Erste Fortsetzung

Vor den Fenstern seines Arbeitszimmers rauschen und wogen die Baumwipfel aus tiefem Felsengrund; von seinem Schreibtisch aber schaut er sinnenden Blickes, das Herz voll Heimweh und Heimlust, hinein in die weitgestreckten fetten Bodenflächen Mecklenburgs. Gehöfte und Dörfer tauchen auf mit landwirtlich derben Staffagen um Haus und Scheuer, mit Eggen, Pflügen, Rüstwagen, Düngerhaufen, Pfützen, mit Pferden kräftig runden Schlages, breitgehörnten, feisten Rindern, grunzenden Schweinen, mit gänsebrüstigem und sonstigem Federvieh, überhaupt Allem, was zum lebenden und toten Inventarium einer ländlich mecklenburgischen Idylle gehört. Aus den frisch gerissenen Furchen des Sturzackers duftet der Brodem mecklenburgischer Erde. Zwischen Pappeln und geköpften Weiden schleicht eine Landstraße über die weite Ebene dem Horizont zu. Eine Postkutsche arbeitet sich eben durch das tief ausgefahrene Geleise hindurch. Der Schwager wird wohl nichts dagegen haben, dass die Phantasie des Dichters als „blinder Passagier" aufhockt. Das Fuhrwerk fliegt nur um so rascher dahin. Hat doch der Poet seinen Pegasus mit vorgespannt. Da grüßen schon über enggedrängte Giebel und Dächer hinüber die Türme von Malchin, Parchim, Dömitz, „Bramburg", „Stemmhagen". Das alte Vaterhaus erschließt sich dem Dichter. Er streift durch die Straßen, in denen sich die Erinnerungen seiner Kindheit tummeln; er besucht alte Schulfreunde, Nachbarn und wunderliche Käuze seiner Bekanntschaft. Die Meisten deckt längst das Grab, dem Dichter aber leben sie. Von allen Seiten umtönt ihn das landsmännische Plattdeutsch in voller Treuherzigkeit und Einfalt altväterisch ererbter Ausdrucksweise und doch wiederum so voll natürlichen Humors und lebendigen Volkswitzes. Die patriarchalische Idylle, wie sie in Mecklenburg noch zu Hause ist, der bürgerliche Lebensroman, wie er dort in räumlich und sozial eng zugeschnittenen Verhältnissen sich abspinnt, die ergötzliche Schnurre etc., das Alles zieht in bunten Erlebnissen und Gestalten an des Dichters geistigem Auge vorüber und doch in der ganzen Frische der Gegenwart, als wärs noch greiflich, unmittelbar, blutwarmen Hauches. Und was er so schaut und empfindet, schreibt Fritz Reuter aus seinem Herzen und seinem Tintenfasse mittheilsam nieder im ehrlichen Platt, auf dass seine plattdeutschen Mitmenschen sich daran erbauen und ergötzen. Die Hinstorff'sche Hofbuchhandlung in Wismar und Ludwigslust aber lässt es in Rostock drucken auf etwas gar „grisem" Papier, das an die alten deutschen Volksbücher „gedruckt in diesem Jahre" erinnert, als wollte der Verleger auf diese Weise seines Autors Volkstümlichkeit noch besonders illustrieren, was er gar nicht nötig hat.

Fritz Reuters Bücher sind in Tausenden und Abertausenden von Exemplaren, in immer neu sich folgenden Auflagen, über das weite Sprachgebiet des plattdeutschen Idioms und noch weit darüber hinaus gewandert; über die preußischen Marken und Pommern hinauf gen Osten, wo an der Weichsel der in plattdeutscher Volksmundart gebotene Tagesgruß der dankenden Erwiderung in slawischer Zunge begegnet, und höher hinauf über den Pregel hin, wo an einem Tische in der Dorfschenke nicht selten plattdeutsche „Dönchen" mit litthauischen Dainos wechseln. Dann wieder westwärts, hin über Niederelbe und Weser, über den braunschweigischen und hannoverschen Harz, hinunter bis an den friesischen Küstensaum, dann abwärts über das Münsterland zum Niederrhein, überall allüberall sind Fritz Reuters Schriften die Zierde des Familien Bücherschrankes und die zerlesensten Bücher der Leihbibliotheken. Auch im europäischen Auslande, auch jenseits des atlantischen Ozeans, in New-York, am Mississippi, Missouri, in Kalifornien, inmitten der mexikanischen Sierren, in Honolulu, in der Havanna, kurz wohin nur Mecklenburger und Hamburger Kinder, Schleswig-Holsteiner, Hannoveraner, Oldenburger etc. von Geschäftswegen verschlagen worden sind, wird jede neue Schrift Fritz Reuters mit Jubel begrüßt als ein treuer Bote, der gar viel Herziges und Anmutendes aus der fernen Heimat zu erzählen weiß.


Für seine des Plattdeutschen kundigen Landsleute ist Fritz Reuter ein Dichter am häuslichen Herde geworden.

Ich nenne ihn einen Dichter, obwohl gerade die dem Leser silbenweis zuskandierten und in Reime gefassten Dichtungen — ich nehme die im Einzelnen so wunderliebliche „Vagel- un Minschengeschicht: Hanne Nüte" nicht aus — nicht das Bessere sind, was Fritz Reuter geschrieben hat; ich nenne ihn einen Volksdichter, wenn auch kein Lied von ihm im Munde des Volkes lebt. Er darf in seiner Weise dem Franzosen Beranger dreist das Wort nachsprechen: Le peuple e'est ma muse!" — Hat doch in der Tat Fritz Reuter bereits seinen tönenden Rhapsoden gefunden! Ich erinnere an den Mecklenburger Schulmeister, der vor Kurzem eine förmliche Kunstreise durch einen Teil von Norddeutschland gemacht hat, um vor einem großen, entzückt lauschenden Publikum, wie z. B. in Hamburg, Erzählungen von Fritz Reuter mit dem echten Akzent und in der naiven Tonart des Mecklenburger Platt vorzutragen. In einer Residenz — ich glaube in Schwerin war's — wurden ihm sogar die Vorlesungen von Polizeiwegen verboten, weil dieselben dem Besuche des Theaters Abbruch taten.

Man kann aber außerdem sicher sein, fast in jedem geselligen Kreise des nördlichen Deutschland Jemanden zu finden, der sich auf seine Virtuosität im Vorlesen Reuter'scher Dichtungen etwas zu Gute zu tun weiß und der für alle Fälle einen Band derselben in der Tasche mit sich führt. Selbst in vornehmen Zirkeln, wo sonst Musik, Ästhetik und die Phrase des höheren Schliffs herrscht, ist mit Fritz Reuter das Plattdeutsche mehr als bloß salonfähig geworden; es ist an der Tagesordnung oder — um mich korrekt auszudrücken — an der Abendordnung der Salons. — Ich bin in Hamburg auf einer Soiree eines mit Millionen an der Bank bezifferten Hauses gewesen. Die glänzenden und zugleich Komfortabel eingerichteten Gesellschaftsräume zeugten von jenem feinfühligen Geschmack, den der prahlende, beutelstolze Parvenü sich nimmer aneignen wird. Der prachtvolle Flügel war geöffnet. Auf dem Notenpulte lag eine Chopin’sche Etüde aufgeschlagen und harrte der kunstfertigen Finger der Dame vom Hause, die, wie mir bekannt, mit einer an Meisterschaft grenzenden Virtuosität ihr Instrument zu beherrschen wusste. Es fehlte auch nicht an einer Sängerin, deren seelenvollem Augenaufschlage man es ansehen konnte, dass sie sich für Mendelssohns „Auf Flügeln des Gesanges" im Voraus stimmte; auch war ein tüchtiger Baryton da, mit dem sie aus elastischen und neueren Opern manch reizendes Duett beifallssicher vortragen konnte. Ein Cello lehnte in einer Ecke neben einem Violinkasten. Es war sichtlich Alles auf einen musikalischen Abend eingerichtet.

Da zog einer der Gäste, der als leidenschaftlicher und auch guter Fritz Reuter-Vorleser bekannt war, einen Band der „Olle Kamellen" aus der Tasche, Einigen aus der Gesellschaft vertraulich mitteilend, er habe das Buch für den Notfall mitgebracht, um unter Umstanden eine Lücke im Repertoir der Unterhaltung damit auszufüllen. Aber der Name „Fritz Reuter" und „Olle Kamellen" war von den Nächststehenden gehört, das Buch gesehen worden, und „Fritz Reuter" und „Olle Kamellen" ging es von Mund zu Mund durch den Saal. Bald war der erwähnte Herr von der ganzen Gesellschaft umdrängt. „Bitte, bitte, vorlesen!" klang es von allen Seiten. Das dringende Ersuchen des Herrn und der Frau vom Hause, welche letztere liebenswürdig auf die eignen Lorbeeren verzichtete, um ihrer Gesellschaft und ihrer selbst willen — denn auch sie gehörte zu den Verehrern Fritz Reuters — machte dem höflichen Sträuben, das der Gast der Erfüllung dieses Wunsches entgegensetzte, ein Ende.

So wurde denn aus der projektierten musikalischen Soiree mit Chopin, Mendelssohn, Figaros Hochzeit, Casta Diva und was sonst noch — ein plattdeutscher Fritz Reuter-Abend. Wohl an zwei Stunden hing die Gesellschaft am Munde des Vorlesers, in stetem Wechsel von heiterem Lachen und tiefer Rührung, die auf allen Gesichtern lag und in leisen und lauteren Ausrufen sich kund gab. Ein eigentümliches Phänomen aber war es, wie nachher an der mit fürstlichem Luxus servierten Tafel, in einer der gewähltesten Gesellschaften Hamburgs, wo sonst ein unvorsichtig ausgestoßenes plattdeutsches Wort betrachtet wurde wie etwa eine plebeje Matrosen Teerjacke, die sich in einen eleganten Cercle gedrängt, hinüber und herüber plattdeutsche Scherzworte gewechselt wurden. Selbst junge Damen, denen man noch die französische Pension anmerken konnte, bewiesen ohne Scheu ihre Geläufigkeit im hamburgschen, dem mecklenburgschen geschwisterkindlich ähnlichen „Pladddütsch", das sie als Kinder noch mit den allbürgerlichen Großeltern, mit Amme und Dienstboten geplaudert. Und je kleiner und rosiger der Mund, um so allerliebster stand ihm das treuherzig neckische Platt.

So weiß Fritz Reuter mit der Wünschelrute Poesie das Herz des Volkes auch in jenen Schichten zu finden und zu rühren, die als höhere Gesellschaft ihr Leben von dem Leben des Volkes getrennt haben. Was unser Schiller in seinem Liede „An die Freude" sagt:

„Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,"

das gilt auch von der wahrhaften, aus freudiger Seele quellenden Volkspoesie.

Diese allgemeine Volkstümlichkeit verdankt Fritz Reuter lediglich seinem treuen Humor, der den Kern seines ganzen inneren Menschen bildet. Er ist ein echter Poet, weil er ein echter Humorist ist. — Es ist unseren Ästhetikern noch nicht gelungen, den Begriff des Humors in fasslicher, erschöpfender Definition festzustellen; der Humor spottet eben humoristisch der haarspaltenden Gelehrsamkeit, die sein ungebundenes Wesen in ein trockenes Schema hineinzwängen will. Und wenn wir Fritz Reuter selbst fragten, wie er denn eigentlich seinen Humor zu Wege bringt, er würde uns kein anderes Rezept geben können, als dieses: „Nimm einen Bogen Papier, eine Stahlfeder oder auch nach Belieben einen Gänsekiel, befeuchte diesen von Zeit zu Zeit mit einigen Tröpfchen Tinte und schreibe nieder, was dir Kopf und Herz diktieren. Punctum!" Aber was bedarf auch die Welt der Definition des Humors! An seinen Werken erkennt sie den Humoristen, der den schlummernden Humor in ihrem eignen Herzen weckt. Das ist genug. —

Fritz Reuter hat nicht, wie Cervantes, die Welt mit einer unsterblichen, tragikomischen Figur des übermütigen Humors beschenkt; er hat nicht — um lieber von einem gar trefflichen deutschen Humoristen zu reden — wie Carl Immermann in seinem „Münchhausen", ein anmutig inniges Liebesleben von duftig poetischem Hauche in eine Arabeske hineingezeichnet, aus deren wilden Ranken, Blüten und Blättern uns gar märchenhaft närrische Zerrbilder anlachen. Nirgends in seinen Schriften begegnet uns eine Karikatur, die in allegorischer Übertreibung der menschlichen Torheit spottet; nirgends führt er uns Verhältnisse und Schicksale vor, die über die Sphäre bürgerlicher Möglichkeit hinaus sich ins Abenteuerliche verlieren oder für die nur der Dichter den Glauben seiner Leser fordern kann. Die Menschen, wie sie uns aus Fritz Reuters Büchern entgegentreten kommen uns in ihren Physiognomien, ihrer Haltung, Sprechweise und ihrem Gehaben, selbst in ihrer Kleidung so bekannt vor, als müssten mir sie schon irgendwo gesehen haben, oder als könnten wir denselben jeden Tag begegnen. Auf gleiche Weise nimmt das Schicksal dieser Menschen, das Fritz Reuter im bunten Wechsel von heiteren und ernsten Verwicklungen vor unseren Augen sich abspinnen lässt, den Verlauf eines gewöhnlichen Alltagsschicksals an, wie es nun einmal in den enggezogenen Verhältnissen des Kleinlebens „ländlich — sittlich" zu sein pflegt. — So bin ich vor Kurzem noch in Gotha von einem Verehrer Fritz Reuter'scher Schriften, für dessen Ungeduld der dritte Band von „Ut min Stromtid" gar zu lange auf sich warten ließ, alles Ernstes, als ob es sich um wirkliche Lebensverhältnisse handelte, gefragt worden, ob ich nicht müsste, ob der Herr von Rambow auf Pümpelshagen doch am Ende durch seine steigenden Geldverlegenheiten genötigt sein werde, sein Gut an den gemeinen Kerl, den Zamwell Pomuchelskopf, gegen einen Spottpreis abzutreten, oder ob vielleicht der Jude Moses noch einmal sich herbeilassen werde Geld vorzuschießen. — Ich wusste dem Herrn keine bessere Antwort zu geben, als dass ich ihm achselzuckend bemerkte, ich müsste über diese Angelegenheit noch ein diskretes Schweigen beobachten — wobei derselbe sich denn auch beruhigte.

Aber das ist eben das Verdienst Fritz Reuters, dass er seine Schöpfungen zu Erlebnissen seiner Leser macht, dass er diese zur Mitleidenschaft, zur Teilnahme an dem Geschicke schlichter Menschen zwingt, an denen sie sonst kalt und teilnahmslos vorübergehen. Die optische Täuschung, dass der Leser selbst zu finden glaubt, was der Dichter für ihn gefunden, ist eben der Triumph des Dichters.

Fritz Reuter nimmt die Menschen wie sie sind, aber wie sie sich nur den humanen Anempfindungen des Humoristen offenbaren. Die Gestalten treten aus des Dichters schöpfungsfreudiger Seele wie aus einem goldig lichten Hintergrunde hervor. Ein mild ironischer Zug umspielt selbst die trüben Ereignisse, die der Dichter ebenso wenig wie das Leben seinen Menschen ersparen kann. In Fritz Reuters Dichtungen ist nirgends etwas Weinerliches, ungesund Sentimentales. Auch in verzweifelten Lebenslagen erscheinen die komischen und naiven Persönlichkeiten in der vollen Komik und Naivität ihres Wesens, dessen sie sich nun einmal nicht entäußern können. Es hilft dem Leser nichts — er mag noch so gerührt und erschüttert sein — er muss unter Tränen lächeln, vielleicht auch lachen. —

Hat doch auch der freudig goldige Glorienschein des Humors das Haupt des Dichters umleuchtet in den Kasematten preußischer Festungen, wo er, zu vieljähriger Gefangenschaft anstatt der Todesstrafe begnadigt, das Verbrechen abbüßen sollte als studierender Jüngling nutzlos für die deutsche Einheit geschwärmt zu haben. Man schrieb damals die dreißiger Jahre, in Preußen regierte Friedrich Wilhelm W., und Herr v. Kamptz führte die politischen Untersuchungen.

Die elende Philisterseele, die Fritz Reuters von Humor übersprudelndes und doch so rührendes Buch „Ut min Festungstid" ohne Lachen, ohne Tränen und ohne Ingrimm lesen könnte, verdiente einen besonderen Ehrenplatz unter den Amphibien der vorzüglichsten aller zoologischen Garten Deutschlands.