II. Die kaum noch sichtbare innerste Umwallung in der Altstadt, ...

II. Die kaum noch sichtbare innerste Umwallung in der Altstadt, der größere Halbkreis und das Gehölz der Anlagen, die mit Gärten ganz umschlungenen Villenstraßen diesseits und die jüngeren Landhäuser jenseits der mit Ulmen bepflanzten, von den Automobilen und Fahrrädern geglätteten Ringstraße, das sind die großen Wachstumsringe. Der alte Villengürtel, kurze Straßen um kleine Quadrate voll starker Bäume, nicht fern dem Opernhaus, diesem majestätischen Dach mit dem Pegasus über dem mit Büschen vollgewühlten Stadtgraben, diese Landschaft der Phantasie und des kultivierten Gefühls der fünfziger Jahre, trägt noch auf seinen Straßenschildern die Bezeichnungen des Flurbuches, Namen vergessener Bäche, Feldhütten und Gärtnerbrunnen; Sprache einer noch aus sich selbst lebenden Stadt. Viele Bilder der alten Stadt sind erhalten: die berühmten Stadtansichten des Matthias Merian, der Fabersche Belagerungsplan, die Kupferstiche, Handzeichnungen und Skizzen der Künstler und der Liebhaber aus allen Jahrhunderten. Diese unzähligen Bilder, Aufrisse und Pläne, zueinandergetragen, übereinandergehalten, ergänzt durch das biographische Wissen, durch Porträte und Ereignisbilder und durch die Photographien der vor zehn und zwanzig Jahren abgebrochenen Häuser, der umgewandelten Straßen — dieses ganze anachronistische Material zeigt erst den vollen Lebensausdruck des perennierenden Stadtwesens, das sich unaufhörlich verbraucht und erneuert, eingebettet in die unveränderliche Atmosphäre, in das leicht befeuchtete grundwarme Klima, das die saftigen Gebüsche, das derbe Mittelgrün der Laublandschaft hervorbringt. Auf diesen Bildern ragen Türme, die noch stehen, glänzt die flüssige Ebene des Wassers zwischen den Ufern wie heute. Die Landstraßen sind sichtbar, die Beetgärten, die von Bächen gespeisten Wassergräben der Gutshöfe. Ins Feld vorgeschoben ragen die Warten, Galgen und Windmühlen. Häusergruppen stehen hinter dem Zaungeflecht der Brückenköpfe, die Brückenköpfe scheiden sich später in Halbmond und Stern der Festung. Kein Irrgarten des alten Amsterdam scheint künstlicher aus Reichtum und Mode entstanden und mit Zirkel und Schere in Architektur verwandelt als der berühmte Schwindsche Garten, er lag am unteren Mainufer irgendwo, man weiß den Ort nicht mehr; Bild eines stolzen, im Stil der Renaissance gebauten Landhauses außerhalb der Stadt, in bekannter Gegend, die durch die Stellung des Beschauers zum Saum der Taunusberge wohl zu bestimmen ist; man wird nicht einen Stein mehr von ihm in den Feldern finden. Man weiß von den Stadterweiterungen des 12. und des 14. Jahrhunderts; der Dom ist der fünfte Kirchenbau an seiner Stelle, doch das ist nichts gegen das jähe und formlose Ausquellen der Stadt nach dem Abwurf der Wälle, nach dem Übergang der Stadt aus der zerfallenden Civitas Dei des alten Reiches in das allzu irdische Schema, das bezeichnend genug als ein Zollverein begann. Goethe fand schon 1814 die Stadt sehr geschäftig und zerstreuend geworden, sie hatte vierzigtausend Einwohner, um 1867 waren es doppelt so viele, heute sind es vierhunderttausend mehr. Lebendiges Fleisch, das wohnen und sich regen will, ist dem alten Gemeinwesen zugewachsen, namenlos und ohne Maß; Zustrom, magnetisch hergelockt aus den Dörfern, den Bischofsstädten und Kleinresidenzen der Rhön und des Maintales, aus den Landschaften des Westerwaldes, der Pfalz und der Bergstraße bis an die unsichtbare Einflussgrenze des spät gegründeten Mannheim. Die ins Gefäß der Stadt geschüttete Masse beginnt sich aufzuschichten. Zehntausende von Tagelöhnern, Arbeitern, kleinen Beamten und Geschäftsleuten bilden den neuen Boden mit ihren katholischen, sozialistischen, sportlichen Missionierungen, Vereinen und Parteien; die Massenquartiere, Arbeiterkolonien, Trambahnen, Schulen, Fabriken, Krankenhäuser schnüren um die empfindliche Bürgerstadt den breiten proletarischen Gürtel und durchsetzen ihre Arbeitsstätten und das Leben der Straßen mit einem scharfen Nachwuchs; an den Sonntagen brandet aus den Bahnhöfen die breite Menschenwelle durchs Gebüsch der Taunuswälder und zersplittert Glas und Stöcke an den Felsdenkmälern dieser Höhen. Der von Durchbrüchen zerrissene Kern der Stadt widerhallt von den farblosen Zittergeräuschen der Karren. Die einfachen, sehr breiten Fronten der alten Bürgerhäuser, deren Giebel schwer und schmucklos überhangen, stehen bis zur halben Höhe in der Brandung der Reklamen, die oberen Stockwerke scheinen in der Luft zu schweben, die unteren sind Glasscheiben der Abzahlungsgeschäfte, der Fischhandlungen, Bierwirtschaften und Kinos geworden, ein Sieb der stark hinströmenden Menge. Die verstümmelten Gassen verbergen in ihrem Halbdunkel die mittelalterlichen Pilgerhöfe, Zunftstuben und Stapelhäuser, die breiten Torfahrten, die von armseligen Mietsparteien zu Ende gewohnten Paläste der Stadtgeschlechter, die zu Speichern und Turnhallen gewordenen Kirchen der ältesten Parochien — dunkle Kreuzgewölbe der entschwundenen Predigerorden, Skapulierbruderschaften und Barmherzigen Frauen, Wände, deren goldstrahlende Bilder notdürftig in die Totenkammern der Museen gerettet sind, abgeschliffene Platten des Bodens, unter denen die Stadtherren modern. Das Ghetto von Köln, von Speyer und von Basel ist längst vergessen, von dem Frankfurter lebt freiwillig ein Nachhall in den Straßen des Ostendes und des Fischerfeldes, noch dringen hier aus den geöffneten Fenstern die Stimmen, die an die Schulen von Kairo erinnern; diese Kleinbürgerstraßen, diese klassizistischen Fronten mit den armseligen Lesestuben, den runden Torgängen und dem Geruch der Weinkeller bieten am Samstag mit ihren geputzten Kindern, schrägen Zylinderhüten und Schläfenlocken den alten kultischen Kontrast zu der werktäglichen Stadt.

Die Zeil war eine der nobelsten und großartigsten Stadtstraßen des älteren Deutschland; ein Jahrzehnt genügte, um sie zu zerstören. Es ist, als seien die Bauten der Barockzeit, in denen sich die Stadt einmal zu erneuern strebte, am stärksten überrannt worden; der schöne Palast von Thurn und Taxis ist in das krasse Steinwerk der Reichspost eingemauert, der Peterskirchhof geräumt, die Senckenbergische Anatomie verwüstet, auf dem Gartenboden dieser Stiftung steht, was der Wortlaut der Stiftungsurkunde am bestimmtesten verbot, ein Operettentheater, man glaubte das dem Ansehen einer werdenden Universitätsstadt schuldig zu sein. Man wird vielleicht den Verfall des Deutschordenshauses am Sachsenhäuser Ufer, dieses prächtigen Bauwerks, dem der Eintritt der französischen Waffen, der Rückzug Österreichs aus der deutschen Geschichte zum Schicksal wurde, zum Stillstand bringen. Aber die berühmte Mainbrücke ist verschwunden, unersetzliches Beispiel einer strengen hüttenmeisterlichen Baukunst, man hat sie abgebrochen, noch ehe von dem Verkehr des Donaukanals, von den neuen Schiffsgrößen das geringste zu sehen war. Über das Pflaster des Mainufers, das einst die langgezogenen Inseln, die fliederbeschatteten Reste der Stadtmauer ins Ländliche führten, ist der Strich des Güterbahngeleises gezogen; ist es nichts mit dem Plan, durch Säulenreihen und Terrassen das Leben der Stadt an den Fluss zurückzulenken? Die Kraft und Planung der Stadt hat sich eine Zeitlang von allem Alten fortgewendet in den Bau der Industrieviertel, der Eisenbahndämme, der Großhandelsstraßen mit ihren Dreadnoughtfassaden, der Direktionspaläste mit ihren überhoch ummauerten Höfen, die auf künftige Bürgerkriege deuten, der scharf geschnittenen steinernen Hafenbecken, der weither geführten Wasserleitungen mit ihren ferngelegenen und dem Blick entzogenen Teichen; die alten Warttürme dienen als Lüftungsschächte für den Dunst der unterirdischen Kanäle. Auf der erhöhten Landstraße, die gestampfter Schutt ist, jagt ein schwarzes Automobil stadtwärts; drinnen sitzt einsam wie in einer Klosterzelle ein weißbärtiger Herr; er erscheint wie ein höheres Wesen durch die fliegende Beförderungsart, die hinter der Glasscheibe das kluge Greisengesicht wie eine Vision davonführt. Kein Klagelied, doch so war es; vieles von den Zerstörungen war notwendig, anderes nicht. Wo aber sind die Hände, die stark sind, doch auch mild sein können? Irgendwo, im Rausch des Lebensgefühles, glänzte ein schimärisches Ziel. Vielleicht, an den Regentagen, blickte einer durchs Fenster auf die nasse Straße hinunter, den Fuß auf den Stuhl gestellt, die Zigarre im Munde, Falten im Gesicht.


Vieles hat der Umbau, hat die Schaffung neuer Räume im Stadtbild und die Füllung alter Raumfreiheiten in der Stadt verändert, Straßenzüge haben sich gespalten, andere sind zusammengeflossen, in die Masse der Dächer fügten sich längst die kleinen Nachbarorte. Aber die Gebirgslinie in der Ferne ist Beruhigung wie immer, und die Altstadt am Fluss ist noch heute das Entzücken der Künstler, die von ihrer Werkstatt oder aus der Traumwelt des Stadels kommen und über die Brücke spazieren. Ein wenig zur Seite gerückt in der Front des Mainbildes ragt der Turm mit der sanft im Geäst sich schließenden Kapsel und der Spitze, eindrucksvolles und merkwürdiges Bauwerk, Höhe ohne Starrheit und Verarmen. Für den Reisenden, der im Schnellzug nach durchfahrener Nacht den Mantel knöpft, ist dieser stolze Wipfel des Pfarrturmes über den Rotsandsteinecken und den Fensterreihen der Häuser am Mainufer noch immer, wie für die Kaiser, die hierher kamen, um sich krönen zu lassen, das Sinnbild der Begegnung Süddeutschlands mit dem deutschen Norden, großes Sinnbild einer Vermählung von Geist und Seele.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Frankfurt - Ein anachronistisches Bild