III. Kann das Große anderswo geboren werden ...

III. Kann das Große anderswo geboren werden als am magischen Ort seiner Erwartung? Feierliche, von welken Kränzen gezierte Kahlheit des Zimmers, wo Er, der Strahlenträger des göttlichen Worts, uns geboren wurde; schmale Stube, in die der Schall der Domglocken, das Singen der Vögel hereinkam an einem deutschen Spätsommermittag. Der Geist, der hier seinen Weg begann, leuchtet noch immer von seiner unbegreiflichen Höhe. Aber das sich selbst Begrenzende, Persönliche dieses Lebens ist wohl nur aus jener Lebensschicht des Bürgertums ganz zu verstehen, die jetzt im Strudel lautlos versinkt. Die Überlieferung spricht noch von jenem Teil des ältesten Stadtgrabens, wo der Rat der Stadt einst Hirsche hegen ließ, deren er bei den feierlichen Gastmählern bedurfte; in der Doppelreihe der Häuser, die später hier zur Straße wurden, ist das Geburtshaus erhalten. Eine Skizze des alten C. Th. Reiffenstein zeigt die Hausgiebel mit den Wetterfahnen und die wohlbehüteten Gärten bis zur Stadtmauer mit dem blinkenden Fluss in der Entfernung, anmutiges Bild, das den Knaben am Fenster seiner Dachkammer oft entzückte. Goethes Mutter ist unsere Mutter, irgendwie spiegelt sich unsere Kindheit in der seinen. Niemals werden Menschen, denen das mittlere Deutschland mit seinen alten Städten fremd ist, die Phantasiewelt verstehen, in der dieses Kind empfangen wurde, Phantasiewelt alles Rückwärtsstaunenden und egoistisch Gesammelten in der Sprache dieser Giebelfronten, dieser Karyatiden, dieser Fruchtgewinde, dieser chiromantischen Zeichen über den Haustüren, dieser langgeschwänzten Brunnen auf den kleinen Plätzen, dieser Gassen mit dem Safrangeruch der Gewürzkrämen, den reinlichen Leinwandläden, den Blutbächen, den Schatten, den Klopfzeichen, dem Knirschen der Sägen, dem Hacken der Metzgerbeile unter den aufgeklappten Dachteilen der Schirn und dem Flor der zimmergroßen Würzgärten am Hof neben der Küche. In dieser sinnlichen Sprache der Dinge lebte noch das stille Wort der Bücher aus dem Strudel der Meßzusammenkünfte, alles Paracelsische, Aristotelische, Hippokratische, Druidenhafte dieser Kräuterbücher, Rechenbücher, Chroniken, Heldensagen und Relationen. Das erste Faustbuch war in Frankfurt 1590 erschienen, die Holzschnitte des Frankfurter Theatrum Diabolorum öffneten Kindern und Erwachsenen einen Blick in die verzerrte grausige Welt hinter den Dingen, das Werk der Meriane und ihrer Erben, großer Kupferstecher, Topographen und Geschäftsleute, breitete die klar beleuchtete Welt des Sichtbaren und des Ehrwürdig-Ansehnlichen in den Blättern des Europäischen Theaters aus. Aus den ersten Fassungen des Faustgedichtes, das sich leidenschaftlich mit der untergehenden Gothik verknüpfte, tilgte die Hand des Dichters später die deutlichen Erinnerungen an die Peterskirche und die Stadtallee, an Gretchens Stube, an den Garten der Witwe Schwerdtlein; den nächtlichen Spuk der Hexenküche umlauert das mystische Frankfurt noch immer. Es gibt in dieser Stadt das Bild des Naphtali Cohen, Rembrandtisches Bild des breiten, mächtigen Rabbiners im dunkeln Bart und Barett, mit dem sprühenden Feuerzeichen auf dem Vorhang. Im Jahre 1711, sagt die Legende, sei im Hause dieses Mannes der große Judenbrand ausgebrochen, die Zauberlehrlinge, die in Abwesenheit des Meisters ihren Vorwitz übten, vermochten das Feuer nicht zu löschen, es ergriff zuerst die eine Seite der Gasse und legte mit drehendem Wind auch die andere nieder. Noch lebten in dieser dunkeln Gasse die mit Magie geladenen Bräuche, Klagen, Anrufungen, Ammenmärchen des ewigen Volkes, Glaubensdinge, die sich längst in die verschneite Welt des Ostens verloren haben. Aus allem, was niederbrennt, steigt ein Phönix; stieg aus der Asche des Frankfurter Ghettos der Phönix der messianischen Hoffnung? Zum erstenmal seit den Judenschlachten vergangener Jahrhunderte zerbrach das Gefäß dieser Gasse. Es heißt, daß ihre Bewohner bei christlichen Nachbarn Obdach fanden, die alte Feindschaft schien für den Augenblick vergessen; wirkten Mitleid, bewundernde, sehnsüchtige Seelenbewegung, Mit-Erwartung des Meschiach, die jeden erstgeborenen Knaben heiligt, in die altfränkischen Stuben, in das Haus des Schultheißen hinüber, daß sie aufs neue zur Sage wurde — bis in den Leib hinüber, der dem deutschen Volk den poetischen Heiland schenkte? Man wird sich der Geschichte erinnern, die Bettina in einem Brief an Goethe von seiner Mutter bald nach ihrem Tod erzählte, sie spricht von der romantischen, schwärmerischen Neigung des damals siebzehnjährigen Mädchens, das später des Dichters Mutter war, zu dem nach Frankfurt geflohenen unglücklichen Kaiser Karl VII., der im schwarzen Kleide am Karfreitag im Dom, im Vorüberfahren auf der Straße, bei offener Tafel im Kreis der Fürsten auf dem Römer über den Becher hinweg sein Auge auf das schöne Kind des Stadtschultheißen richtete und in ihrem Herzen heimlich weiterlebte, eingeprägt für immer durch den dumpfen Ton der Domglocken, die bald nach der Abreise des Kaisers eine Woche lang seinen Tod ausläuteten. So mag wohl die Mutter dem Knaben Törichtes gesagt, Träume in die Seele gelegt haben, die später in den „Wahlverwandtschaften“ dem Geheimnis wesenhafter Zeugung nahezukommen suchte. Verborgenstes Schöpfertum der feinempfänglichen, ganz beseelten Frauen in dieser Stadt! Unvergleichliche Reihe, die sich ins Ursprüngliche verliert und sich ins Gegenwärtigste fortsetzt. Sie umfasst im Zeitraum eines einzigen Jahrhunderts die Namen Sybilla Merian, Mutter Aja, das Fräulein von Klettenberg, Diotima.

Die Judengasse verschloss sich noch einmal für ein Jahrhundert, jetzt heißt sie Börnestraße zu Ehren des Low Baruch, der dort geboren wurde, dieses Emanzipierten, der sich Ludwig Börne nannte und mithalf, das Deutschland der Paulskirche vorzubereiten. Es war Börnes Kritik an Goethe, die zuerst ein leises Zwielicht um das Wesen des Goethe’schen Erfolges legte: sie richtet sich aus einem tiefen Unbedingten, aus einem heimlichen und ewigen Jerusalem gegen den Heiden und Selbstvergötterer, den alles Sybaritische, Nihilistische, Augenblickslüsterne der Zeit zu ihrem Abgott erhob. „Ein Kind ehrbarer Eltern“, schreibt Börne, „entzückte es ihn, als ihn einst ein Gassenbube Bastard schalt, und er schwärmte mit der Phantasie des künftigen Dichters, wessen Prinzen Sohn er wohl möchte sein. So war er, so ist er geblieben.“ An den großen Landsmann, der die französische Revolution eine verdrießliche Geschichte nennt, richtet Börne diese Worte: „Bürger einer freien Stadt, erinnerte er sich nur, daß er Enkel eines Schultheißen war, der bei der Kaiserkrönung Kammerdienste tun durfte.“ Und er fügt hinzu: „Der Himmel gab dir eine Feuerzunge, hast du je das Recht verteidigt? Du hattest ein gutes Schwert, aber du warst nur immer dein eigener Wächter.“ In der Tat, die titanischen Nöte der Gewissen und des Lebens gehen nicht ein in den großen Ton des alten Goethe, er kennt nicht die Masse, noch nicht das Schicksalsgesetz, das den Menschen in Masse wandelt und die Erde in ein stöhnendes Fahrzeug unter ihr; wohl spricht er das prophetische Wort von der künftigen Verbindung der Weltmeere durch die Kanäle von Panama und Suez, berühmte Stellen der von Eckermann aufgezeichneten Gespräche, Frankfurt zuzuschreiben und dem Geist, an dem die alte Reichsstadt einen ahnenden Teil hatte, und den doch erst ganz aus unendlicher Ferne Walt Whitman mit der Lust und dem Wahrheitsglanz eines neuen atlantischen Dichtertums erfüllte. In der Finsternis der Deutschen, die heute ist, brennen andere Strophen gewaltiger als das Goethesche; Hölderlins Verse, erst heute ganz beachtet, Gesang eines Volkes nah seinen höchsten und wirklichsten Entscheidungen, weisen größer, sehnender und erfüllungssicherer auf das Unerfüllte der deutschen Geschichte. Hölderlin erlitt in Frankfurt das Hauslehrerelend an demselben Hirschgraben mit seinem geselligen Schwärmen und Treiben, in einem der ins Grüne zurückgezogenen reichen Häuser, die im Widerglanz des Empire, im Nachglanz älterer Kaiserzeiten, im Reichtum ihrer Gärten und Salons die lieblichen und hohen Frauen bergen. Die parkbesitzenden Familien von Frankfurt leben noch, eine sich ausschließende, überm Boden stehende Schicht der Gesellschaft, deren Männer in den wohlgehüteten Klubs den Ankömmlingen des neueren Handels-, Bank- und Zeitungskapitals begegnen. Viele von ihnen tragen noch die altbekannten Namen französischer und italienischer Abkunft, doch die alten beginnen zu sinken, neue aufzukommen. Wir sprechen von Hölderlin, dem namenlosen unter all diesen namhaften Leuten; er verdiente zum Patron der Künstler erhoben zu werden, die an dieser Stadt, an den Städten unserer Zeit zerbrechen. Was aus den Versen des Schwaben lodert, der an dem Frankfurt der hochbürgerlichen Spätzeit zerbrach, das ist die messianische Flamme, dieselbe, die einst in Griechen und Juden loderte und auch den Söhnen Germaniens Wahrheit ist.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Frankfurt - Ein anachronistisches Bild