Das Unglück nimmt seinen Lauf

Wilhelm verließ der Gedanke an diese seltsame Unterredung nicht mehr. Es war eine rätselhafte Natur, die sich ihm so keck angetragen hatte, er fühlte, sie liebe ihn ... aber konnten sie allen Pflichten, allen Verhältnissen sich entziehen? — Mehr als je ergab er sich seinen juridischen Geschäften, und nicht selten sagte ihm sein Vater, ein eingefleischter Diener der Themis: Ich habe es ja gesagt, du würdest deine naturwissenschaftlichen Liebhabereien, verlassen und dich dem Ernste deines Berufes ganz widmen.

Wilhelm antwortete nicht auf dieses Lob seines Vaters, aber die Stimme seines Herzens seufzte: Wären wir frei, Lea und ich pilgerten mit einander in ferne südliche Lande mit ihrem glühenden Himmel und ihrer Farbenpracht, um die Geheimnisse der Natur zu, enträtseln.


Leas ganzem Sein hatten sich die Worte des Geliebten tief eingeprägt: Wenn Sie frei wären ... Wenn ich frei wäre!

Sie ward von Tage zu Tage kälter und unfreundlicher gegen ihren Mann. Sie sprach das Wort Trennung aus, er achtete aber nicht darauf. Eines Abends bestürmte sie ihn mit leidenschaftlichen Bitten, er möge in eine Scheidung zwischen ihnen willigen; zwei Drittel ihres Vermögens solle er behalten, nur frei möge er sie lassen.

Er nahm ihre Anträge wie einen Scherz. Mit seiner gewöhnlichen Ruhe, die der lebhaften Frau seit Jahren so widerwärtig geworden war, versicherte er, er könne keinen Tag ohne sie leben; er betrachte ihren Wunsch wie eine Laune, die vorübergehen werde, wie so manche andere ihrer Launen vorübergegangen.

Und ich muss doch frei werden, sagte sie sich täglich, einerlei, wie die Menschen den Weg nennen, auf dem ich Freiheit erwerbe, der mich zu dem Geliebten führt!

Die Dienstage und Freitage jeder Woche sind in Hamburg seit vielen Menschenaltern die belebtesten Geschäftstage; dann gehen die meisten Geschäftsbriefe ab, und namentlich am Freitage wurden die meisten Geschäfte abgeschlossen, während der Sonnabend nur ein halber Geschäftstag war, da die jüdischen Kaufleute sich an diesem Tage alles Handels enthielten.

An einem Freitage im Mai 1779 war das Geschäft an der Börse belebter als seit langer Zeit; die Mäkler liefen hin und her; Millionäre, denen sonst mit aller Ehrerbietung, die man dem Gelde in Handelsstädten zollt, Platz gemacht zu werden pflegte, stießen heute auf eine Masse vierschrötiger Schiffskapitäne, die im Kampfe mit Sturm und Wellen allen überflüssigen Respekt vor vornehmen Leuten, selbst vor „Steinreichen“ verloren hatten. Die Schifffahrt, die durch den Winter, durch den Krieg zwischen Nordamerika und dem Mutterlande sehr gelitten hatte, nahm wieder einen neuen Aufschwung. Schiffsfrachten waren gesucht, große Massen von Getreide waren nach England, Eisen und Blei nach Amerika bestellt, und darum wogte und lärmte es so auf der Börse.

Es ist das erste Geschäft, das Sie seit langer Zeit durch mich machen, Herr Traub, und an dem ich ein paar Mark verdiene, sagte Moses.

Es waren schwere Zeiten, mein Freund, man musste nur zusammen zu halten suchen, was man einmal hat.

Sie haben gut reden, Herr Traub! Die reichen Leute wissen sich immer zu helfen, auch in schwerer Zeit. Wir aber sind in solcher Zeit hart daran, wir Familienväter, die beinahe vom täglichen Erwerbe leben müssen. In schlimmen wie in guten Zeiten müssen aber die Kinder Nahrung, Kleidung, Unterricht haben. Wir haben uns gewiss eingeschränkt, meine Frau und ich; selbst was bei frommen Juden selten fehlt, die Fische am Freitag-Abend haben wir uns schon lange versagen müssen.

Heute Abend soll wenigstens der Hausvater sein Stück Karpfen haben; ich werde es Euch als Zugabe zu dem Geschäfte schicken, das ich mit Euch gemacht habe. Wie geht es denn Eurem Rabbi von Wilna? Der Mann scheint alt zu werden.

Er hat diese Woche seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert; ohne ihn wäre ich auf dem unbarmherzigen Boden Polens vor Hunger und Elend verkommen. Gott gebe, dass ich seinem Alter einen kleinen Teil von dem abtragen kann, was er an meiner Jugend Gutes getan.

Ich hatte auf ein neues Werk von Lessing subskribiert, und es ist mir heute ins Haus geschickt. Es ist ein Theaterstück, und ich glaube, es handelt von Juden. Der Rabbi hat mir wohl früher gesagt, er lese gern von Lessing; so nehmt ihm das Buch auf ein paar Tage mit, ich habe jetzt doch etwas Anderes zu lesen.

Ist es denn wahr, sagte Moses vor sich, hin, als ihn der reiche Traub verlassen hatte, was wohl alte abergläubische Frauen behaupten, dass sich die Menschen alle sieben Jahre ändern? Er war sonst immer sehr hochmütig gegen mich, der ich doch Jahre lang sein Kollege auf des alten Aaron Königsbergs Schreibstube gewesen bin, und heute zeigte er sich so freundlich. Jetzt wird er, wie ich, fünfunddreißig Jahre alt; ändert er also wirklich seinen Sinn, da sieben neue Jahre für ihn angehen?

Beim Abendessen war David auch gesprächiger gegen seine Frau, als er es seit lange gewesen war. Er erzählte ihr von dem regen Geschäfte an der Börse; dann ward er aber ernst, als er weiter erzählte, wie ihn mitten unter dem Treiben des Geschäftes eine seltsame Ahnung durchzuckt hätte. Nicht weit von ihm seien laute Klagen erschallt; es habe sie Pereira von der Gemeinde der portugiesischen Juden, der jetzige Chef des altberühmten Handlungshauses, erhoben. Es sei freilich seit Jahren an der Börse kein Geheimnis mehr, dass der alte Reichtum dieser Portugiesen sehr geschmolzen wäre. Und nun habe Pereira noch ein Schiff verloren, das für seine Rechnung reich befrachtet nach Amerika bestimmt und von einem englischen Kaperschiffe geraubt worden sei. Pereira, als ihm ein Makler dieses Unglück verkündet, habe in seinem Schmerze mit unvorsichtiger Klage ausgerufen: Noch ein Verlust wie dieser, und meine Kinder werden arme Kinder, und das Haus, das einst Christine von Schweden beherbergte, wird verarmen und verfallen*)! Und in dem Augenblicke sprach David weiter, als ich diesen Klageruf gehört, war es mir, als werde ich wie Pereira beraubt werden, aber nicht meiner Güter, sondern meines Lebens. Alles um mich her wurde plötzlich dunkel, wie die Nacht. Ich zwang mich, in die Sonne zu sehen, aber es wurde lange nicht wieder hell vor meinen Augen. Glaubst du, dass der Mensch plötzliche Ahnungen empfinden kann, dass diese Ahnungen sich erfüllen, oder dass sie nur ein Spiel sind, welches unser Blut mit unserem Denken treibt? Kann der Tod Menschen wohl unsichtbar berühren und ihnen leise zurufen: „Dies zum Gruß, seid gefasst, ich komme?“ Glaubst du an solche Ahnungen Lea?

*) Die portugisisch- jüdische Familie der Pereira zahlte im siebzehnten und bis gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu den reichsten Geschlechtern von Hamburg. Sie hatte die Agentur für mehrere Staaten, die damals die moderne Einrichtung des Consulates vertreten zu haben scheint, Königin Christine von Schweden wohnte bei einem Aufenthalte in Hamburg, nach ihrer Abdankung, im Hause der Pereira. Später sollen sie furchtbar schnell verarmt sein. Als Kind hörte ich erzählen, der letzte Pereira, ein noch junger Mann, habe sein Brot durch Botendienste bei kleinen Kaufleuten erworben. Einst sei er beauftragt worden, einen Bankzettel von hundert Mark einzukassieren — er verlor sie im Gedränge der Straße. Ihr habt sie nicht verloren, warf ihm der rohe Krämer vor, dem das Papier gehörte, Ihr habt sie mir gestohlen, Ihr seid ein Dieb! Das ertrug das alte Ehrgefühl eines Pereira nicht: der Letzte ihres Geschlecktes ward wahnsinnig über einen so entsetzlichen Vorwurf und soll bei den unheilbaren Irren im öffentlichen Krankenhause gestorben sein.

Nein, solche Dinge sind ein Spiel des Blutes, antwortete sie gleichmütig.

David trank in tiefen Zügen Wein aus dem reichvergoldeten Becher, der vor ihm stand. Der Becher ist ein Erbstück von meinem seligen Vater, seufzte er, ich werde ihn keinem Sohne hinterlassen — Dann erinnerte er sich plötzlich, dass er auf der Börse seinem Makler Karpfen versprochen hatte; auf der Schüssel, die noch vor ihm stand, lagen nur wenige Stücke von dem Fische.

Ich habe schon der alten Esther ein paar Stücke Karpfen geschickt, sagte Lea, sie ist sehr krank und kann kein Fleisch mehr vertragen. Fische hat ihr aber der Arzt noch erlaubt, so kann sie denn heute Abend und morgen davon essen; es ist vielleicht die letzte Speise, welche die alte Frau gern genießt.

Das eine Stück können wir aber doch dem Makler Moses schicken; ich habe es ihm versprochen, und ein Mann, ein Wort.

Traubs Köchin brachte das Stück Karpfen in Moses' bescheidene Wohnung.

Die Familie hatte schon zu Abend gegessen; Rabbi Elias war schon auf sein Zimmer gegangen, die Kinder lagen in jenem festen Schlafe, der ein beneidenswerter Vorzug der Jugend ist, die keine andere Sorge als ihre Schularbeiten kennt. Die beiden Gatten waren allein in heiterem Gespräche. Noch immer verdiente die Frau den zarten Namen, den sie trug: sie besaß eine Schönheit, die nicht an einige Jugendjahre geknüpft war; ihre dunklen, schönen Augen glänzten noch wie sonst, ihre feingeschnittenen Lippen, ihre hohe Stirn war frisch und schön wie sonst. Der Ausdruck ihrer Züge aber hatte noch gewonnen und war der Wiederschein des reinen Glückes, das über ihr Leben ergossen war.

Der Herr Traub hat also doch Wort gehalten, sagte Moses; ich denke, unser Rabbi verzehrt den Karpfen noch; es ist ohnehin lange her, dass wir ihm keinen vorsetzen konnten.

Er ist oben in seinem Zimmer, antwortete die Frau, geh und bringe ihm den Fisch hinauf, damit der alte Mann nicht noch die steile Treppe herunter kommen muss.

Moses stieg hinauf. Vor dem Zimmer hörte er, wie der Alte mit ernster, tiefer Stimme die Worte las:

Es eifre Jeder seiner unbestochnen,
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe Jeder von euch um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hülf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euren Kindeskindern äußern:
So lad' ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl.

Er trat leise ein. Rabbi Elias hörte ihn und reichte ihm die Hand, sein Auge glänzte freudig. Mein Sohn, sprach er in feierlichem Tone, ich habe oft geglaubt, die Zukunft Judas würde sein, wie seine Vergangenheit seit Jahrhunderten gewesen ist. Ich habe geglaubt, so wie wir den müden Schultern unserer Voreltern die entsetzliche Last von Druck, Verfolgung, Hohn, die auf ihnen lastete, abnehmen mussten, so würde es von Geschlecht zu Geschlecht gehen, von Jahrhundert zu Jahrhundert. Ich habe oft geweint über die künftigen Enkel deiner Kinder, dass sie wieder wund gedrückt durch die Welt gehen würden, wie die Geschlechter vor ihnen. Gott, der Allmächtige, sei gepriesen, ich glaube es nicht mehr! Es gibt Sonnen des Geistes, wie es eine Sonne der Erde gibt, die alle Körper der Erde beleuchtet und erwärmt. Dieses Buch in meiner Hand ist eine solche Sonne des Geistes, und Millionen wird es erleuchten, und die Herzen von Millionen wird es erwärmen. Gesegnet sei das Herz, dem diese Weisheit der Liebe, der Versöhnung entquoll, gesegnet dieser Dichter Gotthold Ephraim Lessing! Sich her, mein Sohn, was hier in Worten steht, es wird sich in Taten der Liebe, der Gerechtigkeit den Weg in das Leben der Welt bahnen. Gott nimmt jedes aufrichtige Gebet hin, woher es komme, ihm ist jede Tugend wert, ob der Christ, der Mohamedaner, ob der Jude sie übe. Dürft ihr verdammen, dürft ihr unterdrücken, ihr törichten Menschen? Und diese Weisheit, wie die Sonne, die zuerst nur die Berge, nur die Zweige der höchsten Bäume erleuchtet, indessen die Ebenen noch mit der Finsternis kämpfen, so wird sie zuerst nur in Kopf und Herz derer dringen, die groß genug sind, sich über die Massen, über den Hass und die Vorurteile ihrer Zeit zu erheben. Dann aber wird ihr Strahl in die Tiefe der Völker niedersteigen, kein Dunkel wird dieser Sonne, dieser Weisheit widerstehen können. Diese Weisheit wird die Tore der Judengassen öffnen; wie einst jener edle Freund deines Vaters mir die Bruderhand reichte, so werden sich Christen und Juden überall die Hände reichen. Die Juden werden das Land bauen wie die Christen; in Gewerbefleiß, in Kunst und Wissenschaft werden sie mit ihnen wetteifern: gleich ihnen die Waffen tragen, gleich ihnen das Recht, die Lieblingstochter Gottes, verteidigen gegen Gewalt und Gewissenlosigkeit, und ein Vaterland wird der Jude haben, wie der Christ.

Der alte Mann schwieg, aber seine Lippen bewegten sich wie im Gebete; dann fragte er Moses, weshalb er noch zu ihm herauf komme. Ich kann keine irdische Speise mehr genießen, heute, da ich in dem Manna des Herzens schwelge. Geh, mein Sohn, ich will das Buch dieses gottgesegneten Dichters zu Ende lesen. Ich bitte dich, lies morgen auch diesen Nathan den Weisen.

Moses kam mit dem Teller zu seiner Frau zurück. Nun wirst du einmal den lang entbehrten Karpfen essen, sagte sie.

Ich? behüte! du sollst ihn haben.

Gewiss nicht, ich bin satt.

Der erste Streit in der fast zehnjährigen Ehe begann. Keiner der Beiden gönnte sich den Leckerbissen; der Mann beschuldigte seine Frau, dass sie nur aus Eigensinn sich weigere, das kostbare Gericht zu essen, sie, dass er es immer mache wie heute Abend, dass er nie etwas Besonderes haben wolle, sondern ihr Alles aufzwinge. Endlich schwor er, er werde nie einen Bissen von diesem Fische anrühren. Sie setzte Schwur gegen Schwur.

Sind wir nicht wie Kinder, sagte Moses endlich lächelnd und drückte seiner Frau einen Kuss auf die rosigen Lippen, dass wir uns um eine solche Kleinigkeit streiten? Lassen wir den Fisch stehen, morgen isst ihn vielleicht Rabbi Elias. —
Ehe sie am Mittage des Sabbath zu Tische gingen, flüsterte Blümchen ihrem Manne zu: Willst du nicht mit mir schelten?

Bin ich denn bissig wie der Wehrwolf, von dem sie erzählen, dass er den Menschen ablegt und als grimmiger Wolf umherstreift? antwortete er lustig.

Nun, dann sprich nicht mehr von dem Karpfen von gestern. Unser alter Rabbi wollte nicht von ihm essen, du nicht, ich nicht, da habe ich ordentlich Furcht vor dem Fische bekommen. Es mag Torheit und Aberglauben sein, aber ich konnte es nicht übers Herz bringen, heute wieder eine Speise auf den Tisch zu setzen, gegen die sich gestern drei Menschen gesträubt haben.

Du hast vielleicht recht getan. Bald werden die Zeiten wohl wieder besser, und dann fehlt uns, so Gott will, an keinem Freitag-Abend, nach der Mühe der Woche, die Schüssel Fische.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Freitag-Abend