Sie mir gestern sagten, mit der Glut eines Jünglings, mit der Treue eines Mannes lieben Sie die Wissenschaften, die dem Menschen Licht über den Bau des Weltalls bringen. So hören Sie mich denn! Sic wie ich, wir sind beide in Fesseln, Sie in den Fesseln eines Berufes, zu dem Sie gezwungen wurden, ich an einen habsüchtigen, herzlosen Gatten gekettet. Lassen Sie uns diese Fesseln brechen! Ich will den elenden Mann verlassen, will mit Ihnen nach England gehen, von dort aus lasse ich mich von ihm scheiden; bringe ich auch einen großen Teil meines Vermögens seiner Habsucht zum Opfer, um von ihm los zu kommen, so bleiben mir doch noch viele Tausende. Ich trenne die Ehe mit einem ungeliebten Manne — auf denn, trennen Sie die Ehe mit einer ungeliebten Wissenschaft! All mein Gut gehört dann Ihnen, wie ich Ihnen gehören will. Treiben Ihre Studien Sie in ferne Erdteile, in die Glut, in die Wüsten Afrikas, ich gehe mit Ihnen. Ich folge Ihnen, ich will Ihre fleißige Schülerin werden, ich will Ihnen suchen, forschen helfen. Weisen Sic mich nicht zurück, stoßen Sie mich nicht von Sich!

Er schüttelte traurig den Kopf.

Ich verstehe Sie, Wilhelm Helfert, ich verstehe den Sohn des Hamburger Senators. Zwischen Ihnen und einer Jüdin kann es nichts Gemeinsames geben.

Sie verkennen mich, Lea, antwortete er wehmütig. So wahr ein Gott lebt, dessen Offenbarungen ich in Meer und Erde, in Pflanzen und Stein, im Stern hoch oben am Himmel, im Insekt, das im Staube kriecht, verehren lernte, ich weiß nichts von den Schranken, welche Kirchen und Tempel zwischen Menschen und Menschen aufgetürmt haben. — Nein, Lea, ich darf meinen Vater, Sie dürfen Ihren Gatten nicht heimlich verlassen, wie sich Diebe in der Nacht mit ihrer Beute davon schleichen. Entließe mich mein Vater aus dem mir verhassten Berufe, der mir aufgezwungen ist, wären Sie frei, dann nähme ich Sie als meine Schülerin an, dann würde unsere Liebe meine Sehnsucht, die edelste aller Wissenschaften zu erforschen, stärken, meinen Blick schärfen. Und wer fragte wohl an den Ufern des Nil oder auf dem Gipfel des Ätna, ob Sie aus dem Stamme Juda und ob ich ein Hamburger Senatoren-Kind bin!

Lea nahm den Mantel wieder um und drückte den Hut tief in ihre Stirn. Leben Sie wohl, Wilhelm, und vergessen Sie diese Stunde!

Ich werde Sie und diese Stunde nie vergessen können. —

Wenn ich frei wäre! sagte sie vor sich hin, als sie auf Umwegen ihrem Hause wieder zu ging. Kann ich nicht frei werden?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Freitag-Abend