Fortsetzung

Ich will mich nicht länger dabei aufhalten, alle Gräuel des kirchlichen Fanatismus, welche mir die Geschichte vorlegte und die Reflexionen, zu welchen sie mich veranlassten, hier niederzuschreiben. Widersprechende Elemente gärten in meinem Innern und raubten mir manche frohe Stunde der Kindheit, aber eben die Kindheit half mir auch wieder darüber hinweg. Das Alter vom achten bis zum zwölften Jahre ist nicht dazu geeignet, einen Kampf gegen die gleichsam mit der Muttermilch eingesogenen religiösen Begriffe mit Verstandeskräften zu führen. Bei allen meinen Zweifeln, welche ich mir stets als Sünde anrechnete, ohne sie los werden zu können, war ich ein guter Katholik, nur dass ich lange Gebete nicht liebte; die angenehmste Art zu beten war mir immer bei Prozessionen die Litanei, der Geistliche betete z. B. vor: „du Turm Davids", die Gemeinde antwortete: „Orebranobis" (ora pro nobis), „du elfenbeinernes Haus", „Orebranobis", „du Sitz der Weisheit", „Orebranobis" u. s. w. das war doch schön, man konnte sich dabei ein wenig umsehen, etwas Anderes denken und ging immer weiter fort. Trotz dieser Zweifel hielt ich mich sogar für kräftig genug, mit jedem Ketzer zu disputieren, ihm die Wahrheit der katholischen Lehre zu beweisen und ihn hoffentlich zu bekehren.

Mein inneres Zerwürfnis ging meistens aus dem Gemüte und der Phantasie hervor, die Ideen von ritterlicher Großmut und Treue, das Mitleiden mit den gequälten Ketzern und Verdammten, waren die Haupthebel dieser Richtung meiner Geistestätigkeit, Betrachtungen wie jene beim Messedienen waren zufällige Gedankenblitze, welche der Gehorsam gegen die Lehren der Kirche noch lange niederdrückte.


Während dieses lebendigen inneren Lebens floss das äußere in dem gewöhnlichem Gleise des Kinderlebens dahin.

Nach dem Durchgang durch die untern Schulklassen besuchte ich 1 1/2 Jahr lang die lateinische Schule, aber die Idee des Studierens wurde aufgegeben, weil es einerseits der Mittel wegen mehr als bedenklich aussah, und andererseits fehlte mir selbst eine Leitung, welche mir den Zweck des Studierens klar gemacht und meine kindischen Ansichten berichtigt hätte.

Zum Studieren zog mich die Freiheit des Studenten, von welcher ich oft zu hören hatte, ohne deshalb so recht einen Begriff davon zu haben, ich sah das ungenierte Leben und Auftreten der Studenten; die Uniformen, welche sie sich in den neunziger Jahren mit Abzeichnung der drei Fakultäten beigelegt hatten, machten sie zu einer Art von Respektspersonen in meinen Augen. Dies Alles gefiel mir, aber in der Sache selbst gab es gar manchen Anstoß.

In jener Zeit wo so viele Personen nicht schreiben konnten, galt eine schöne Handschrift (wenigstens im Volke) für ein tüchtiges und notwendiges Stück der Gelehrsamkeit; je höher ein Mann stand, je gelehrter er war, desto schöner musste er nach meiner Meinung schreiben können — und leider! dies wollte nicht gehen, meine Handschrift blieb flüchtig und nachlässig, die lateinischen Buchstaben waren vollends hölzern, ich sah ein, dass mir das erste Erfordernis zum Gelehrten fehlte.

Dieses trat recht deutlich hervor, als einmal ein Teil der Klasse beschloss, ihrem in den Ferien abwesenden Lehrer zu schreiben; mit allen Materialien ausgerüstet, trafen wir uns auf dem einsamsten Punkte des Gattenfeldes bei einem im Freien stehenden Tische, die besten Schreiber machten den Anfang „Lieber Herr Lehrer!" Nun wurde Rat gehalten, wie weiter — aber weder im allgemeinen Rat noch im Einzel-Versuche ging es über den „lieben Hrn. Lehrer" hinaus, und doch wussten wir Alle so ziemlich, was wir schreiben wollten. Mit den Worten, „lasst mich's auch einmal probieren", ergriff ich eine Feder. — „Ach, du kannst ja nicht schreiben", sprachen die Einen, — „nun lasst es ihn probieren", die Andern — ich stoppelte nun, übel und böse, eine Epistel zusammen, die so ziemlich dasjenige enthielt, was wir sagen wollten. Meine Schrift fand allgemeinen Beifall, „aber siehst du, du kannst es ja doch nicht schreiben", sagte mein geschickterer Schulkamerad. Dies sah ich nun freilich ein. — „Aber weißt du was”, fuhr Jener fort, „ich will es abschreiben" — und dabei blieb es.

Zu diesem trostlosen Bewusstsein kam noch eine zweite und dritte Besorgnis. Es kamen mir griechische und hebräische Bücher zur Hand; wer studiert, sagte ich mir, muss dieses lesen und schreiben und verstehen lernen und die sich so grausig darstellende Schrift machte mir nicht wenig Angst, die größte aber verursachte mir ein ziemlicher Band von syntaktischen Regeln; dieses Alles, sprach ich zu mir, muss ein Gelehrter auswendig lernen, das ist mir nicht möglich, rief ich voll Jammer aus!

Das Auswendiglernen war mir stets ein hartes Pensum; ich war recht wohl im Stande, einen vernommenen Vortrag zu wiederholen und eine gegebene Aufgabe ziemlich richtig herzusagen oder eine Frage frei zu beantworten, aber es war mir meistens unmöglich, mich streng an die Worte zu halten, mein Auswendiglernen war meistens ein freies Wiedergeben des Gelesenen, und doch dachte ich mir das Studieren nur als ein Auswendiglernen alles dessen, was ein Gelehrter wissen müsse, — dazu fühlte ich mich nicht fähig.

Zu diesen äußeren Besorgnissen kamen auch noch nicht unerhebliche fernere Bedenken. Wenn ich studierte, so müsste ich entweder ein Geistlicher, ein Arzt oder ein Jurist werden.

Ja ein Geistlicher, sagte ich bei mir, der muss fromm und heilig sein, er darf keine Sünde begehen und ach! er muss viel beten, viel und lange beten! Das war eine gar schlimme Sache. Im Kloster muss er auch fasten und sich geißeln, und wie oft sagte mir meine Mutter, du wirst doch kein Heiliger werden! Aber ein Geistlicher, der sündigt, kommt viel eher und tiefer in die Hölle, als ein Weltlicher. — Nein, ein Geistlicher will ich nicht werden. Nun aber ein Doktor (Arzt), dies hatte freilich wieder sein Bedenken, ich war äußerst ekler Natur; eine eiternde Wunde, eine Krankenstube und Alles, was in solchen Fällen vorkommt, machte auf mich den unangenehmsten, widrigsten Eindruck, aber dies muss dem Doktor ganz gleichgültig sein; beim Vorbeigehen an der Anatomie wurde mir gesagt: hier schneiden die Doktors die toten Menschen auf usw. — Nein, das ist unmöglich, rief ich schaudernd, ein Doktor kann ich nicht werden.

Noch war der Jurist übrig. Damals stand der Juristenstand beim Volke bei weitem nicht in der Achtung, welche er in unserer Zeit genießt. Juristen, hieß es, sind böse Christen, ihrer kommen wenig in den Himmel, sie sind Links- und Rechtsmacher. „Meinen Vater”, erzählte mir ein Nachbar, „haben die Advokaten und der Amtmann um Haus und Hof gebracht, ich brauchte jetzt nicht im Tagelohn zu arbeiten, wenn's keine Juristen gäbe!" Wie konnte ich bei solcher Gestalt der Sache den Entschluss fassen, Jurist zu werden?

So stand ich als unberatener Knabe im eben vollendeten zwölften Jahre in Zweifel, welchen Lebensweg ich wählen sollte. Hätte mir ein intelligenter väterlicher Freund zur Seite gestanden, hätte er mir gesagt, schlechte Menschen gibt es in jedem Stande, aber du willst ja nicht schlecht werden, siehe, der Advokat soll ritterlich kämpfen für das Recht seines Klienten, und das tut er mit der Feder wie der Ritter mit dem Schwerte; der Richter soll ehrlich das Urteil sprechen und dem Gekränkten zu seinem Rechte helfen; damit sie das können, müssen sie studieren und das lernen, was dazu gehört. Wäre ich so über das Auswendiglernen beruhigt worden, mit den griechischen Krähenfüßen hatte ich es noch aufgenommen und wahrscheinlich mir das Studium der Rechte zum Ziele gesetzt. So entschloss ich mich ein Handwerk zu lernen, nun aber war die Frage: welches?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Erstes Kapitel. Die Kinderjahre. 1780 - 1792