Es gibt vielleicht kein Volk, was so leicht zu bewegen ist, seine Heimat zu verlassen, als das russische.

Aus: Die deutschen Ansiedlungen in Russland - Einleitung 02
Autor: Matthäi, Friedrich (?-?) Offizier der kögl. Sächs. Armee, corresp. Mitglied der Kaiserl. freien ökonomischen Gesellschaft, sowie der Gartenbaugesellschaft zu St. Petersburg, Erscheinungsjahr: 1866
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Deutsche, Heimat, Auswanderung, Auswanderer, Kolonisten, Das Geschäftsleben der Bäcker und Apotheker, der Schneider, der Kaufleute, der Buchhändler, der Lehrer, Privatlehrer, Hauslehrer, Gymnasiallehrer, Universitätslehrer, Das Gesellschaftsleben, Die gute Gesellschaft, Die schlechte Gesellschaft, Die Frauen, Die Karten, Die Musik
Es gibt vielleicht kein Volk, was so leicht zu bewegen ist, seine Heimat zu verlassen, als das russische. Schon auf die Nachricht hin, dass in irgend einem Teile des Landes die Krone Ländereien an die Bauern verteilt, und dass das Land gut und fruchtbar sei, sieht man ganze Ortschaften ohne Weiteres, ohne alle Vorbereitungen, selbst ohne obrigkeitliche Erlaubnis auswandern und auf gut Glück nach jenen gepriesenen Gegenden ziehen. Solche Fälle kamen erst noch ganz kürzlich in den großrussischen inneren Gouvernements vor, wo ganze Dorfschaften ohne Weiteres sich aufmachten und nach dem Kaukasus zogen, wo ihnen ihrer Ansicht nach die Krone das nötige Kulturland anweisen würde. Dies ist ein eigentümlich charakteristischer Zug der Russen, der ihnen von Alters her bis auf den heutigen Tag eigen blieb. Man muss sich hüten den Bauern von neuem Lande zu sprechen, denn der Wunsch dahin auszuwandern, tritt dann bei ihnen so lebhaft in den Vordergrund, dass es schwer hält, sie davon abzubringen, besonders aber dann, wenn es ihnen schon einige Mühe verursacht, ihr eigenes, durch schlechte Wirtschaft vernachlässigtes Land in einem ertragreichen Zustand zu erhalten.

Die russische Geschichte ist zugleich auch, und bis auf den heutigen Tag, die Geschichte der inneren Kolonisation dieses Riesenreiches, die als nächste Folge der ersteren auftritt. Besonders das Vordringen der russischen Nationalität nach dem, Süden zeigt dies in auffallender Weise. Kaum war daselbst die Macht des Halbmondes gebrochen, so sehen wir schon die südlichen Steppen dicht bis an die Ufer des schwarzen und asowschen Meeres mit russischen Ansiedelungen bedeckt, und noch heutigen Tages entwickelt sich uns dort und an der Wolga das Bild der Weiterkolonisation aus den Mutterkolonien, das uns Harthausen schon vorgeführt. In diesen Gegenden hat aber auch das deutsche Element mehr Boden und einen kräftigen Halt gewonnen, so dass es das russische in gewisser Beziehung überflügelt. Die Zahl der sich bis auf den heutigen Tag immer neu bildenden Kolonien, hervorgehend aus den benachbarten Mutterkolonien ist eine beträchtliche und hat ihr Ende noch lange nicht erreicht. Die Details darüber werde ich, was die deutschen Kolonien anlangt, im ersten Abschnitte dieses Werkchens, so viel mir nach den neuesten Mitteilungen des kaiserlichen Domänenministeriums möglich ist, geben.

Ein Umstand war es aber besonders, welcher die innere Kolonisation begünstigte. Das Gouvernement verschenkte nämlich, zu manchen Zeiten selbst in verschwenderischer Weise, große und weitausgedehnte Landstrecken an verdienstvolle Staatsmänner, Günstlinge, und dem hohen Adel angehörende Personen, die sich um solche zu den damaligen Zeiten beinahe wertlose Ländereien bewarben, um dieselben der Kultur zu erschließen und um sie zu bevölkern. Sie versetzten denn auch aus ihren Gütern im Inneren des Reiches leibeigene Bauern auf ihre neuen Erwerbungen und siedelten sie daselbst als Gemeinden an, mit der Verpflichtung, das Land ihrer Grundherren zu bebauen. Diesem Umstande ist das Entstehen vieler Ortschaften und Dörfer, namentlich in dem südlichen Teile Russlands zu danken, in deren Nähe sich noch heute die großen adligen Besitzungen befinden. Wenn auch diese Art von Kolonisation ihr Gutes hatte, so hatte sie doch auch viele Schattenseiten, zu denen namentlich gehört, dass den ursprünglichen Kulturzwecken nur sehr oberflächlich entsprochen wurde, und dass es mit der Zeit der Krone an Land gebrach, um darauf wirklich brauchbare Kulturkräfte anzusiedeln, oder den sich bildenden neuen Kolonien das ihnen unentbehrliche Land zuzuweisen. Noch heute finden wir im Süden das fruchtbarste Land unbenutzt und unkultiviert, allein die Krone besitzt nicht mehr das Dispositionsrecht über dasselbe, da es zu alten Zeiten durch Schenkungen in Privathände übergegangen ist.

Drei Landesteile sind es vorzugsweise, die gegenwärtig bestimmt zu sein scheinen, für die innere Kolonisation zu dienen: Polen, der Kaukasus und Sibirien mit dem Amurlande. Obgleich es der russischen Regierung nur erwünscht sein kann, die Kolonisation dieser Länder mit russischen Kulturkräften ausgeführt zu sehen, so beschränkt sich dieselbe doch nur darauf, denjenigen Kolonisten, die sich im Kaukasus und in Sibirien anzusiedeln wünschen, unentgeltlich Ländereien anzuweisen und ihnen sonst bei ihrer Ansiedelung in geeigneter Weise behilflich zu sein, in Polen dagegen verkauft sie nur ihre Krongüter unter für die Käufer sehr vorteilhaften Bedingungen. Im Kaukasus, das ohnedem eine reiche Fülle des ergiebigsten Kulturlandes aufzuweisen hat, ist durch die massenhafte Auswanderung der dort ansässig gewesenen mohammedanischen Bergstämme noch mehr Land disponibel geworden. Dort wurden zuerst verschiedene Kosakenstämme, wohl gegen 200.000 Seelen angesiedelt, und dorthin ziehen denn auch jetzt große Massen russischer Kolonisten aus den inneren Gouvernements, und es ist wohl Aussicht vorhanden, dass sich dieses in mehrfacher Beziehung so äußerst begünstigte Land bald mit brauchbaren Kulturkräften bevölkern werde.

Nach Sibirien dagegen, sowohl nach West-Sibirien, als auch nach Trans-Baikalien und den angrenzenden Teilen des Amurgebietes, erfolgt die freiwillige Einwanderung still und geräuschlos schon seit Jahren. Auf einer Reise, die ich vor zwei Jahren nach Sibirien machte, sah ich fast tagtäglich ganze Wagenzüge solcher freiwilliger Kolonisten aus den nordöstlichen Gouvernements Russlands, die, angelockt durch den fruchtbaren und ergiebigen Boden Südsibiriens, die ihnen gewährte Bewilligung zur Ansiedelung daselbst benutzten, um sich jenseits des Urals eine neue Heimat zu gründen. Auch die reichen Goldwäschereien Sibiriens locken viele Ansiedler, namentlich Arbeiter dahin, weil sie daselbst einen fabelhaften Verdienst finden. Der Verdienst ist wohl da, allein er hält nicht vor, ja wird sogar zum Unglück der meisten durch ihn Verlockten, die sich fast durchgehend einem wüsten Leben hingeben, das verdiente Geld verprassen, physisch und moralisch versinken, und in der Regel ärmer, wenigstens verwildeter aus den Goldwäschen heimkehren, als sie dorthin gegangen sind. Für den friedlichen, arbeitsamen Ackerbauer ist allerdings das südliche Sibirien das Land einer schönen Zukunft. In politischer und merkantilischer Beziehung ist es für Russland von großer Bedeutung, und wird dereinst von noch größerer Bedeutung werden. Sobald die Wasserstraßen Sibiriens benutzt werden, wie sie benutzt zu werden es verdienen, wird ein großer Teil Westsibiriens sowohl in seinen Beziehungen zu Russland als in denen zu Zentral-Asien eine hervorragende Stellung einnehmen. Es ist aber für diesen Fall vorzugsweise notwendig, dass tüchtige Kulturkräfte, und in einer entsprechenden Menge dahin verpflanzt werden, und vielleicht wäre es schon jetzt an der Zeit, dass die russische Regierung die sibirische Kolonisation nicht gewissermaßen sich bloß selbst überlässt, sondern sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln begünstigt. In diesem Momente ist allerdings hierzu wenig Aussicht, denn das maßgebende allgemeine Schlagwort ist die innere Konsolidierung, und diese fangt man nicht in Asien an. Allein nicht bloß die Gegenwart, sondern auch die Zukunft hat ihre Rechte, besonders in staatswirtschaftlicher Hinsicht, und in dieser Beziehung dürfen auch die östlichen Lande, welche den Schlüssel zu Central-Asien bieten, trotz der momentan entgegenströmenden Zeitrichtung nicht vernachlässigt werden. Die Ausbreitung der russischen Macht vom Aralsee und dem orenburgischen Gouvernement nach Osten, die schon heute zur Tatsache geworden ist, verfolgt ja denselben Zweck und vielleicht hätte er sich nicht minder rasch und für Russlands Entwickelung jedenfalls ersprießlicher erreichen lassen, wenn man durch die Schiffbarmachung der sibirischen Wasserstraßen den dortigen Handel begünstigt und durch eine energische Herbeiziehung kräftiger Kulturelemente den russischen Einfluss gekräftigt hätte. Wenigstens bedingt die Verfolgung des einen Weges nicht die Vernachlässigung des andern, und wären beide gleichzeitig betreten worden, so wäre Russland in Verfolgung seiner asiatischen Zwecke vielleicht schon weiter vorgeschritten. Die Eroberungen durch eine fortschreitende Kultur sind sicherer und nachhaltiger, als die durch Feuer und Schwert, die doch schließlich nur durch die nachfolgende Kultur, und zwar unter weit schwierigeren Verhältnissen sicher gestellt werden können. Kultur ist Macht, und ihr beugen sich auch die wildesten Völker!

Neben der inneren Kolonisation Russlands durch innere Kulturkräfte, welche ohne direkte Beeinflussung der russischen Regierung stattfand, begegnen wir aber in der Kulturgeschichte Russlands noch einer zweiten, welche unter direkter Einflussnahme der Regierung erfolgte, und welcher die Erreichung spezieller Staatszwecke zu Grunde lag. Hierher gehören die Militärkolonien, die Kolonisation auswärtiger Kulturkräfte und in gewisser Beziehung die sibirische Kolonisation.

Letzterer habe ich in einem ihrer Teile schon Erwähnung getan, der freiwilligen Ansiedelung; hier fei der Vollständigkeit wegen auch der gezwungenen Ansiedlung in Sibirien gedacht. Die minder schweren Verbrecher Russlands, solche die nicht zu Zwangsarbeiten in die Bergwerke verurteilt worden, werden ebenfalls nach Sibirien verschickt, allein zur Ansiedelung. Es werden ihnen die notwendigen Ländereien zugewiesen, ihnen auch die angemessenen Mittel zur ersten Einrichtung gewährt, ihren Frauen und unmündigen Kindern die Mitübersiedelung gestattet. Zwar wird keine besondere Rücksicht auf die Heimatsgouvernements der Ansiedler genommen, allein die Ansiedlungen selbst erfolgen ordnungsgemäß und viele derselben erfreuen sich schon nach wenigen Jahren eines gewissen Wohlstandes. Die Not macht die Leute arbeitsam, und in ihren entlegenen Ortschaften finden sie verhältnismäßig wenig Gelegenheit, sich auch ferner den Lastern ihres früheren Lebens zu ergeben. Sie werden der Klasse der Kronbauern zugeschrieben. In volkswirtschaftlicher Beziehung kann auch diese Art der Kolonisation von Bedeutung werden, und hätte sie nur den Erfolg, aus herumstreifenden Vagabunden tüchtige und brauchbare Arbeiter zu machen, so würde sie schon ihrem Zwecke vollständig entsprechen. Die protestantischen Verschickten, großenteils Ehsten und Finnen, werden in besondere Kolonien untergebracht und wird auch nachgerade dafür gesorgt, dass sie der geistlichen Seelsorge nicht ganz entbehren.

Astrachan

Astrachan

Die Kathedrale zur hl. Sophie in Nowgorod

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Dorf an der Wolga

Dorf an der Wolga

Riga

Riga

Russische Kirche

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Universität in Dorpat

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Usbeken auf dem Pferdemarkt

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Wilna

Wilna

Kasan, russische Stadt

Kasan, russische Stadt