Peking

30. September bis 13. Oktober. Am Tage nach der Ankunft schwamm Peking im Schmutz. Die Straßen waren zu Fuß vollkommen unpassierbar, und die Fahrt in Karren war lebensgefährlich, da ihre Lenker nur durch die genaueste Ortskenntnis die tiefen Wasser- und Schmutzlöcher vermeiden konnten, aus denen die Straßen zur Hälfte bestanden. Doch bald schwand der unbehagliche Eindruck, den Peking anfangs auf alle gemacht hatte. Die Möbel kamen an, das B.sche Haus wurde eingerichtet, und es wurde dabei jedem eine helfende Hand gestattet. Das Piano wurde aufgestellt, Klavierspiel und Gesang ertönten und brachten heimatliche Empfindungen. Besuche Abstatten und Besuche Empfangen nahmen einen großen Teil der Zeit in Anspruch. Nachmittags wurde auf der Mauer von Peking spazieren gegangen, bis zwei Tage vor meiner Abreise der Eingang zu dieser vermauert wurde, angeblich wegen des zweiten Ausganges des Kaisers aus seinem Palaste. Man fürchtete, die Europäer würden ihn von der Mauer aus sehen.

Peking ist eine verfallene und verarmte Stadt. Man sieht hier und da die Zeichen früherer besserer Zustände in einzelnen imposanten Bauwerken, besonders Brücken, Mauern und Tempeln. Die Anlage der Stadt ist großartig und verdient Bewunderung. Das verwickelte System breiter Straßen, die Kanalisierung und Drainierung, verraten einen bedeutenden Geist.


                              Peking. — Anlage der Stadt

Dies ist wahrscheinlich die erste Stadt, die nach einem Plane angelegt wurde, wie ihn Europäer und Amerikaner erst in der neusten Zeit angenommen haben. Zur Zeit Marco Polos musste sie weit über die krummgassigen Städte des damaligen Europa hervorragen. Ein anderes Monument von Bedeutung ist die Mauer, die Peking umgibt. Die tartarische Stadt bildet nahezu ein Quadrat von 24 km Umfang, die chinesische Stadt ein Oblong von ungefähr 20 km gesamter Seitenlange. Die Umfassungsmauer der ersteren ist 12 m breit und 15 — 18 m hoch, von schwarzen Backsteinen gebaut und in allen Teilen vortrefflich erhalten. Sie hat 10 Tore. An jedem sind ihr zwei der bekannten tempelartigen Bauwerke mit Schießscharten aufgesetzt. Eine unendliche Arbeitskraft ist in dieser Mauer vergraben. Einst muss sie ein mächtiges Bollwerk gegen Angreifer gebildet haben. Aber wenn man sie jetzt sieht und bedenkt, wie schwach dieses stolze Werk in unserer Zeit ist, so kann man sich des Gedankens nicht erwehren, welch unvergleichlich höhere Ziele mit Aufwand derselben Arbeit erreicht worden wären, wenn sie nach modernen Ideen hätte verwendet werden können. Was würde z. B. ein Haußmann*) damit haben hervorbringen können.

*) Der Reformator der Stadt Paris, 1853 — 70 Seine-Präfekt unter Napoleon III.

Die Häuser der Stadt sind niedrig und in schlechtem Zustande, besonders die Fronten gegen die Straßen, die meisten Kaulläden klein und erbärmlich. Die breiten Straßen sind nicht gepflastert, und der weiche Boden ist so ausgefahren, dass jede Straße aus verschiedenen Geleisen besteht, mit einem Höhenunterschied von oft 5 — 6 Fuß. Die alten gemauerten Abzugskanäle liegen jetzt über dem Niveau der Straßen und können ihre Dienste nicht mehr verrichten. Daher ist vor jedem Haus ein Pfuhl von Schmutzwasser. Die Geruchsnerven ebenso wie die des Gesichts und des Gehörs werden fortdauernd unästhetisch affiziert. Dezenz kennen diese Leute nicht. Die Japaner stehen in dieser Beziehung bedeutend höher. Und doch gibt es bei diesen keine Scham der Nacktheit, die bei den Chinesen prinzipiell vorhanden ist, tatsächlich aber in der ekelerregendsten Weise ignoriert wird. Dazu kommt die große Armut der Bevölkerung. Peking hat keine Industrie und keine Manufakturen. Die ganze Tartarenstadt wird auf kaiserliche Kosten unterhalten. Da aber der Säckel gewöhnlich leer ist, so fehlt es am Notwendigsten. Die meisten Bewohner sind sogenannte Soldaten und halten es für eine Schande zu arbeiten.

                              Die Stadtmauer

Ganz anders ist der Eindruck von Peking, wenn man die Stadt von der Mauer aus betrachtet. Man ist erhaben über die Region des Staubes, des Schmutzes und der unangenehmen Gerüche und Szenen. Man sieht ein Häusermeer unter einem Wald von Bäumen, und in der Ferne ragen nur die Dächer der Tempel und Paläste über sie hervor. Die breiten graden Straßen nehmen sich großartig aus; sie erscheinen belebt, und man sieht nichts von den Unebenheiten. Die hohen Aufsätze der Mauer unterbrechen deren Einförmigkeit in malerischer Weise, und in weiter Ferne sieht man die entlegenen Teile derselben Mauer und die hochragenden Torgebäude angedeutet. Das Schönste an dieser Szenerie aber ist der Rahmen hochaufragender Gebirge, von denen sie im Westen und Norden eingefasst ist. Die Gipfel sind zackig, die Ketten mannigfaltig. Man sieht deutlich den Einschnitt des Hun h?, der nach der Mongolei hinaufführt.

Dort kamen einst die Mongolen her und sahen von ihren Wüsten aus das „blumige Land" *) zu ihren Füßen ausgebreitet. Im NO ist das Tor von Ku pé kóu, durch das die Mantschu eindrangen. Man erkennt von der Mauer aus in der Natur des Landes die großen Züge seiner einstigen an Umwälzungen reichen Geschichte. Versetzt man sich dann in die Gegenwart zurück, so sieht man die Sonne hinter dem westlichen Hochgebirge untergehen, und in prachtvoller Beleuchtung erscheinen Gebirge und Ebene. Es ist etwas ungemein Großartiges in dieser Landschaft, wo sich Natur und Geschichte zu gemeinsamer Wirkung vereinigen, und man wird mit allen Unannehmlichkeiten ausgesöhnt, die sich in den Straßen der Stadt darbieten. Jeden Nachmittag gegen Sonnenuntergang ging ich hier spazieren, und selbst bei einem langen Aufenthalt in Peking würde man von diesem Spaziergang täglich neuen Genuss haben. Die Fläche der Mauer ist grün bewachsen. In allen Fugen zwischen den großen Backsteinen, mit denen sie gepflastert ist, haben die Pflanzen Wurzel gefasst; oft sind nur schmale Stege dazwischen ausgetreten.

*) Tschung hwa („Blume der Mitte") ist neben Tschung kwo („Reich der Mitte") einer der gebräuchlichsten einheimischen Namen für China.

Ein interessantes Ziel dieser Spaziergänge ist die Sternwarte des Kaisers Kang hi im südöstlichen Teil der Mauer. Noch stehen die meisten seiner astronomischen Instrumente auf dem alten Platz. Es ist merkwürdig, wie wenig sie in der langen Zeit verdorben sind. Die Modelle wurden in Lissabon gemacht, die Instrumente in hoher Vollendung von den Chinesen ausgeführt und mit Drachen ornamentiert. Jetzt wissen die Chinesen kaum mehr die Bedeutung und den Gebrauch der einzelnen Instrumente, denn sie sind in der Astronomie, wie in jeder Beziehung, stetig zurückgeschritten.

Nichts bekundet wohl klarer den moralischen Tiefstand der chinesischen Nation, den gänzlichen Mangel allen Selbstgefühls, als dass sie mit Gleichgültigkeit zusehen, wie die Fremden auf den Mauern ihrer Hauptstadt frei herumgehen, während ihnen selbst der Zugang verboten ist. Sie stehen oft in Gruppen und blicken neugierig hinauf nach den seltsamen Fremden, die von dort die Stadt überschauen, aber immer nur in der gutmütigsten Art, ohne Drohungen, aber auch ohne patriotischen Unwillen. Die Japaner trotz ihrer sanfteren Natur sind mehr kriegerisch und haben mehr Selbstgefühl. Sie würden solche Vorrechte der Fremden niemals dulden, und wahrscheinlich keine andere große Nation.

Den Sehenswürdigkeiten von Peking bin ich bei diesem Besuch nicht nachgegangen. Ich war vorbereitet, dass Enttäuschungen mich überall erwarten würden, und so ging es auch denen unter uns, die ihre Zeit in dieser Hinsicht besser ausgenutzt hatten. Das ist natürlich. Die großen Bauwerke, die wir gesehen haben, sind verfallen und erscheinen uns nur noch wie aufgeputzte Ruinen, umgeben von Schmutz, bewacht von einer verkommenen Bevölkerung. Wenn wir aber den Genuss nicht in dem äußeren Anblick der alten Bauten und Kunstwerke haben können, so bleibt uns doch noch eine reiche Anregung in der historischen Erinnerung. Wir würden auch die Pyramiden mit Gleichgültigkeit ansehen, wenn sie uns nicht als Denkmale der frühesten Zivilisation eine Quelle von Empfindungen wären, die von denen ganz verschieden sind, die jetzige Kunstwerke in uns erregen. Williamson erzählte mir später, dass z. B. der Himmelstempel eine Stätte ist, in der seit 4.000 Jahren in fast unveränderter Form der Götzendienst fortgedauert hat. Man betrachtet wohl den Ort mit ganz andern Augen, wenn man dies weiß, als wenn man in ihm nur die Ruinen einst prachtvoll gewesener Tempel sieht.

                              Das europäische Viertel.

Die Gesellschaft im europäischen Viertel ist angenehm und wesentlich verschieden von der in Schanghai und andern Hafenplätzen. Der kaufmännische Geist hat doch seinen bedeutenden sozialen Einfluss, und im allgemeinen stehen die Kaufleute den Nicht-Handeltreibenden als eine besondere Kaste mit ihren besonderen Elementen gegenüber. Die Fremden in Peking haben ihre Interessen in Europa, und die Unterhaltung bewegt sich auf weiterem, freierem Boden als in den Handelshäfen Chinas, wo die Interessen vollkommen lokal sind.

Merkwürdig und einzig in seiner Art ist der Einfluss, welchen Robert Hart sich erworben hat. Das Customhouse ist zu einer mächtigen, komplizierten Maschine neben der Staatsmaschine geworden und greift mehr und mehr in verschiedene Zweige der Verwaltung ein. In der auswärtigen Politik scheint Hart allgemeiner Ratgeber der Chinesen zu sein, und die fremden Mächte müssen sich vielfach nach ihm richten. Die Customhouse-Schule ist ausgezeichnet. Junge Leute werden mit einem Gehalt von 400 £ aufgenommen und müssen Chinesisch studieren. Nach einem Jahre werden sie von Hart examiniert und, wenn tauglich, befördert. Jeder hat seinen eigenen Lehrer und studiert
auf eigene Faust. Das Lernen ist dadurch zur Sache dos Ehrgeizes gemacht, Die Meisten werden dann beim Customhouse angestellt mit 4 — 10.000 Dollars pro Jahr; einige erhalten militärische und Marine-Stellungen, andere werden Aufseher der Leuchttürme, und Hart sucht mehr und mehr Zweige der Verwaltung unter sein Ressort zu bringen.