Flucht vor einem Tornado in einem Sturmkeller

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1903
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wetter, Klima, Natur, Umwelt, Sturm, Tornado, Naturgewalten
Nur verhältnismäßig selten haben die Bewohner des europäischen Kontinents unter verderbenbringenden Stürmen zu leiden. Aber auch schon in der Schweiz und in Italien hat man den Föhn und den Schirokko fürchten gelernt. In der Entstehung der Winde und ihrer auf ungleichmäßiger Erwärmung und Abkühlung von Luftschichten beruhender Entwicklung zu Stürmen ist es begründet, dass diese Stürme in Ländern mit höheren Temperaturen, ausgedehnten Ebenen und Wasserflächen (von den Stürmen auf hoher See abgesehen) eine bedeutend größere Macht entfalten und oft zu verheerenden Naturerscheinungen anwachsen.

********************************************************+
Zu den gefährlichsten Stürmen gehören, nur von den gefürchteten Zyklonen der Tropen an Gewalt und Ausdehnung übertroffen, die Tornados, die besonders den Farmern des Streifens östlich vom Mississippi, längs des Ohio, an den nordamerikanischen großen Seen vorüber bis an die Küste des Atlantischen Ozeans gefährlich werden. Mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 100 Kilometer in der Stunde wüten sie zu allen Jahreszeiten, namentlich aber in den Monaten April bis Juli, in einer Bahn von 60 bis 2.400 Meter Breite alles vernichtend. Es sind Wirbelstürme, und die saugende, zerstörende, explosionsartige Wirkung dieser ungeheuren Luftsäulen ist geradezu furchtbar. Sind Haus und Hof, Plantagen und Herden der Farmer rettungslos den Tornados preisgegeben, so haben die Menschen selbst wenigstens Fürsorge getroffen, ihr Leben in Sicherheit bringen zu können. In unmittelbarer Nähe jeder Farm, dicht am Hause, ist ein Sturmkeller ausgebaut, in den mehrere Stufen hinabführen. Eine Falltür, die dem Tornado keinerlei Angriffspunkte bietet, verschließt den Zufluchtsort leicht und schnell.

Natürlich kennen die Farmer mit einiger Sicherheit die Anzeichen des nahenden Unheils. Auch die Rinder und Pferde wittern den Tornado und suchen in angstvoller Flucht aus seinem Bereich zu kommen. Die flüchtig daherstürmende Herde gilt dem Farmer als letzte dringende Warnung, und schnell birgt er Weib und Kind und schließlich sich selbst in dem Sturmkeller. Wohl vergehen dann bange Minuten, oft verzweiflungsvolle halbe Stunden, bis der Wirbelsturm vorübergebraust ist, und die Menschen ihren Zufluchtsort wieder verlassen können, aber das Leben ist doch gerettet. Freilich, die Arbeit ihrer fleißigen Hände finden die Leute oft genug vernichtet, die Heroen tot oder versprengt, und es bedarf vielleicht der Mühe von Jahren, um den Schaden wiedergutzumachen.

Flucht vor einem Tornado

Flucht vor einem Tornado