Frankfurt - Ein anachronistisches Bild

FRANKFURT AM MAIN
Autor: Paquet, Alfons (1881-1944), Erscheinungsjahr: 1900
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I. Der Umriss dieser Stadt ist gedrungen, weithin wirkend, in Luft und Wasser prächtig abgesetzt. Seit fünf Jahrhunderten ist Frankfurt unter den Städten Deutschlands an Umfang immer die siebente gewesen, zugleich aber auch in diesem Rang die beständigste im Unbestand und Wechsel der andern. Ist sie die heimliche Hauptstadt Deutschlands, seine Mitte im philosophischen Sinn, goldne Ader Mediocritas im politischen Glück und Unglück? Diese Stadt war, was sie als Verkehrsstadt heute ist, schon vor einem Jahrtausend; sie ist, in sichtbaren und unsichtbaren Dingen, unter den motivierten Städten Europas eine der motiviertesten. Es gibt ein anderes Frankfurt im Osten Deutschlands, es gibt in den Vereinigten Staaten sechs Städte, die den Namen Frankfurt angenommen haben, keine ist so lebendig, so Gleichgewicht, Gestalt und Weltbeziehung wie die mütterliche Stadt an dem glänzenden Weg zwischen den beiden europäischen Hauptströmen.

Hier scheint bewiesen, was für den Erdkreis eine einzige gut gelegene Stadt bedeutet. Ihr Wesen ist in alles Dunkle eingewurzelt, aber auch verklärt von dem Ruhme, unter den Menschen einen hervorgebracht zu haben, der dem Belohner unter den Göttern am ähnlichsten ist. Die von Jupiter begünstigte Stadt zählt zu ihren Attributen Reichstage, Kaiserkrönungen, große Aufzüge und Handelsgeschäfte. Ihre alten Gassen bewahren die Erinnerung an den Marktfrieden, an gesicherten Besitz. Ihre Herkunft ist die Wahl und Ordnung des Flussüberganges an dem einst vielzerrissenen, mit Quellen, Inseln und Sümpfen verflochtenen Gewässer; Fischerdorf, Herrenhof und Ghetto, die sich aneinander lehnten, landesherrliches Sesshaftwerden, Verpflanzungspolitik der Karolinger, städtebildende Funktion des Christentums, das aus der Mitte des salischen Besitzes die Kirche ausschied und an der Stelle des Baumheiligtums den Dom erbaute. Männer, in Geschäften groß geworden und bereit, Umfassenderes zu versuchen, haben zum Namen des Gemeinwesens das ihrige beigetragen; andere, in fremden Diensten, in weltumarmenden Abenteuern, das Heimatliche, das von hier war, nie verleugnet. Es gab nicht nur die eine Goethesche Natur und unter den Gelehrten des Geldes nicht nur die Rothschilds, die Frankfurt hervorzubringen, wenn auch nicht zu fesseln vermochte. Dafür wusste die Stadt auch manchen jener nordischeren, Schopenhauer ähnlichen Anachoreten an sich zu binden, sie bot gute Wohnung an dem sonnigen Ufer, gute Table d’hote, gute Bibliotheken, lohnende Ausflüge, gute Verwaltung des weltkundig angelegten Vermögens. Man vergisst auch jenseits des Meeres nicht die Stadt, die Abraham Lincoln und die Unabhängigkeit der Nordstaaten finanzierte. Verheißende Legende, die anknüpft bei der klugen Gastlichkeit dieser Stadt für die aus England, aus den Niederlanden und Italien Vertriebenen des sechzehnten Jahrhunderts; weiter wirkende Beziehung der am Mainufer im alten Saalhof gegründeten amerikanischen Landkompagnie nach England und Pennsylvanien; Abfertigung nach Holland, nach Wien, Prag und Polen, die aus aller Welt Erwiderungen brachte. Die erste auf amerikanischem Boden in deutscher Sprache gedruckte Bibel zeigt die starke und statuarische Egenolff-Fraktur, die ein Geschenk aus Frankfurt an den deutschen Siedler und Drucker Sauer in Germantown war. Von den Büchern, die seit Peter Schöffer unzählig in Frankfurt gedruckt und gebunden wurden, gingen viele über die Landstraßen Europas nach allen Richtungen der Windrose. Das großartige Drucker- und Buchhändlerwesen der Stadt ist vergangen, aber die Schriftgießereien blühen noch, die europäische Presse bis in den spanischen und russischen Sprachbereich hinein druckt ihre Zeitungsseiten täglich mit den hier gegossenen Lettern. In den Leistungen der Gewerbe war Glanz und Reichtum. Eine satte Tradition wirkte aus diesen Handwerkergassen bis in die königliche Tischlerkunst des französischen Rokoko hinüber. Noch sind die alten Meisterstücke zu sehen, Frankfurter Schränke von einer schweren Herrlichkeit der Architektur, des Holzes und der Einlagen; die blassweißen, blauweißen Frankfurter Fayencen stehen prächtig zwischen denen der Manufakturen von Höchst und Hanau, von Flörsheim, Offenbach und Aschaffenburg, hier vermählen sich unbefangen die über Holland hergetragenen Formen Chinas mit denen des deutschen Steinguts. Das gröbere Frankfurter Hafnergeschirr mit seinem farbigen Bildwerk auf einem frohen und reinen Goldbraun vergleicht sich gut mit dem schwarzglänzenden von Marburg, dem grauen vom Westerwald und dem grünen rheinischen der Kölner Gegend.

Daß von alledem so wenig übrig ist! Deutschland hat Schlimmes hinter sich. Zuletzt schuf ein halbes Jahrhundert diese gleichförmigen und unverschiedenen Großstädte. Aus den Jahrzehnten der Nivellierung, aus der Loslösung der europäischen Staaten gegeneinander trägt Frankfurt seine Wunden offen. Auch der Augenblick, der den Main von Schiffen verlassen zeigte, ließ uns nicht vergessen, daß einst die Ufer hier zwischen Osthafen und Westhafen von Marktschiffen, von Straßburger und Baseler Handelsbooten wimmelten, und daß das die große Seitenstraße des Rheines ist, die schon beinahe ein Stück Donau darstellt, einen Wegweiser in den östlichen Raum.

Im Bereich des Rheines, des begehrtesten unter den Strömen, des von der Natur am gleichmäßigsten konstruierten und am stärksten benutzten Stromes der Erde, liegt Frankfurt als das drittgrößte jener überprovinzialen Stadtgebilde, die in Deutschland einer eigenen Wirtschaftsgemeinde vorstehen, als der Kern einer Industrielandschaft, die sich von Gustavsburg bis Hanau erstreckt, und doch zugleich auch an jener Straße, die einst Dürer nach den Niederlanden fuhr. Dieses Gustavsburg erinnert an die Pläne des Schwedenkönigs, der den Main zur Stütze eines Reiches zu machen gedachte; jenes Hanau entstand als ein kleines Genf, wie Frankfurt, das der Emigration einen großen Teil seiner Blüte verdankte. Die Landschaft hier ist von dem sanftesten Deutsch; die Künstler des älteren Frankfurt malten die alten Mainstädte und ihre Winkel, die Apfelweinwirtschaften, das buntbeflaggte Leben auf dem Fluss bei den Bundesfesten; einige, wie Peter Becker, malten in einer oberfränkischen, genauen Manier, andere, wie Radi, Schütz und Malß, fast niederländisch; dieses Sinnlich-Behagliche verdrängten eine Zeitlang die Nazarener, die nach Frankfurt kamen, wie von der Witterung für den historischen Hauch des Reichsortes angezogen. Der revolutionäre Courbet fand das Brückenbild der Pariser Seine an den Mainufern wieder, der Realismus Thomas, die Kühnheit Trübners, die religiöse Zartheit Steinhausens, die ausgezeichnete Handwerklichkeit der Cronberger versprach eine glückliche Fortsetzung und Zusammenfassung der Traditionen, schließlich galt auch Stadels bürgerliche Stiftung diesem Gedanken, aber ihr Gebäude füllte sich mit den Sammlungen, deren Kostbarkeit den Lebenden oft den Mut entzog; die Werkstätten im Garten, hinter dem Museumshaus verborgen, blieben einsam, die Aufmerksamkeit der Stadt war mehr auf den alexandrinischen Glanz gerichtet. Genug, daß trotzdem in Frankfurt ein paar Werke der neueren Malerei entstanden, die dieser Landschaft ebenso angehören wie die der Kunstgeschichte. Thoma, von Italien heimgekehrt, malte hinter dem Goldlackstrauß seines Fensters an der Lersnerstraße die Holzhausensche Oed, schmales Wasserschloss im Park, der den Namen des letzten Frankfurter Patriziergeschlechtes trägt. Aus Steinhausens Bockenheimer Garten wanderten abends Kinder und Künstlerbesuch mit Papierlaternen nach Hause. Max Beckmann zeichnet jetzt die Dächer, das Brückengestänge, die Physiognomien des Mainufers mit den Strichen einer bebenden, schmerzhaften Raumzerlegung. Die jüngste Gruppe, mit dem Bund der Altstadtfreunde in der Flanke, fasst sich ein Herz, die Stadt aufs neue zu erobern, ihre alten Gassen wie Spielzeug anzumalen, ihre Menschen mit Trompetenstößen der Farbe aufzuwecken. Die Entdeckung dieser Stadt gilt einer unerschöpflichen Linie. Die Ebene zwischen Main und Taunus, besetzt wie ein Schachbrett mit Aeckern und Weinbergen, mit alten Dörfern, Gehöften und neuen Fabriken, ist wie ein Meer mit seinen Schiffen und seinen großen Wasserwellen.