Frankfurt und der Main

FRANKFURT AM MAIN
Autor: Binding, Rudolf Georg (1867-1938), Erscheinungsjahr: 1900
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Hineingelagert in den breiten Thron deiner Ebene, die feine Linie eines Gebirges nicht zu nahe hinter dich gezogen, den Fluss, der dir ansteht, dicht an deiner Seite, so steht dein Bild, schöne Stadt Frankfurt, in meiner Seele. Aber es ist nicht die Ebene, nicht das Gebirge, es ist der Fluss, der dich bestimmt, mit dem du lebst, ohne den du nicht bist; ohne den dein Bild in meinem Innern nicht bestände.

Wahrhaftig, anders liegt diese Stadt an ihrem Strom, als andere Städte an anderen Strömen. Er durchfließt sie nicht, er beherrscht sie nicht, er ist nur in seltsamer Weise an sie geschmiegt: ihr Antlitz hat sie der Sonne zugewendet und der schöne Strom liegt in ihren Armen.

Sie ist mit ihm vereint in einem Bunde. Ihr Herz, mit dem sie fühlt, drängt sich zu ihm und seine Wasser drängen sich an ihr Herz. Denn Dein Herz, o Stadt, liegt nicht da, wo Markt und Treiben, Menschen und Waren in dem großen Geäder breiter Straßen hin und wider strömen, wo dein Handel blüht, dein Verkehr über die Welt hingeht, dein Reichtum mächtig ist, die Hunderttausende deiner Bürger wohnen — dort hast du kein Herz, dort lächelst du nicht, dort trägst du Züge ohne das Gepräge deines Wesens, und es ist, als ob es dich manchmal nichts anginge.

Längs des Maines aber bist du die Stadt, die sich fühlt. Nicht die königliche, nicht die prunkende, nicht die finstere alte und steinerne, nicht die trotzige, nicht die engherzige, verschlossene, nicht die geschäftige, wie es andere sind und zu sein lieben, sondern die wahrhaft freie Stadt nach Angesicht und Wesen.

Du schwingst die lange Reihe deiner Bürgerhäuser den Strom hinauf, weiß und hell, ein ununterbrochenes Band. Gleicher Sinn, gleiche Bedürfnisse, gleicher Wohlstand, Eintracht und Zusammengehörigkeit haben sie erbaut. Dort auf der Höhe des Ufers wohnten, beständig und bestimmend, in der ruhigen Geschlossenheit einer einzigen Linie, die sich dem sanften Bogen des Flusses ergab, Frankfurts beste Bürger. „Die schöne Aussicht“ haben sie ihre Straße benannt. Dann stromab, nahe und tiefer, auf dem vom Römerberg den Fluss suchenden Ufer, die rötlichen Sandsteine mittelalterlicher Bauwerke; längst verschwundene Wassertore, fast noch zu fühlen; Rümpfe einfacher alter Kirchen, zu gebrechlich schon, um Gott zu dienen, in die Längslinie der Uferstraße eingebaut; danach, in lässiger Hingabe, nicht so dicht und gefestigt wie jenes Band, stromauf, der andere Arm der Häuser, den die Stadt um den Fluss legt. Grün von Gärten drängt sich hindurch, noch einmal eine längere, geschlossene Flucht von Wohnbauten jüngerer Zeit, dann tritt die Stadt von dem Flusse hinweg.

Dies ist, Frankfurt, die liebliche Stirn, die du bietest. Doch wer die Stelle deines Herzens sucht, gewahrt und errät um den Römer herum hohe und steile Schieferdächer; der junge Turm des Rathauses gewinnt seinen Platz und verdeckt fast das hilflose Kuppelgebilde der Paulskirche unter dem plumpen, goldenen Kreuz; und dann ein wenig stromauf, unberührt und unbetastet von Dächern oder Türmen, sie in gebührlichem Abstand haltend, leicht, vertrauend, köstlich, das Wahrzeichen einer heiteren Frömmigkeit, dein Dom. — Es ist, als ob die Lieblichkeit gegen den Himmel immer recht behielte. Unten in seinem Ernste ruhend, von vielfältiger Ehrwürdigkeit umatmet, steigt er gleichsam zu seiner eigenen Heiterkeit auf und krönt sich hoch oben im Lichte mit nichts als einer unbesorgten Anmut.

Der Bau ist dein glückliches Ebenbild, du freie Stadt. Tief in den Gründen liegt Ehrwürdiges und Ernstes; immer aber schon Freies und Festliches, von je bis zum heutigen Tage. Nie von einem Fürsten der Kirche, nie von beherrschenden Adelsgeschlechtern abhängig, wurdest du Hauptstadt des Reichs ohne die Last eines Thrones in deinen Mauern, Wahlstadt von Kaisern, Krönungsstadt.

Ehren und Feiern, nicht ohne Nutzen, wurden dein Teil. Auf dem Römerberg stand die Küche mit dem gebratenen Ochsen für das Volk, von dem der Erbtruchseß dem Kaiser ein Stück überbrachte. Der Hafer war aufgeschüttet, aus dem der Erbmarschall sein silbernes Maß füllte. Der rote und weiße Wein sprang für den Erbschenken vom Born neben dem Springbrunnen. Der Erbschatzmeister streute goldene und silberne Gedenk- und Schaumünzen über das jubelnde Volk.

Auf diese Stätte blickt der Dom zwischen Häusern hindurch mit überhängenden Stockwerken. Er blickt auf die Stätte, wo die freiesten Geister in fruchtlosen Mühen, vom reinsten Willen getragen, deutsche Einigkeit suchten, deutsches Verfassungswerk schmiedeten: die Paulskirche. Er blickt dir recht eigentlich ins Herz, du Stadt, wo deine Märkte und Messen, bürgerlichem Sinn entsprungen, begannen; wo Obrigkeit und Rat noch jetzt ihres Amtes walten; von wo alles ausging, was jetzt deinen Reichtum, deinen Stolz ausmacht.

Er blickt über die vielen Brücken, die dich über den Fluss hinüber verbinden, zu den ehemaligen Häusern der Sachsen, angesiedelt wohl im scharfen Gegensatz und in Gefangenschaf t der Franken, von denen du Herkunft und Namen leitest. Aber so sehr dies Sachsenhausen nun ein Teil deiner selbst zu sein scheint, deine Vorstadt, eines ist allein dir vorbehalten; eines gehört dir allein: der Main. Es ist, als ob jener andere Stadtteil keinen Anteil an ihm habe. So sehr er deinem Wesen eigen ist, so sehr er deinem Bilde dient, so wenig ist er dem Wesen der jenseitigen Siedlung zu eigen, so wenig dient er ihrem Bilde. Alles an ihm gehört dem Ufer, an dessen Herz er sich schmiegt, aber unberührt und unberührend fließt er dem andern vorüber.

So stehst du, alte Stadt, mit deinem Fluss in einem schönen, heiteren Bündnis; in wunderbarer Unbeschwertheit, innerer Jugend und Beweglichkeit habt ihr euch gegenseitig behagt. Ohne die Wucht und Qual einer Riesenstadt, die die Ufer der Themse bei London bedrücken, ohne die Heiligung und Heiligkeit, die Köln auf den Strom wirft, ohne die bewusste Krönung, mit der Prag seinem Flusse obliegt, haltet ihr beide, Stadt und Fluss, euer Gewicht.

In dieser deiner Vereinigung mit dem Strom, unnachahmlich und nie erreicht von anderen, stelle ich dich, du Stadt Frankfurt, in die Reihe der Dinge auf Erden, die geliebt werden. Wohl gibt es Menschen, die die Pyramiden Aegyptens lieben, die die Insel von Notre Dame in Paris lieben, die Wien an der blauen Donau lieben, die den Hyde Park lieben im Mai, die das ewige Rom lieben. Auch ich liebe diese Dinge, aber ich liebe auch dich, Frankfurt am Main.