Zweite Fortsetzung

Eins freilich haben wir an Fritz Reuters Schöpfungen zu beklagen, den Umstand, dass diese niemals das Eigentum der ganzen Nation werden können, wie etwa — um von den Schriften eines Zeitgenossen zu sprechen, die einem Vergleiche nahe liegen — die Schwarzwälder Dorfgeschichten Berthold Auerbachs ganz Deutschland angehören. Wo das plattdeutsche Idiom nicht mehr verstanden wird, da ist auch die Grenze des nationalen Verständnisses für die Bücher Fritz Reuters. — Ich will damit nicht behaupten, dass die Reuter'schen Schriften sich überhaupt nicht ins Hochdeutsche übertragen lassen — es wäre nichts leichter als das —aber mit einer derartigen Übersetzung würde der Zauber innig naiver und darum so humoristischer Naturwahrheit, vor Allem jene liebenswürdige Ironie verloren gehen, die aus dem Kontrast des derb ehrlichen Plattdeutsch gegen die fein abgeschliffene hochdeutsche Sprechweise, wie eine Art kulturhistorischer Neckerei, uns aus jedem Satz der Dichtungen Fritz Reuters schalkhaft anlacht. Würde z. B. nicht die dem Leben förmlich gestohlene Figur des „Entspeckters" Bräsig, der in seiner „gebildeten", zwischen Hoch- und Plattdeutsch bedenklich schwankenden Konversation, trotz einem Wrangel, die haarsträubendsten Attentate gegen die deutsche Grammatik und die reichlich gebrauchten Fremdwörter begeht, würde in hochdeutscher Übersetzung diese unnachahmlich köstliche Gestalt nicht ihrer ganzen vis comica, wie der Gelehrte sagt, geradezu entkleidet werden?

Eine Übertragung der Reuter'schen Schriften ins Hochdeutsche wäre kaum etwas Anderes, als wollte ein Maler die Meisterwerke der niederländischen Schule derartig kopieren, dass er die Komposition treu in den Linien nachzeichnete, die derb natürlichen Lokalfarben aber in ein klassisch italienisches Kolorit transponierte. Man denke sich eine Bauernschlägerei von Adrian van Ostade oder eine fröhliche Kneiperei in einer Dorfschenke von David Teniers in dem keuschen Kolorit Rafaelischer Madonnen- und Heiligenbilder dargestellt!


Ich meine darum, es wäre geraten, auf die Kehrseite der Titelblätter zu Fritz Reuters Büchern, statt der gegenwärtigen warnenden Affiche: „Die Übersetzung ins Hochdeutsche wird vorbehalten", in Zukunft, bei allen ersten und allen neuen Auflagen anzuzeigen: „Jedwede Übersetzung ins Hochdeutsche wird verbeten!"

Unfern des plattdeutschen Idioms nicht kundigen Landsleuten jedoch, die offene Sinne und Herzen für erquickliche Volkspoesie haben, können wir nur den Rat geben, sich um den Sprachschlüssel zu bemühen, der ihnen Zugang zu den goldenen Schätzen verschafft, die in Fritz Reuters Schriften geborgen liegen und die der Dichter auch in seinem thüringischen Mecklenburg mit vollen Händen zu Tage fördert.

Wir aber wollen an Fritz Reuter nicht bloß den ihm innewohnenden Humor des Poeten, sondern auch den Humor der weltrichtenden Geschichte verehren, der sich an ihm offenbart. Man nenne den Namen Fritz Reuters neben dem Namen eines Grafen Hahn, eines Ritters Nussbaum von Zieseldorf, eines Prügel-Blanck und was unter dem Zeichen des 3/4zölligen und 1 1/2elligen Stockes wahlverwandt dahin gehört; man vergleiche das Mecklenburg des Junkertums mit dem Mecklenburg des Volkes, wie es gemütsinnig und charaktertreu in Fritz Reuters Schriften sich darstellt, und man wird mich verstehen. — Diese mecklenburgischen Junker, alten und ältesten Stammbaumes, wie sie immer mit dem Vollblut-Viergespann, das stolze Wappen am Kutschenschlage, begleitet von galonierten Lakaien in weißen Krawatten und Handschuhen und mit allen andern Schaustellungen einer borniert hochmütigen Aristokratie paradieren mögen, sie haben Alles getan, um aus ihrem Vaterland ein Pasquill zu machen, das dem deutschen Patrioten das Blut brennender Schamröte ins Gesicht treibt, während das Ausland hohnlachend darauf hinweist. Sie haben Mecklenburg so tief erniedrigt, dass selbst der wandernde Handwerksbursche sich schämt auf der Herberge zu bekennen, dass er ein geborener Mecklenburger sei, um nicht dem Spotte und den Hänseleien seiner Mitgesellen zu verfallen. — Da tritt ein schlichter Mann aus dem Mecklenburg’schen Volke auf, der von seiner Studienzeit her in den schwarzen Büchern der politischen Polizei als Hochverräter notiert ist, der lange Jahre hindurch als politischer Verbrecher die Leiden des Kerkers mit der Aussicht auf ewige Gefangenschaft erduldet hat, und dieser Mann, der seine Heimat liebt, trotz alledem und alledem, zwingt die öffentliche Meinung Deutschlands anzuerkennen, dass es noch ein anderes Mecklenburg als das der Junker gibt, welches der Achtung, der Teilnahme, ja der Liebe des Gesamtvaterlandes Wert ist, schon um des Dichters willen. Mecklenburg verdankt seine Ehrenrettung dem Humor Fritz Reuters!

Wie hoch über dem erbarmungswürdigen Junkertume steht der Poet, der keine Ahnung davon hat, dass er mit seiner Feder eine geschichtliche Mission erfüllt!

Fritz Reuter ist kein politischer Schriftsteller wie seine beiden wackeren Landsleute, Moritz und Julius Wiggers; kein Tendenzdichter. Mit menschlich heiterem Seelen- und Federzuge schildert er das Kleinstadtleben, die ländliche Volksidylle der Heimat. Aber gerade dieser harmlos menschliche Humor straft, als spräche er in den zürnenden Flammenworten der Propheten des alten Bundes, diejenigen, die durch den Missbrauch angemaßter Gewalt ihr Vaterland und ihr Volk schänden und dem Spotte der Welt preisgeben. Aus dem tiefen Grunde der Reuter'schen Dichtungen taucht die Nemesis der Geschichte auf, die nicht bloß im antiken ionischen und dorischen Dialekte, sondern auch im mecklenburgischen Platt ihr vernichtendes Urteil spricht. Und das ist auch Humor!

Doch, da lasse ich meine Leser wohl eine gute halbe Stunde vor dem Eingangspförtchen zu dem thüringischen Mecklenburg stehen und „klöne" mit denselben über Fritz Reuters Schriften, statt sie zu diesem zu führen und ihnen den Dichter in seiner „Hüsung" zu zeigen.

„Also, meine Herrschaften, bitte mir zu folgen!" wie der Führer oben auf der Wartburg sagt, sobald er beim Überzählen der auf dem Burghofe wartenden Fremden das Dutzend voll findet — Kopf für Kopf fünf Silbergroschen.

Gleich der Eintritt in das Schweizerhaus zeigt uns, dass das Innere dem gefälligen Äußeren entspricht. Die gebohnte helle Treppe, die wir hinansteigen, der heilere Ölfarbenanstrich der Wände, die spiegelnden Fenster, das feste und doch zugleich zierliche Holzwerk an Türen, Pfosten und Simsen, das Alles erinnert an die behäbige Kajütensauberkeit eines Seedampfers. Weniger nautisch gebildete Besucher pflegen ein solches Haus ein wahres Schmuckkästchen zu nennen.

Wir schellen an der mit dem Namen „Fritz Reuter" bezeichneten Tür, Sie öffnet sich; eine Magd tritt uns entgegen, die frappant einer weiblichen Figur am Gallion eines Kauffahrteischiffes aus älterer Zeit gleicht — derb, aus Eichenholz mehr gehauen als gemeißelt, das Haar über dem Kopf verknotet, das Gesicht mit gesunder roter Ölfarbe blank bemalt, die Gewandung crinolinlos, von einem Faltenwurfe, an welchem die Axt des Schiffszimmermannes ihr ehrlichstes Stück Arbeit geliefert zu haben scheint. — Aber bei alledem erscheint sie in so fragwürdiger Gestalt; wir reden doch mit ihr.

„Herr Doktor Reuter zu sprechen?"
„Mais oui!" antwortet das Gallion in einem tiefen, rauchen Contra-Alt, „mais oui, Monsieur le Docteur est chez lui" — oder akustisch genau: „Möh fui! Mussjö lö Tocteur ö schö lui“— „der Herr Toctor sein zu Hause" — „ö moa schö swi la conzörsch (la concierge)" — „in dieser Hinsicht werde ich Ihnen melden." „Attendöss uhn pö ssil vous plö!" — „tun Sie nur etwas warten!"

Wie, hören wir recht? Da lacht uns ja schon an der Schwelle zu des Humoristen Wohnung ein ganzes Mirakel von Humor entgegen! Die Türhüterin des plattdeutschen Fritz Reuter ein altes Schiffsgallion, das französisch spricht ?? und welch ein Französisch! und wiederum ein Hochdeutsch, das uns, wie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammend, gespensterhaft anklingt. Beim Himmel, ist das gleich Tollheit, so ist kaum Methode darin!

Aber wir werden in unserm heitern Anstaunen unterbrochen durch eine milde Frauenstimme, die an der weit sich öffnenden Zimmertür uns freundlich zum Eintreten nötigt. Diese Stimme gehört der Frau Doktor Reuter an, die eine fernere Verhandlung mit der wunderlichen Erscheinung abschneidet. Bei Reuters wird nicht antichambriert, wenn auch Mademoiselle la conciergo, die wir noch besser kennen lernen werden, etwas gar förmlich die Honneurs an der Haustüre macht. Eine feste, breite Männerhand streckt sich uns zum herzlichen „Willkommen!" entgegen. Es ist Fritz Reuter.

Fritz Reuter, geboren zu Stavenhagen im Mecklenburgischen — wann? ja wann post Christum natum? — Zu meiner Schande muss ich gestehen: „Ich weiß nicht mehr das Datum," wenn ich's ! überhaupt je gewusst habe. Fritz Reuter hat mit mir niemals über seinen Geburtstag gesprochen; ein Konversationslexikon neuester Auflage — es ist noch die Frage, ob Reuter darin steht — habe ich nicht zur Hand und ich erinnere mich auch nicht aus Reuters Schriften, dass er irgendwo über Jahr und Tag seiner Geburt spricht. Nach ungefährer Schätzung wird er eben die Mitte der Fünfziger überschritten haben. Aber ich will ja auch dem Leser hier keine Biographie Fritz Reuters geben — die bleibe eben dem Konversationslexikon und der Literaturgeschichte vorbehalten — sondern so eine Art photographisches Bild, wie Verehrer und Verehrerinnen eines Schriftstellers es gern in ihr Album einreihen. Und ich meine Fritz Reuter hinlänglich zu kennen, um ein solches Momentbild, ohne alle Retouche, rein nach der Natur zu liefern.

Ob er mir aber, inmitten seiner häuslichen Umgebung, zu dem Bilde sitzen will? — Bah! fragt der Kriminalrichter den eingelieferten Inquisiten, ob dieser für den eventuell zu erlassenden Steckbrief dem Photographen sitzen will?