Feuerbach „Das Wesen des Christentums - Strauß „Die christliche Glaubenslehre ..

Rezension
Autor: Biedermann, Karl (1812-1901) deutscher Politiker, Publizist und Professor für Philosophie, Erscheinungsjahr: 1842
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Religion, Christentum, Glaubenslehre, moderne Wissenschaft und Glaube, Vernunft, Hoffnung
Aus: Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben. Erster Band. 1842. Januar bis Juni. Herausgegeben von Karl Biedermann (1812-1901) deutscher Politiker, Publizist und Professor für Philosophie.

Ludwig Feuerbach: „Das Wesen des Christentums.“ Leipzig, Otto Wigand 1841. III und 450 S. 8.
David Friedrich Strauß: „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft.“ Tübingen bei Osiander und Stuttgart bei Köhler. Erster Band, 1840. XVI u. 717 S. 8. Zweiter Band, 1841. VIII u. 729 S. 8.

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Dass die moderne Wissenschaft mit dem Glauben im Kampfe begriffen sei, dass das Wesen des Christentums von der spekulierenden Vernunft angetastet und mehr und mehr aufgelöst werde, darüber konnte sich schon lange kein Unbefangener mehr täuschen. Wie sehr man auch die Entscheidung hinauszuschieben suchte, wie viel Kunst auch von beiden Seiten aufgewendet ward, um den zwischen dem Glauben und dem Wissen, zwischen der Religion und der Philosophie entstandenen Riss zu verdecken, so konnte man doch das Geschehene nicht ungeschehen machen, und die scheinbare Versöhnung der beiden Gegensätze, wie sie einzelne Persönlichkeiten oder einzelne Schulen vollbracht zu haben glaubten, war Nichts als eine Selbsttäuschung und ward als solche häufig genug von den beteiligten Individuen selbst, wo nicht, doch sicherlich von der philosophischen Kritik erkannt und aufgegeben.

Dennoch wollte man sich nicht gestehen, dass dem so sei; vielmehr suchte man durch immer neue Wendungen einer offenen Erklärung über das Verhältnis, des Zeitgeistes zu dem wesentlichen Inhalte des Christentums auszuweichen und die zwischen dem Glauben und dem Denken eingetretenen Verwicklungen durch allerhand Vermittlungsversuche zu lösen, die freilich selbst immer verwickelter wurden.

Selbst das „Leben Jesu“ von Strauß, so entschieden es auch aus dem Kreise dessen heraustrat, was man bisher als christliche Anschauung betrachtet hatte, vermochte doch das Bewusstsein der absoluten Unvereinbarkeit des Glaubens und der modernen Wissenschaft noch nicht vollständig zu begründen. Ein Hauptgrund hiervon war freilich die nicht ganz konsequente Haltung des Verfassers in den auf jene Veröffentlichung folgenden Streitigkeiten. Hier wurden der Glaubensansicht manche nicht unwichtige Zugeständnisse gemacht, und durch die mehr geistreichen als wahren Unterscheidungen zwischen einem bleibenden und einem vergänglichen Momente im Christentume, zwischen einer gewissen Göttlichkeit oder Absolutheit Christi und einer gewissen Gleichstellung desselben mit andern ausgezeichneten Männern der Geschichte, hierdurch, sagen wir, schien Strauß selbst sich auf einen vermittelnden Standpunkt stellen zu wollen, welcher ihm eben sowohl nach der Seite des kirchlichen Dogmas, als nach der Seite des wissenschaftlichen Fortschritts hin einen Weg offen ließ.

Feuerbach hatte sich allerdings schon in seinen früheren Schriften, besonders in der Schrift: „Philosophie und Christentum“ auf eine unzweideutige Weise über die gänzliche Ungleichartigkeit der christlichen und der spekulativen Weltanschauung erklärt und alle Vermittlungsversuche aufs Strengste abgewiesen. Auch schloss sich eine jüngere Partei der Hegelschen Schule ihm an und erhob die völlige Auflösung alles historischen und positiven Glaubensinhaltes zum Symbol der modernen Philosophie und Kritik. Doch blieben diese Angriffe auf das Christentum immer noch vereinzelt und machten auf das größere theologische und philosophische Publikum keinen entscheidenden Eindruck. Im Gegenteil gaben sich Viele der Hoffnung hin, die durch jene kritischen Angriffe hervorgerufene gründlichere Erörterung der Fragen des Christentums werde den Glauben an dasselbe auch wissenschaftlich wieder fester begründen und die Überzeugung allgemeiner machen, dass der eigentliche Kern der Dogmen doch durch keine von allen jenen Anfechtungen berührt worden sei.

Diese Hoffnung wird nun allerdings durch die neuesten Schriften von Feuerbach und Strauß, ganz besonders aber durch das Werk des Letzteren, einen empfindlichen Stoß erleiden. Nicht allein kann es nach diesem Werke nicht mehr zweifelhaft sein, dass Strauß die Sache des historischen Christentums als verloren und dieses selbst als in völliger Auflösung begriffen ansieht; sondern seine, rein objektiv und geschichtlich gehaltene Darstellung erhebt es auch zur unwiderlegbaren Gewissheit, dass er hiermit nicht bloß eine subjektive Ansicht, dass er vielmehr eine wirkliche und unleugbare Tatsache ausspricht. Wie schon in seinem früheren Werke, so erscheint Strauß auch hier mit einem starken Rüstzeug gründlicher Kenntnisse und gelehrter Forschungen auf dem Kampfplatze; nur sind seine Waffen diesmal noch schärfer und unwiderstehlicher, weil er sie nicht aus der Rüstkammer der Kritik oder der Exegese, sondern der Geschichte genommen hat. Exegetische Beweisführungen lassen immer noch die Möglichkeit eines Gegenbeweises, einer verschiedenartigen Auffassung desselben Ausspruchs, derselben Schriftstelle zu; historische Tatsachen, wenn ihre Darstellung als wahrheitstreu anerkannt werden muss, sprechen so klar und entschieden, dass gegen sie nicht wohl ein Widerspruch stattfinden kann.

Strauß weist nach, wie die christliche Lehre zuerst als einfachgläubige Vorstellung, unter dem persönlichen Einflusse ihres Stifters und der von ihm vertretenen Zeitideen, entstand; wie sie, durch das Bedürfnis wissenschaftlicher Feststellung und Abrundung, sich zum kirchlichen. Dogma ausbildete; wie aber dann weiterhin das Gefühl der darin verborgenen Widersprüche und das überhandnehmende Gewicht andrer Interessen und Ansichten zunächst zu mannigfachen Vermittlungsversuchen, endlich aber zu einer völligen Auflösung der christlichen Dogmen und zu einer Umgestaltung ihres Inhaltes in spekulative Begriffe geführt hat.

So sehr nun bei dieser geschichtlichen Darstellung die Bewegung der christlichen Ideen das Ansehen einer stetig fortlaufenden, von einer inneren Notwendigkeit getragenen Entwicklung erhält, so sehr es auch scheint, als wäre selbst die letzte Umgestaltung der christlichen Dogmen keine eigentliche Auflösung, sondern nur eine tiefere Begründung, eine richtigere Auffassung derselben vom höheren, philosophischen Standpunkte aus, so kann man sich doch darüber nicht wohl täuschen und Strauß selbst spricht es an mehreren Stellen unverhohlen aus, dass mit der Annahme der Endresultate des wissenschaftlichen Umbildungsprozesses, welchen die Lehren des Christentums erfahren haben, nicht bloß der ursprüngliche, von dem Stifter selbst in sie gelegte, sondern auch der wesentliche Inhalt dieser Lehren, der einzige, der sie zu christlichen, zu religiösen Lehren macht, daraus verschwinde, und uns Nichts übrig bleibe, als die Begriffe und Sätze eines philosophischen Systems.

Was uns Strauß auf diese Weise als eine geschichtliche Tatsache und, so zu sagen, als eine geschichtliche Notwendigkeit kennen lehrt, das deduziert uns Feuerbach aus psychologischem oder anthropologischem Gesichtspunkte ebenfalls als etwas Unumgängliches und Unabweisbares, nämlich das gänzliche Aufgeben nicht nur der christlichen, sondern überhaupt der religiösen Anschauungsweise. Nach Feuerbach sind alle Religionen, und folglich auch die christliche, nie etwas Anderes gewesen, als das Produkt oder der Reflex gewisser psychologischer oder, richtiger gesagt, pathologischer Zustände im Menschen, und das Aufgeben der Religion ist nichts Weiteres, als das Aufgeben einer selbstgeschaffenen Illusion, die Rückkehr zur natürlichen und verständigen Anschauung und Behandlung der Dinge. Die Religion, sagt Feuerbach, ist etwas rein Menschliches, das Wesen der Religion ist das Wesen des Menschen, insofern nämlich, als der Inhalt der religiösen Vorstellungen allerdings aus dem menschlichen Bewusstsein entnommen ist und einen wesentlichen Teil des Gesamtinhaltes dieses Bewusstseins bildet. Und wie sollte es auch anders sein? Woher sonst könnte der Mensch jene Vorstellungen genommen haben, als daher, woher er alle seine Gedanken nimmt, aus seinem Bewusstsein? Allein dasjenige, was diese Vorstellungen zu religiösen, was den Gegenstand derselben zu einem Gegenstande der Anbetung, der heiligen Scheu, der Selbstentsagung für den Menschen macht, das ist etwas Unnatürliches, Unvernünftiges und Verkehrtes. Indem wir daher die Lehren der Religion vom Standpunkte der Vernunft, vom anthropologischen Standpunkte aus auffassen, entkleiden wir sie des falschen Nimbus, welchen der vernunftlose Glaube um sie her breitet, setzen wir sie zu einfachen Bewusstseinswahrheiten herab, aber auch in dasjenige Recht wieder ein, welches sie als solche ansprechen dürfen.

Was also Strauß und Feuerbach gleichermaßen behaupten, ist dies, dass der Inhalt der religiösen Glaubenslehren in der Weise, wie er von den heiligen Schriften und der Kirche dargestellt und ausgelegt wird, nicht ferner Bestand haben könne; dass eine aufgeklärtere, umfassendere Weltanschauung, dergleichen unsre gegenwärtige ist, auch diejenigen Verhältnisse, mit deren Feststellung die Religion sich beschäftigt, ganz anders auffassen müsse, als diese es tut; Mit einem Worte also, dass unsre moderne Wissenschaft, unsre moderne Bildung, unsere moderne Lebenspraxis das Prinzip des Christentums nicht mehr als ihr leitendes Prinzip anerkennen dürft. Wenn Strauß den Übergang aus jener christlichen in diese moderne Lebensanschauung als einen durch eine Menge von Zwischenstufen vermittelten, als eine Art allmählicher oder stetiger Entwicklung darzustellen bemüht ist, wenn Feuerbach dagegen ihn geradezu für ein Abbrechen, für einen schroffen und unausgleichbaren Widerspruch erklärt, so ist dies zwar wichtig in Bezug auf den wissenschaftlichen Wert und Charakter der beiden Werke, in der Sache selbst jedoch von durchaus keiner wesentlichen Bedeutung, indem das eigentliche, letzte Resultat der einen wie der andern Auffassung in der Tat das gleiche ist, nämlich die Anerkennung eines spezifischen Gegensatzes zwischen den positiven Lehren des Christentums und den Ideen der modernen Wissenschaft und des modernen Lebens.

Die Wissenschaft musste mit einem solchen negativen Resultate enden; und wer diese Notwendigkeit nicht einsieht, wer den einzelnen Philosophen für eine Richtung verantwortlich macht, welche das unvermeidliche Ergebnis des Philosophierens selbst, und zwar des gründlichsten und konsequentesten Philosophierens ist, der hat das Wesen und die Wirkungen der Spekulation noch nicht erkannt. Eine Ungerechtigkeit ist es daher, wenn man den Einzelnen anklagt, weil er offen und wahrheilstreu genug ist, das zu bekennen, was alle diejenigen, welche den gleichen Weg, den Weg einer spekulativen Behandlung religiöser Fragen, betreten haben, ebenfalls bekennen müssten, wenn sie nicht entweder aus klugen Rücksichten ihre wahre Meinung verschwiegen oder aus Kurzsichtigkeit und Unklarheit des Denkens sich selbst darüber täuschten. Eine unbegreifliche Verblendung aber ist es, wenn diese Letzteren selbst meinen, vom wissenschaftlichen Standpunkte aus, mit den eignen Waffen der Spekulation jene auflösenden Richtungen bekämpfen und die Theologie von dem Abgrunde des vollständigsten Skeptizismus, dem sie in beschleunigter Progression entgegeneilt, zurückhalten zu können. Hierüber sind, nach unsrer Ansicht, mindestens seit dem Erscheinen des Straußischen Werkes die Akten geschlossen, und wer bis dahin noch zweifelhaft sein konnte, ob die rasch und glänzende Entwicklung der spekulativen Theologie für die christliche Glaubenslehre selbst ein Vorteil oder ein Nachteil gewesen sei, der muss sich jetzt endlich überzeugen, dass schon der erste Schritt aus dem bloßen Glauben in die Wissenschaft vom Glauben, diesen Letztern zu einem abhängigen, wesenlosen, wandelbaren Elemente herabgesetzt hat, und dass die ganze Entwicklungsreihe philosophischer und theologischer Systeme nichts Weitres ist, als das stückweise Auflösen und Zerstören der Substanz der Religion durch das in dieselbe eingetretene Scheidewasser des Zweifels.

Allein auf diesem Gipfelpunkte ihrer Vollendung, wo alle Schranken vor ihrem kühnen Anlaufe gefallen sind, lernen wir zugleich die Wissenschaft in ihrer Ohnmacht kennen.

So lange sie negierend, auflösend, bekämpfend verfährt, blendet uns der Glanz ihres dialektischen Rüstzeugs, besticht uns die gewandte und scheinbar freie Bewegung ihrer Ideen; sobald sie aber wieder aufbauen, sobald sie positive Resultate geben soll, täuscht sie unsre Erwartungen, werden ihre Begriffe unklar, ihre Anschauungen befangen und einseitig. Lassen wir einmal die kunstreiche Dialektik in den beiden angeführten Werken bei Seite, fragen wir, welches denn das positive Resultat des einen oder des andern sei, d. h, was sie uns über das Wesen und die Bestimmung des Menschen und der Gesellschaft lehren; welche Antwort werden wir auf diese Frage erhalten?

Hören wir zuerst Strauß. Er setzt an die Stelle der Gefühle und Vorstellungen, durch welche der religiöse Mensch sein Verhältnis zu einem höheren Wesen auffasst, die Begriffe, in denen der Philosoph die Natur des Menschen und die Bestimmung der Welt erkennt, Begriffe, welche, nach Straußs Versicherung, dem Philosophen dieselbe Befriedigung gewähren, welche der Religiöse in seinen Gefühlsregungen findet, von denen es aber freilich ungewiss ist, ob sie jemals Gemeingut aller Teile der menschlichen Gesellschaft werden können, oder ob sie nicht vielmehr immer Monopol einer „Gemeinde der Wissenden“ bleiben müssen. Er will den Wunderglauben durch die verständige Naturforschung, die teils asketische, teils auf dem bloßen Glauben an das Verdienst und die Gnade Christi beruhende Moral des Christentums durch eine Moral ersetzt wissen, welche die natürlichen Bedingungen des menschlichen Handelns und die natürlichen Verhältnisse der menschlichen Gesellschaft zur Grundlage habe, zufolge welcher die sittliche Schuld nicht als ein unsrem Geschlechte überkommener Fluch, sondern als eine, durch mancherlei zusammenwirkende Umstände bedingte Verbildung der ursprünglich ebenso zum Guten wie zum Bösen befähigten menschlichen Natur, die Besserung nicht als eine plötzliche, wundertätige Umwandlung des Menschen durch einen fremden Machteinfluss, sondern als die gleichfalls durch natürliche Bedingungen und Mittel zu bewirkende allmähliche Rückbildung des verbildeten Willens, angesehen werden müsse. Er hält die religiöse Gemeinschaft der Menschen, die Kirche, für eine unvollkommene und nur vorläufige Form der Gesellschaft, und spricht die Ansicht aus, dass, auf der gegenwärtigen Bildungsstufe der Menschheit, die Kirche entbehrlich gemacht werde durch den Staat, als die vollkommne, organische Vereinigung und Gliederung aller menschlichen Kräfte und Interessen.

Feuerbach stimmt im Wesentlichen mit Strauß überein; nur legt er noch mehr Gewicht, als dieser, auf die selbstständige Ausbildung der sittlichen und rechtlichen Verhältnisse der Menschen und auf deren gänzliche Emanzipation von den Glaubenslehren der Religion und der Autorität der Kirche; auch fasst er mehr das Individuum, mit seinen natürlichen Interessen und seiner natürlichen Freiheit, ins Auge, als die organische Einheit des Staats oder gar der ganzen Weltordnung.

Dies wäre denn also das positive Resultat jener Spekulationen über die Religion; dies wäre es, was wir gewonnen hätten dafür, dass wir uns durch alle Qualen des Zweifels, durch alle Irrgänge der Dialektik hindurch gearbeitet haben. Aber haben wir denn wirklich dadurch Etwas gewonnen? Empfangen wir wirklich aus den Händen der Wissenschaft ein Besitztum, welches denen entgeht, die diesen Weg her Theorie, der spekulativen Betrachtung der Dinge nicht gingen? Wir müssen dies bezweifeln. Die Wissenschaft lehrt uns, statt auf Wunder und Offenbarungen zu harren, die Natur befragen und ihre Kräfte unsern Zwecken dienstbar machen; aber hat die Naturforschung und die Industrie gewartet, bis die Philosophie ihr die Erlaubnis gab, das durch eigne Kraft und Geschicklichkeit zuwege zu bringen, wozu man früher der unmittelbaren Mitwirkung einer höheren Macht zu bedürfen glaubte? Oder hat nicht vielmehr der unwiderstehlich hervorbrechende Trieb nach empirischem Wissen und nach praktischer Gewerbtätigkeit den ersten Anstoß zum freieren Forschen gegeben und den ersten Widerstand gegen die beschränkende Autorität des kirchlichen Dogmas erregt? Gesteht doch Strauß selbst ein, dass „die mannigfachen Einwirkungen der Physik, Geographie, Astronomie u. s. w. es waren, welche die biblischen und kirchlichen Vorstellungen von Himmel und Erde, Gott und Schöpfung nach und nach in die Gestalt gebracht haben, in welcher sie im philosophisch gebildeten Bewusstsein unsrer Zeit vorhanden sind.“ Und ist es wohl anders mit den moralischen, rechtlichen und sozialen Resultaten der Kritik? Die soziale Moral und das soziale Recht, Beide auf den natürlichen Interessen, auf den sinnlichen Bedingungen des menschlichen Daseins und des Zusammenlebens der Menschen beruhend, Beide darauf gerichtet, dies Zusammenleben durch natürliche Gesetze, Sitten, Einrichtungen zu regeln, ohne jene ausschließliche Beziehung auf göttliche Gebote, auf himmlischen Lohn und auf Höllenstrafen, wie sie dem theokratischen Charakter der frühem Kirche eigen war, diese Gestaltungen des selbst, ständigen und selbstbewussten sozialen und öffentlichen Geistes, sind sie aus den Systemen der Philosophen hervorgegangen, oder waren sie das notwendige Ergebnis des neuerwachten öffentlichen Lebens, der neuerwachten politischen Freiheit in den Völkern? Hätte wohl Hugo Grotius die Kühnheit gehabt, die Möglichkeit eines sozialen Rechts auf der Grundlage bloß vernünftiger, d. h. in der Natur des Menschen gelegener Prinzipien, zu behaupten, wenn nicht die vorangegangenen Freiheitskämpfe der Nation, welcher er angehörte, das Dasein einer natürlichen Freiheit und eines natürlichen Triebes nach rechtlichen Verhältnissen tatsächlich erwiesen hätten? Und wäre wohl die Reformation selbst, die Wiege der freien Kritik und Spekulation, auf rein spekulativem Wege, ohne den Einfluss praktischer Bedürfnisse und ohne den Aufschwung der politischen Interessen ins Leben getreten?

Jene positiven Resultate also, welche die Philosophie für die Resultate ihrer Dialektik, ihrer Opposition gegen die Autorität des Glaubens ausgibt, sind keineswegs auf diesem Wege allein erlangt worden; sie wurzeln vielmehr im Leben selbst, in den Fortschritten der allgemeinen Kultur und besonders der praktischen Interessen, in den tatsächlichen Bedürfnissen der Gesellschaft.

Aber wenn die Philosophie auch nicht durch ihre Kraft allein jene Entwicklung des menschlichen Geistes zu Stande gebracht hat, hat sie nicht wenigstens das Verdienst, dieselbe geleitet, beherrscht, ermuntert zu haben? Wenn jene Ansichten, welche hervorgerufen und entwickelt zu haben sie sich rühmt, auch ohne ihr Zutun lebendig und wirksam geworden wären, hat sie nicht dieselben wissenschaftlich begründet und sie dadurch zum bewussten Eigentume der Menschen gemacht?

Auch dieses Verdienst der Spekulation, so scheinbar und glänzend es ist, können wir doch für ein reelles nicht wohl anerkennen. Die Philosophie legt großen Wert darauf, die Ideen der natürlichen Moral, des sozialen Rechts, der empirischen Naturforschung zum „philosophischen Bewusstsein“ erhoben zu haben. Aber was hat sie denn dadurch für die Entwicklung dieser Ideen und Richtungen selbst geleistet? Haben sich unsere tüchtigsten Naturforscher in den dialektischen Kämpfen der theologischen Spekulation ausgebildet? sind die bewundernswerten Fortschritte unserer Industrie, diese gewaltigen Monumente des „Übergreifens des Geistes über die Natur“, wie es Strauß ausdrückt, sind sie unter der Herrschaft und Leitung der Philosophen oder des „philosophischen Bewusstseins“ (im Sinne der modernen Spekulation) zu Stande gekommen? oder ist das öffentliche Leben da am kräftigsten, die politische Freiheit da am gesichertsten, die sozialen Einrichtungen da am vortrefflichsten, wo dieses philosophische Bewusstsein am stärksten und allgemeinsten ist? Leider können wir dies nicht behaupten, denn wäre dem so, so müsste Deutschland unbedingt in jeder Hinsicht den ersten Rang unter den Nationen einnehmen, da gewiss in keinem Lande die philosophische Spekulation und die kritische Theologie eine solche Geltung und einen solchen Aufschwung gehabt hat, als hier. Aber im Gegenteil sehen wir Deutschland in eben dem Verhältnisse, als es in der wissenschaftlichen Begründung und in der systematischen Entwicklung der philosophischen Ideen allen andern Ländern vorauseilt, in der praktischen Anwendung dieser Ideen hinter der Mehrzahl derselben zurückbleiben, und gerade hinter denen am meisten, welche die selbstständige Ausbildung einer systematischen, doktrinären Theologie und Philosophie am wenigsten begünstigt haben. Welche nachteilige Rückwirkungen hat nicht die Naturphilosophie auf die Entwicklung der empirischen Wissenschaften in Deutschland geäußert, dieser phantastisch mystische Pantheismus, welcher, statt die Natur mit dem klaren Auge des nüchternen Forschers zu betrachten und sie durch verständige Tätigkeit dem Menschen dienstbar zu machen, in verworrenen, hochtönenden Begriffen und Formeln geheimnisvolle Rätsel auszusprechen sich vermaß, oder, um mit Strauß zu reden, durch „die Contemplation sich in die kühlende Tiefe des einen Grundes aller Dinge zu versenken“ strebte! Wie wenig hat jene „weltgeschichtliche Ansicht“, welche sich aus der pantheistischen Auffassung des Gottesbegriffs erzeugte, wie wenig hat sie Frucht getragen für die Begründung einer zeitgemäßen, praktischen, nationellen Geschichtsforschung! wie noch viel weniger hat sie uns das gelehrt, was uns vor Allem Not tut selbst Geschichte zu machen und unsre „weltgeschichtliche Mission“ zu erfüllen! Unsere Philosophen haben mit großer dialektischer Kunst die Irrtümer in den kirchlichen Lehren von der Rechtfertigung und Versöhnung, von den willkürlichen Belohnungen und Strafen nachgewiesen; aber die praktischen Folgen dieser Irrtümer zu beseitigen, die noch zum großen Teil auf unsrer Erziehung und auf unsrer Strafjustiz lasten, an die Stelle des Strafsystems das System der sittlichen Besserung zu setzen, die Erziehung in demselben Sinne, als eine Selbstentwicklung des sittlichen Triebes, zu organisieren, dies haben unsere Philosophen der Praxis, der Erfahrung, der Macht des öffentlichen Geistes überlassen müssen, und dieser Geist, nicht vom „philosophischen Bewusstsein“, sondern nur von dem gesunden Instinkt und dem praktischen Bedürfnisse geleitet, in Ländern, wohin jenes „philosophische Bewusstsein“ noch nicht einmal gedrungen, und ohne über sein Verhältnis zu kirchlichen Dogmen zu reflektieren, hat eine durchgreifende Reform in der Behandlung der Verbrecher und in der sittlichen Heranbildung und Veredlung der verwahrlosten Klassen der Gesellschaft zu Stande gebracht.

Aber nicht bloß die Unzulänglichkeit der praktischen Resultate der philosophischen Spekulation haben wir zu rügen, sondern mehr noch den Geist, in welchem sie ihren Zweck verfolgt, den Geist der Ausschließlichkeit, des Monopols, der aristokratischen Selbstgenügsamkeit. Dieser Geist spricht sich deutlich aus in der schon oben angeführten Erklärung von Strauß, nach welcher „die philosophische Versöhnung des Geistes mit sich selbst dem Philosophen die höchste und vollkommenste Befriedigung gewähren soll“, während „der andern Frage, ob der Inhalt der philosophischen Weltanschauung Gemeingut aller Teile der menschlichen Gesellschaft werden könne, oder ob die nicht wissenschaftlich gebildeten Glieder derselben für immer an die positive kirchliche Lehre gewiesen bleiben? um so eher aus dem Wege gegangen werden kann, als eine Bearbeitung der Dogmatik, wie sie hier beabsichtigt wird, nicht minder dringendes Bedürfnis ist, möge sie nun zugleich für eine künftige Kirche der Vernunftgläubigen, oder nur für die gegenwärtige und künftige Gemeinde der Wissenden geschrieben werden.“

In diesen Worten, sagen wir, liegt der Geist eines unerträglichen Aristokratismus, eines Aristokratismus, der den Fortschritt des sozialen Lebens im Keime tötet, indem er die Interessen der Gesellschaft spaltet, indem er dem einen Teil derselben die Weihe der „Wissenden“ gibt, den andern Teil zum Nichtwissen, zum blinden Glauben verdammt; indem er also jene Ersteren zu Herrschern und Vormündern dieser Letzteren setzt. Das ist nicht der Geist, in welchem das Christentum gestiftet, das ist auch nicht der Geist, in welchem die Reformation begonnen und vollbracht ward. Bei diesen beiden großen Weltereignissen war es das Volk, die ganze Gemeinschaft der Zeitgenossen, für welche das Licht einer neuen Lehre entzündet und welche dadurch der Willkürherrschaft einer aristokratischen Kaste, dort der Pharisäer und Schriftgelehrten, hier des Klerus, entrissen werden sollte. Sollen wir nun jetzt das Aufkommen einer neuen Corporation von Privilegierten begünstigen, jetzt, wo Alles auf Gleichheit der Rechte und Gleichartigkeit der Interessen hindrängt? sollen wir uns eine Geheimlehre gefallen lassen, die dem allgemeinen Streben nach Öffentlichkeit widerstreitet?

Und hier schlägt noch eine Betrachtung ein, welche Strauß selbst, sowohl in seinem „Leben Jesu“, als in seinem dogmatischen Werke, angeregt hat, die Betrachtung nämlich über die Stellung des praktischen Geistlichen zu dieser „modernen Wissenschaft“ und ihrem skeptisch-spekulativen Resultate. Strauß, welcher früher auch dem Geistlichen, im Verhältnis zu seiner Gemeinde, die Stellung eines „Wissenden“ anwies, der, die kirchlichen Dogmen für sich in dem Geiste der modernen Philosophie auslegend, seiner Gemeinde gegenüber zwar noch sich der gewohnten Vorstellungs- und Sprechweise bedienen möge, aber doch nur, um diese ebenfalls allmählich zu sich heranzubilden, Strauß scheint nunmehr selbst zu der Erkenntnis gekommen zu sein, dass diese Stellung des Geistlichen eine eben so zweideutige als unhaltbare sei, und tut den merkwürdigen Ausspruch: „Das theologische Studium, sonst das Mittel, sich zum Kirchendienste zu befähigen, ist jetzt der geradeste Weg, sich dazu unfähig zu machen; die Schusterbank, die Schreibstube, und wo man sonst am sichersten vor dem Eindringen der Wissenschaft verwahrt ist, sind heut zu Tage bessere Vorübungsplätze für das Predigtamt, als die Universitäten und Seminarien; religiöse Idioten und theologische Autodidakten, die Vorsteher und Sprecher der Pietistenbetstunden, das sind die Geistlichen der Zukunft.“

Wenn aber unsere Philosophen dies Bewusstsein von der Unvereinbarkeit ihrer theoretischen Resultate mit den praktischen Bedürfnissen und den Einrichtungen der Gesellschaft, also überhaupt von deren Unanwendbarkeit fürs Leben haben, in welcher Absicht, zu welchem Zwecke stellen sie dann dieselben auf und verwenden eine so erstaunliche Mühe und Kunst auf deren Begründung, Darstellung und Entwicklung? Ist es ihnen bloß um jene „Selbstbefriedigung“ zu tun, von welcher Strauß spricht? um den Genuss jener „freudenvollen, in sich befriedigten, seligen Anschauung“, welche, nach Feuerbachs Versicherung, die Theorie, als eine „ästhetische Anschauung“ gewährt? bloß um diesen ästhetischen Reiz oder um das schwelgerische Gefühl der geistigen Aufregung und Anspannung, der abwechselnden Erhebung und Zermalmung des Geistes in der Ergründung der tiefdunkeln Geheimnisse, in deren Abgrund sich die Wissenschaft versenkt? Oder gar nur um das Staunen der Menge vor dem blitzenden Schwerterspiele ihrer Dialektik und dem Brillantfeuer ihres Witzes? Haben sie sich nie die Frage vorgelegt, welchen praktischen Zweck, welchen Wert fürs Leben, für die Gesellschaft, diese ihre wissenschaftlichen und kritischen Bestrebungen denn eigentlich haben? Sie berufen sich auf ein „dringendes Bedürfnis“, die Dogmatik in diesem Sinne, als ein wissenschaftliches System, als einen Gegenstand der philosophischen Kritik, zu bearbeiten, aber kann das ein wahres, ungekünsteltes Bedürfnis der menschlichen Natur sein, dessen Befriedigung die praktischen und gesellschaftlichen Interessen der Menschheit um Nichts fördert, ja sogar die Einheit und Gleichheit unter den Gliedern der Gesellschaft aushebt, und welches überdies keineswegs ein allgemeines ist, sondern nur in einer kleinen Minderzahl angetroffen wird?

Doch, wir wollen unsre Anklage nicht gegen die einzelnen Philosophen richten, welche die angedeutete Richtung verfolgen, sondern gegen die allgemeinen Verhältnisse, welche sie in diese Richtung warfen; wir wollen die Frage von allen persönlichen Beziehungen ablösen und sie unter einem rein objektiven Gesichtspunkte ins Auge fassen.

Der Keim zu der modernen Wissenschaft, welche die Auflösung der christlichen Glaubenslehre herbeigeführt hat, und deren letzte Vollendung wir in den beiden vorliegenden Werken von Strauß und Feuerbach erblicken, lag schon in der Reformation verborgen. Zwar auch vorher und schon in den frühesten Zeiten des Christentums war wiederholt zu einer wissenschaftlichen Bearbeitung der christlichen Lehrsätze Anstalt gemacht worden; allein die katholische Kirche hatte jederzeit diese Versuche einer dogmatischen Spekulation zu unterdrücken und das persönliche Element des Christentums, den unmittelbaren Glauben an das sichtbare Oberhaupt der Gemeinde, den Stellvertreter Christi, und den unbedingten Gehorsam gegen dessen Gebote festzuhalten gewusst. Dieser persönliche und praktische Charakter ist dem Katholizismus, bei allen Veränderungen in seiner äußern Stellung, unwandelbar eigen geblieben und hat ihn vor dem Schicksale bewahrt, welches den Protestantismus traf, in sich selbst den Keim seiner Auflösung zu entwickeln. Auch der Gegensatz, den das spiritualistische, überweltliche Prinzip des Christentums zu den weltlichen Bestrebungen der Völker bildete, ward durch jenes Verhältnis einigermaßen gemildert, indem die Kirche mehr und mehr zu der Einsicht kam, dass sie die weltlichen, bürgerlichen, politischen Interessen weder ganz zu unterdrücken, noch ausschließlich zu beherrschen im Stande wäre, und deshalb absichtlich ihr Machtgebiet gegen das der politischen und sozialen Gewalten abgrenzte. So wurde das religiöse Element unter der Form der Kirche einer der Faktoren, aus denen die Bewegung des modernen Lebens zusammengesetzt ist; so hat es alle Widerstandsfähigkeit und allen praktischen Einfluss einer politischen Institution und nimmt an den Kämpfen der Parteien und der Interessen als ein in sich einiges und kompaktes Ganzes Teil.

Die Reformatoren gaben diesen persönlichen Einfluss und diese politische Stellung der Kirche auf, in der löblichen Absicht, dadurch die Reinheit des Christentums wiederherzustellen, welche allerdings unter jenen Bestrebungen des Pabsttums, seine Gewalt um jeden Preis aufrecht zu erhalten, bedeutend gelitten hatte. Indem sie ihren Anhängern die ächte Quelle der christlichen Lehre, die heilige Schrift, erschlossen, glaubten sie diese Lehre selbst auf ihren ursprünglichen und wahren Geist und Inhalt zurückgeführt zu haben. Sie bedachten nur nicht, dass das geschriebene Wort einer Lehre keine entscheidende Gewalt hat, weil es selbst erst der Auslegung bedarf, und dass, wenn keine höchste, sichtbare Autorität über Allen da ist, jeder Einzelne diese Auslegung nach seinen individuellen Ansichten vornimmt.

So lange indes noch das persönliche Ansehen der Reformatoren wirksam war (welches diese, ihrem eignen Prinzip zum Trotz, häufig geltend machten), und so lange die neuentstandenen Glaubensparteien, der katholischen Kirche gegenüber, um ihre Existenz zu kämpfen hatten, wurde auch die Einheit der Kirche, deren praktischer und disziplinarer Zweck aufrecht erhalten. Je mehr aber der Kampf um die äußere Stellung und Geltung der protestantischen Kirche nachließ, desto mehr verschwand das kirchliche und praktische Prinzip aus dem Protestantismus, desto mehr nahm das dogmatische und spekulative Element darin überhand. Die Gemeinsamkeit des Kultus und des kirchlichen Symbols ward in den Hintergrund gedrängt durch die Freiheit der individuellen Auslegung und Entwicklung der Glaubenssätze, eine Freiheit, welche, an keine äußere Norm gebunden, keiner sichtbaren Gewalt für ihre Resultate verantwortlich, an dem Faden der Dialektik eine Schranke nach der andern überschritt, bis sie zuletzt, nicht nur das protestantische, sondern auch das biblisch christliche Symbol gänzlich aus den Augen verlierend, bei denjenigen Resultaten anlangte, die wir so eben kennen gelernt haben.

Zwei Umstände haben noch besonders beigetragen, dem Protestantismus diese Richtung zu geben, der Mangel an politischer Freiheit in Deutschland und das von der deutsch protestantischen Kirche angenommene oder vielmehr ihr aufgedrungene weltliche Episkopat. Der Mangel an politischer Freiheit und an gesetzlichen Formen für die Teilnahme der Einzelnen am Staatsleben nötigte die kräftigen und freiheitsdurstigen Geister, ihre Tätigkeit an solchen Stoffen zu versuchen, welche, als rein wissenschaftliche, den politischen Interessen fern genug standen, um nicht Verdacht zu erregen. So konzentrierte sich in Deutschland alle Bewegung und alle Strebkraft der Geister in der Spekulation, der Kritik, der philosophischen Opposition und Revolution, während sie in andern Ländern in praktische und politische Reformen ausschlug; so entstand hier eine Wissenschaft, mit der absichtlichen und ausgesprochenen Tendenz, Nichts zu sein, als ein theoretisches System, und keinen direkten Einfluss auf das Leben, den Staat, die Gesellschaft anzusprechen.

Nicht minder entscheidend hierfür war die Lostrennung der Kirchengewalt von der Kirchengemeinde. Die Kirche ward der Oberhoheit des Landesherrn unterworfen; hierdurch trat sie in den Kreis der übrigen Verwaltungsangelegenheiten ein und ward, gleich diesen, von den Ansichten und Entschließungen wissenschaftlich gebildeter Männer abhängig, mochten dies nun Juristen oder Theologen sein. Dieser Umstand leistete der wissenschaftlichen Behandlung der Glaubenslehren nicht geringen Vorschub, indem teils die Besetzung geistlicher Stellen weniger von der praktischen Befähigung zum geistlichen Amte selbst, als von der gelehrttheologischen Vorbildung abhängig gemacht, teils auch überhaupt den Veranstaltungen für die Fortbildung der protestantischen Wissenschaft eine größere Aufmerksamkeit zugewendet wurde, als den eigentlich kirchlichen Einrichtungen, den Angelegenheiten des Kultus und der Kirchenzucht. Die Wahrheit dieser Bemerkung wird durch die entgegengesetzte Erfahrung bestätigt, welche wir an denjenigen Kirchen machen, die nicht auf die angegebene Weise, sondern unter der freien Mitwirkung der Kirchengemeinde selbst verwaltet werden, wie z. B. die holländische, die schwedische, die schweizerische, die schottische und alle die vielen kleineren kirchlichen Gemeinschaften, welche in England und Nordamerika sich ausgebildet haben. In allen diesen Kirchenwesen ist die Bewegung der theologischen Wissenschaft, der spekulativen Dogmatik, so gut wie keine, dagegen die Kirchenzucht eine äußerst strenge und der Glaube ein äußerst eifriger, oftmals bis zum Fanatismus.

So hätten wir denn, wie wir glauben, die Entstehung der deutsch-protestantischen wissenschaftlichen Theologie und das Übergewicht, welches sie in unsrer Nationalentwicklung behauptet, aus den allgemeinen Bedingungen dieser Nationalentwicklung selbst hinreichend erklärt. Wir kommen daher auf die schon oben berührte Frage zurück, ob dieses Übergewicht des wissenschaftlichen Elements in unserem religiösen Leben ein Vorteil für dieses selbst und für unsere ganze geistige und nationelle Entwicklung gewesen sei, oder nicht.

Wir müssen dabei beharren, diese Frage zu verneinen. Was man hiergegen anführen wird, wissen wir recht wohl. Man wird die Aufklärung rühmen, welche durch die wissenschaftliche Behandlung der religiösen Fragen in unser ganzes Leben gekommen, im Gegensatz zu dem blinden Glaubenseifer, der in andern Ländern herrscht; die Denkfreiheit, deren wir genießen, im Gegensatz zu der zelotischen Strenge, womit in England, in Holland, in der Schweiz jede Äußerung der freien Spekulation über Glaubenssachen verdammt und unterdrückt werde.

Gewiss sind Aufklärung und Denkfreiheit unschätzbare Güter für die Individuen wie für die Nationen, und Niemand kann mehr als wir von deren Werte durchdrungen und von dem Eifer, sie auch in unserem Vaterlande zu fördern, beseelt sein. Allein wir halten Beide nur dann für heilsam, wenn sie recht verstanden und recht gebraucht werden. Das aber ist nicht die rechte Denkfreiheit, welche nur in einer künstlich isolierten und hermetisch verschlossenen Sphäre sich tummelt, und gerade in der Sphäre, welche, ihrer Natur nach, eine fruchtbare Anwendung der Denkfreiheit am Wenigsten gestattet, weil sie mit der Entwicklung des äußern, praktischen Lebens am Wenigsten zusammenhängt, weil sie mehr dem Gefühl als der Tatkraft zugehört. Das ist nicht die rechte Aufklärung, welche uns nur die schauerlichen Abgründe und Klippen unsrer Gemütswelt grell beleuchtet, uns dadurch blendet und verwirrt, welche aber kein Licht in die Räume wirft, wo wir dessen wirklich bedürften und wo es uns zur Leuchte dienen könnte; eine Aufklärung, welche nur die über die Menge emporragenden Häupter der Philosophen, der Gebildeten bestrahlt, das Volk selbst aber im Dunkel lässt; eine Aufklärung endlich, welche ihre Fackel nur zum Niederreißen, nicht zum Aufbauen hält.

Oder wollen wir etwa behaupten, dass die Aufklärung und die Denkfreiheit, welche unsere wissenschaftlichen Bestrebungen in der Theologie und Philosophie uns gebracht, größer oder besser sei, als die Denkfreiheit und die Aufklärung, deren der Engländer oder der Amerikaner genießt? Bei diesen Nationen hat sich das Element der Bewegung, der Kritik, der Reform — das „dialektische Moment des Geistes,“ wie es unsre Philosophen nennen — zuerst der äußern Organe des Staats- und Volkslebens bemächtigt, hat diesen Organen eine erhöhte Tätigkeit mitgeteilt und ein kräftiges, bewusstes Zusammenwirken derselben, einen tüchtigen, freien und klaren Gemein- und Nationalgeist erzeugt, während das innerliche Leben des Individuums, seine Glaubens- und Gefühlswelt, davon fast unberührt blieb und somit die Wärme, Innigkeit und Unbefangenheit bewahrte, deren dasselbe bedurfte, um nicht durch die rasche und zerstreuende Bewegung des äußern Lebens sich selbst entfremdet zu werden. Bei uns dagegen ward dieser natürliche Entwicklungsprozess in das Innere zurückgeschlungen und dadurch zur krankhaften Entzündung umgewandelt, welche nun unsern Geist in Fieberbewegungen aufreibt, ohne einen Ausgang, eine Ableitung nach außen finden zu können. So im Innern ausgehöhlt, in künstlicher Aufregung festgehalten, in Zweifelsqualen uns verzehrend, und uns wohl gar endlich, verzweifelnd, dem Mystizismus und Pietismus in die Arme werfend, durch die Reizungen der Spekulation untauglich gemacht für das praktische Leben, unempfindlich für die wahren Fortschritte unsrer Nationalinteressen, — so genießen wir die Früchte einer Aufklärung, welche ihre natürliche Bestimmung verfehlt hat. Oder ist es etwa nicht tatsächlich, dass jeder Triumph dieser philosophischen Aufklärung begleitet gewesen ist von einer Reaktion der dumpfen, weichlichen, unsittlichen Gefühlsschwärmerei, und dass die Ausbrüche dieser Letztern in demselben Grade widerlicher, unnatürlicher, gefährlicher geworden sind, in welchem die Spekulation ihre dialektische Kunst steigerte und ihre Opposition gegen alles Positive auf die Spitze trieb? Gehen nicht dem Kant-Fichteschen Rationalismus die unklaren und unmännlichen Gefühlsschwelgereien der romantischen Schule zur Seite, und hat nicht dasselbe Deutschland, welches Strauß und Feuerbach als den Sitz und das Eigentum der „modernen Wissenschaft,“ des „freien Geistes,“ des „philosophischen Bewusstseins“ ansprechen zu dürfen glauben, eben neuerdings wieder die verderblichen Erscheinungen des Pietismus und Mystizismus, des Muckertums und des Somnambulismus in beängstigender Zahl und Stärke aller Orten entstehen sehen?

Durch solche Erfahrungen dürfen wir uns wohl berechtigt glauben, die Nützlichkeit einer derartigen Opposition auf dem Gebiete der Religion in Zweifel zu ziehen und die Werke unsrer spekulativen Theologie noch einem andern Gesichtspunkte, als dem der bloß wissenschaftlichen Kritik, zu unterwerfen.

Aber diese Betrachtungen selbst, zu welchem Resultate führen sie uns? was muss geschehen, damit unser religiöses Leben, welches durch die unverhältnismäßige Ausbildung des spekulativen Elementes in ihm eine falsche Richtung angenommen hat, seine natürliche Stellung und sein natürliches Verhältnis zu unserem öffentlichen, sozialen und nationalen Leben wieder einnehme? Dies ist die wichtige und schwierige Frage, mit welcher wir uns zu beschäftigen haben.

An Maßregeln, jene zu weit greifenden Tendenzen der Spekulation zu zügeln, hat es in der neusten Zeit nicht gefehlt. Man hat gegen die Vertreter der freieren Richtungen Verbote und Beschränkungen eintreten lassen; man hat das Auskommen einer Gefühlstheologie begünstigt, welche, wie man hoffte, jenen Übergriffen des kritischen Verstandes die Waage halten sollte; man hat, bald durch freies Übereinkommen, bald durch Zwang, gewisse Grenzen bezeichnet, welche die wissenschaftliche Forschung, insoweit sie Gegenstand der öffentlichen Verbreitung und Lehre sei, nicht überschreiten dürfe.

Wir halten diese Maßregeln, wie wir schon oben erklärt, für ungerecht gegen den Einzelnen, für unzulänglich zu dem Zweck, den man dadurch erreichen will. So lange unsere jungen Theologen zu ihrem künftigen geistlichen Berufe durch die Wissenschaft hindurch geleitet werden, so lange müssen sie auch selbstdenkend forschen, reflektieren, philosophieren; so bald sie aber philosophieren, können sie auch Skeptiker werden, müssen sie es sogar in gewissem Grade allemal. Und wo ist dann die Grenze des Erlaubten und des Verbotenen? wie will man dann, ohne willkürlich zu verfahren, der Freiheit des Forschens Stillstand gebieten?

Also, so lange man die wissenschaftliche Basis der Theologie und des geistlichen Amtes bestehen lässt, muss man auch das Recht der freien Forschung anerkennen, kann man nicht dem jungen Theologen nur ein bestimmtes Maß spekulativer Erkenntnis zumessen, welches man eben für hinreichend und doch für nicht gefährlich hält.

Aber eben so wenig können wir es andrerseits billigen, wenn man, um jenes Recht der Wissenschaft ungeschmälert zu erhalten, den Geistlichen von der Verpflichtung auf das Symbol seiner Kirche, d. h. also von der Verpflichtung auf das kirchliche Christentum selbst, entbunden wissen will. Die Gemeinde, für deren religiöse Bedürfnisse der Geistliche sorgen soll, erwartet von ihm, da sie eine protestantische Gemeinde und der Geistliche ein protestantischer Geistlicher ist, die Lehren verkündigt zu erhalten, welche die protestantische Kirche als die wahren anerkannt und durch ihr Bekenntnis, in den symbolischen Büchern, bekräftigt hat. Ein Abweichen davon, sei es nach der Seite des Rationalismus, sei es nach der Seite des Mystizismus oder der Gefühlsschwärmerei, muss allemal den Geistlichen in eine falsche Stellung zu seiner Gemeinde und zu seinem geistlichen Berufe setzen. Und doch, wird man sagen, ist ein solches Abweichen unvermeidlich, und doch giebt es vielleicht nicht einen einzigen Geistlichen in einem ganzen Kirchenverbande, welcher streng und in allen Punkten an das ursprüngliche Symbol seiner Kirche glaubte und danach lehrte. Was kann geschehen, um dieses Missverhältnis aufzuheben, um das kirchliche Leben in seiner Integrität zu erhalten und doch den Einzelnen, und besonders den einzelnen Geistlichen, der Qual eines Zwiespaltes zu entheben, welchen nur die wenigsten sich selbst gänzlich zu verbergen im Stande sind?

Wir wissen nur ein Mittel, welches zu diesem Ziele führt, und wir wollen es aussprechen, so bedenklich es auch Manchem erscheinen wird, und so wenig auch Aussicht ist, dasselbe sobald angewendet zu sehen. Es heißt: Ablösung der Kirche vom Staate; Zurückgabe des Kirchenwesens an die Gemeinden; Anerkennung des freien Assoziationsrechts in den Angelegenheiten der Religion.

So lange der Staat die Diener der Kirche einsetzt oder doch bestätigt, muss er sie sämtlich auf ein und dasselbe Symbol verpflichten, und natürlich wählt er dazu dasjenige, welches die Stifter der protestantischen Kirche uns hinterlassen haben. Aber eben so natürlich ist, dass die durch dieses Symbol vorgeschriebene Auffassung des christlichen Lehrbegriffs auf manche Widersprüche stößt, manche Zweifel erregt, manche Bedürfnisse des Geistes und des Gemüts unbefriedigt lässt. Einer solchen Stabilität, wie man sie voraussetzen müsste, wenn dem anders sein sollte, würde höchstens eine Kirche fähig sein, deren Wesen in einem streng abgemessenen Formendienste und in einer steten persönlichen Wechselwirkung zwischen dem Haupt und den Gliedern begründet ist, nicht aber die unsrige, welche jenes Prinzip einmal für immer aufgegeben hat. So geschieht es nun, dass teils die Leiter der kirchlichen Angelegenheiten selbst, die geistlichen und weltlichen Behörden, in der Anwendung der symbolischen Glaubensregel bei der Wahl und Prüfung der Geistlichen, bei der Überwachung der verschiedenen theologischen Bildungsanstalten und bei vielen andern Gelegenheiten, ihrem eignen Ermessen, ihren subjektiven religiösen Ansichten und Richtungen einen weiten Spielraum eingeräumt sehen, dass aber auch andresteits den einzelnen Geistlichen, den Lehrern der Theologie und den Laien eine ziemlich große Freiheit in der Auslegung der kirchlichen Symbole und in der Teilnahme an den Gebrauchen der Kirche zugestanden werden muss. Auf diese Weise verliert aber das Symbol ganz seine eigentliche Bedeutung, die nämlich, oberste und unumstößliche Regel des Glaubens und Verhaltens für alle Glieder der Kirchengemeinde zu sein, und wenn dann doch bisweilen, wie dies gar nicht ausbleiben kann, dasselbe geltend gemacht und die Freiheit des Meinens und Handelns in Sachen der Religion beschränkt wird, so erscheint dies notwendig als ein Akt persönlicher Willkür, persönlicher Sympathien und Antipathien, persönlicher Einflüsse und Beweggründe. Steht in einem Lande ein Mann der strengeren Richtung an der Spitze der Kirche, so werden alle die, welche nach der entgegengesetzten Seite vorgeschritten sind, mehr oder weniger den hemmenden Einfluss einer Gewalt empfinden, die sie, bei den bestehenden Verhältnissen, doch als die Repräsentantin der Kirche und des kirchlichen Symbols anerkennen müssen. Tritt an seine Stelle ein Rationalist, ein Begünstiger der philosophischen Forschung, so wird das ganze Kirchenwesen des Landes mehr oder weniger in diese Richtung mit fortgezogen werden. Und doch ist es in beiden Fällen dieselbe Kirche, dasselbe Symbol, in dessen Namen der eine wie der andere Einfluss geübt wird. Daher denn nun die ewigen Schwankungen, von denen der deutsche Protestantismus zerrissen wird; daher die Klagen über Mangel an kirchlicher Einheit, über Machtlosigkeit des kirchlichen Prinzips sowohl im Innern als auch ganz besonders nach außen, andern Kirchen und zumal der katholischen gegenüber.

Nehmen wir dagegen an, man ließe eine Abtrennung der Kirche vom Staate stattfinden, wie würden sich dann die Verhältnisse derselben gestalten?

Zunächst würde eine Trennung der verschiedenen Glaubensparteien erfolgen, welche jetzt von dem gemeinsamen Kirchenverbande umspannt und in äußerlicher Einheit zusammengehalten werden. Wäre wohl eine solche Trennung ein Nachteil für das kirchliche und religiöse Leben des Volks? Gewiss nicht; vielmehr wäre es, nach unserer festen Überzeugung, der erste Schritt zur Wiederherstellung des religiösen Lebens, zur Bekämpfung des herrschenden Indifferentismus, zur Abwehr der auflösenden Tendenzen der Wissenschaft, aber auch zur radikalen Ausrottung alles mystischen und pietistischen Unwesens. Durch eine solche Trennung würden nicht Glaubensunterschiede erzeugt oder hervorgerufen, denn diese sind schon vorhanden, sondern sie würden nur zum öffentlichen Bekenntnis genötigt und erhielten eine äußerlich abgegrenzte und erkennbare Stellung zu einander. Freilich wird Viele der Gedanke erschrecken, die Einheit des allgemeinen protestantischen Kirchenverbandes auszugeben; sie werden glauben, das kirchliche Leben selbst solle aufgelöst werden, während es sich doch nur um eine Form handelt, welche überdies weder im Geiste des Urchristentums, noch in dem Geiste, in welchem die Reformation begonnen wurde, sondern nur im Geiste gewisser, durch vorübergehende Zeitumstände hervorgerufener politischer Zentralisationsideen begründet ist. Und wo besteht denn in Wahrheit die eingebildete Einheit der protestantischen Kirche? Zuerst schon hat jeder protestantische Staat seine besondere Kirche, deren Formen nicht nur, sondern deren Geist auch großenteils von den persönlichen Entschließungen und Richtungen derer abhängig ist, welche an der Spitze der Staatsangelegenheiten stehen. In dem einen Lande herrscht ein rationalistischer Protestantismus, in dem andern ein strenggläubiger, in dem dritten ein altlutherischer oder ein mystischer. In welchem von diesen Ländern ist nun die rechte, ächte protestantische Kirche anzutreffen? Und kann man wohl, unter diesen Umständen, überhaupt noch von einer einen und allgemeinen Kirche sprechen? Aber auch in den einzelnen Ländern wechselt häufig Form und Geist der Kirche, wie wir dies oben auseinandergesetzt haben. Derselbe Staat, welcher jetzt den rationalistischen oder philosophischen Protestantismus beschützt, begünstigt vielleicht später die entgegengesetzte Richtung. Was sollen nun Diejenigen thun, welche jener ersteren Ansicht huldigen? Sie bilden, bei den bestehenden Verhältnissen, eine stille Opposition gegen die herrschende Richtung, eine Opposition, welche durch alle Anstrengungen die Regierung und die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu bringen sucht, um wieder selbst zur herrschenden Partei zu werden; welche also einen fortwährenden Krieg gegen die vom Staate begünstigte Richtung und somit mittelbar gegen den Staat selbst führt, einen Krieg, der um so gefährlicher werden kann, weil beide Parteien behaupten, auf dem Boden des wahren Glaubens und des wahren Kirchentums zu stehen, und weil der Staat, er entscheide sich für welche er wolle, jederzeit dadurch in den Augen der Gegenpartei und des dieser anhängenden Teils der Nation den Vorwurf eines Abweichens von dem protestantischen Prinzipe auf sich ladet. Oder wird dem abgeholfen, wenn der Staat sich über dem Kampfe der Parteien hält? Einmal kann er dies nur zum Teil, nämlich nur allenfalls insoweit, als der Streit auf wissenschaftlichem Felde geführt wird; wo es sich dagegen um die Praxis des Kirchenglaubens handelt, muss der Staat, müssen die mit der Leitung der kirchlichen Angelegenheiten betrauten Personen eine entschiedene und entscheidende Ansicht fassen. Das wäre eine gewissenlose Wahl- und Prüfungsbehörde, welche einen Mystiker zu einem geistlichen Amte vorschlagen könnte, wenn sie persönlich von der Irrigkeit und Schädlichkeit dieser Richtung überzeugt ist, oder einen Schüler von Strauß, wenn sie selbst an dem orthodoxen Dogma festhält. Doch angenommen, es wäre möglich, muss nicht dann gerade die größte Zerrissenheit, müssen nicht die heftigsten Spaltungen und Schwankungen in der Kirche stattfinden? Diese Spaltungen, diese gegenseitigen Anfeindungen, diese geheimen Umtriebe der Parteien, diese Proselytenmacherei — alles dies würde aufhören, sobald der Staat von der Kirche gänzlich zurückträte, sobald er das kirchliche Leben sich frei aus sich entwickeln und gestalten ließe. Allerdings würden wir dann wahrscheinlich statt des einen Kirchenverbandes, welcher jetzt ein ganzes Land umspannt, eine Zweiheit oder eine Vielheit von kirchlichen Gesellschaften haben; jede religiöse Richtung würde eine in sich abgeschlossene, öffentlich konstituierte und anerkannte Gemeinde, mit einem selbstständigen Symbole und einem eigentümlichen Kultus bilden. Und was wäre hierdurch gewonnen? Einmal dies, dass der geheime, gehässige, unchristliche und häufig nicht mit den besten Waffen geführte Kampf um Oberherrschaft unter den verschiedenen Glaubensparteien aufhörte, und. das würde er, weil dann kein Grund mehr zu einer solchen gegenseitigen Anfeindung vorläge. Denn weshalb wird jetzt jener Kampf geführt? Weil, zufolge der bestehenden Einrichtung, wonach es nur eine protestantische Kirche giebt, nämlich diejenige, welche die Staatsgewalt als solche anerkennt und vertritt, jede Partei, deren Symbol nicht mit dem eben jetzt von der Staatsgewalt gebilligten zusammenstimmt, sich im Zustande einer ecclesia pressa, einer unberechtigten und unterdrückten Fraktion befindet und nicht eher aus diesem Zustande heraustreten, also auch nicht eher ruhen kann, bis sie die Gesamtkirche, d. h. die kirchlichen Behörden, die Staatsgewalt, auf ihre Seite gezogen hat und dadurch nunmehr selbst zur herrschenden geworden ist. Also die allgemeine Toleranz, welche man so eifrig predigt, ist nur dann möglich, wenn man den verschiedenen Glaubensparteien die Veranlassung zur Intoleranz nimmt, wenn man sie scharf trennt und dadurch jeder ein freies Feld der Bewegung einräumt, nicht aber, wenn man sie gewaltsam in einen Verband zusammendrängt und sie dadurch zwingt, sich den Boden streitig zu machen.

Andrerseits würde aber auch dadurch dem Indifferentismus entgegengearbeitet, welcher sich gewöhnlich mit dem falschen Scheine der Toleranz bekleidet und dessen bedenkliches Überhandnehmen täglich bemerkbarer wird. Es gibt einen doppelten Indifferentismus, einen Indifferentismus der Dumpfheit und einen Indifferentismus der Vornehmheit. Den erstem trifft man in den niedern Klassen an, den andern bei den Gebildeten, namentlich den wissenschaftlich Gebildeten. Das Volk nimmt zwar aus Gewohnheit an den Gebräuchen der Kirche Teil, aber ein tiefes Gefühl und zugleich ein deutliches Bewusstsein von dem Werte und Wesen des kirchlichen Lebens haben die Wenigsten, und eine Hauptursache hiervon ist wohl darin zu suchen, dass die Gemeinde keine oder nur eine sehr geringe Einwirkung auf ihre kirchlichen Angelegenheiten ausübt, dass sie die Formen ihres Kultus, die Gesetze ihrer Kirchenzucht, endlich ihren Geistlichen selbst aus der Hand der Staatsbehörde empfängt, ohne eine unmittelbare und tätige Teilnahme dabei äußern zu können. Es ist eine bekannte Erfahrung, dass das religiöse und kirchliche Leben in den freien Gesellschaften oder den sogenannten Sekten weit inniger und kräftiger ist, als in unserer allgemeinen Staatskirche, und wir finden dies ganz natürlich. Wie es keinen politischen Gemeingeist gibt ohne eine gesetzliche Teilnahme der Einzelnen an den allgemeinen Angelegenheiten, so giebt es keinen wahren Geist der kirchlichen und religiösen Gemeinschaft ohne eine gewisse Freiheit der Vereinigung und des Zusammenhaltens. Aber, wird man sagen, würden nicht Viele, wenn der Zwang des Kirchenverbandes wegsiele, gänzlich außerhalb aller religiösen Gemeinschaft beharren? Wir glauben, nein. Sobald auf dem Wege der freien Vereinigung das religiöse Leben der Nation sich in einer Menge selbstständiger Kreise abschlösse, würden Diejenigen, welche versuchten, außerhalb dieser Kreise isoliert zu bleiben, sich bald in dieser Vereinzelung höchst unbehaglich, wie Ausgestoßene fühlen und das Bedürfnis empfinden, sich dem einen oder dem andern jener freien Vereine an, zuschließen, während jetzt Viele, unter dem Schutze des allgemeinen Kirchenverbandes, dem man sie zurechnet, ohne doch von ihnen ein ausdrückliches Glaubensbekenntnis und eine strenge Teilnahme an den kirchlichen Gebrauchen zu fordern, sich dem allergrößten Indifferentismus hingeben. Auch hier spricht die Erfahrung für uns. In Nordamerika, wo das kirchliche Leben ganz an die freie Vereinigung der Privaten hingegeben ist, findet man zwar eine große Menge religiöser Gemeinschaften, deren Symbole und Gebräuche sehr abweichend und zum Teil sehr eigentümlich sind, aber man findet keine erklärten Indifferentisten oder Religionsverächter, weil jeder sich zu irgend einer kirchlichen Gesellschaft hält und halten muss, wenn er nicht die Achtung seiner Mitbürger und selbst seine bürgerliche Stellung aufs Spiel setzen will.

Endlich aber kommen wir noch auf einen Punkt, der uns zugleich zu dem eigentlichen Gegenstande dieser Betrachtungen zurückführt, auf die Folgen nämlich, welche eine Umgestaltung unsres Kirchenwesens, in dem angegebenen Sinne, mutmaßlich für die Stellung der Spekulation und des daraus hervorgehenden religiösen Indifferentismus und Skeptizismus haben dürfte. Würde diese Umgestaltung wohl der Spekulation Vorschub leisten?

Keineswegs; sie würde vielmehr den schädlichen Einfluss, welchen dieselbe unleugbar auf das religiöse und selbst auf das praktische Leben der Nation ausübt, wenn nicht ganz aufheben, doch wesentlich schwächen. Einmal fiele schon der Reiz weg, welcher der philosophischen Dialektik daraus erwächst, dass sie ein vom Staate festgehaltenes und von dessen Autorität gedecktes Dogma bekämpft, der Reiz der Opposition gegen die Staatspolizei, mit einem Worte, der Reiz des Verbotenen. Hat man nicht schon die Bemerkung gemacht, dass diese negativen Richtungen um so mehr Einfluss gewannen, je strenger der Staat sie unterdrückte, dass sie dagegen an diesem Einflusse in eben dem Maße verloren, als man sie nicht beachtete und die Kritik darüber der öffentlichen Meinung überließ? Um wie viel mehr würde dies stattfinden, wenn diese Richtungen es gar nicht mit dem Staate und der Staatskirche zu thun hätten, sondern mit einer Menge kirchlicher Vereine, deren jeder auf einem freigewählten Symbole ruhte.

Zweitens verminderte sich dann aber auch das Bedürfnis und Interesse einer wissenschaftlichen Gestaltung des Glaubensinhaltes dadurch, dass die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten nicht mehr in den Händen theoretisch gebildeter Männer, — besonderer Behörden oder theologischer Fakultäten — sondern in den Händen der Gemeinden selbst ruhte, folglich auch die Wahl der Geistlichen weit mehr von der praktischen Befähigung zur Seelsorge und zur Erbauung der Gemeinde, als von der gelehrt wissenschaftlichen Bildung abhängig gemacht würde.

Mit einem Worte, je mehr das religiöse und kirchliche Leben auf seinen eignen und ursprünglichen Boden, den des praktischen Kultus, zurückkehrte und sich in sich abschlösse und befestigte, desto mehr würde die Richtung auf die spekulative Entwicklung und die dogmatisch philosophische Bearbeitung der Glaubenslehren in den Hintergrund treten, und damit würden auch alle die Übelstände verschwinden, welche diese wissenschaftliche Spekulation über uns gebracht hat, eben so aber auch die, welche durch eine sehr natürliche Reaktion gegen jene Übergriffe der Spekulation entstanden sind, das schleichende Gift des Pietismus und Mystizismus, mit seiner Verketzerungssucht, seinem Fanatismus und seinen unsittlichen Geheimwerken. Der Öffentlichkeit und der freien Teilnahme der Nation anheimgegeben, würde das religiöse Leben wieder erstarken, inniger und tiefer, aber auch klarer und von allen fremdartigen Elementen gereinigt werden; es würde seinen wohltätigen Einfluss auf das Gemütsleben der Individuen unbeschränkt ausüben, aber es würde auch die Interessen des öffentlichen Lebens, die politische und die industrielle Entwicklung der Gesellschaft weder hemmen, noch in Verwirrung bringen. Wohin unser gegenwärtiges protestantisches Kirchenwesen führt, sehen wir an den Extremen, in welche es auseinandergeht, an den Ausschweifungen der Gefühlsschwärmerei einerseits, an der völligen Auflösung andrerseits, in welcher bei Strauß und Feuerbach, und in zahlreichen andern Werken derselben Schule, die christliche Glaubenslehre erscheint. Mit Palliativmitteln ist dieser Verwirrung und Auflösung nicht länger abzuhelfen; hoffen wir daher, dass unsere Zeit, welche im ruhigen, allmählichen Umgestalten eine so glückliche Besonnenheit und Geschicklichkeit zeigt, auch hier den Weg finden werde, welcher allein zum Ziele führt.

Biedermann, Karl (1812-1901) deutscher Politiker, Publizist und Professor für Philosophie

Biedermann, Karl (1812-1901) deutscher Politiker, Publizist und Professor für Philosophie

Feuerbach, Ludwig (1804-1872) deutscher Philosoph und Anthropologe

Feuerbach, Ludwig (1804-1872) deutscher Philosoph und Anthropologe

Strauß, David Friedrich (1808-1874) deutscher Schriftsteller, Philosoph und Theologe

Strauß, David Friedrich (1808-1874) deutscher Schriftsteller, Philosoph und Theologe