Ernste Fragen an die Gebildeten jüdischer Religion

Autor: Delitzsch, Franz (1813-1890) evangelisch-lutherischer Theologe mit dem Schwerpunkt alttestamentliche Exegese und Aktivist der christlichen Judenmission., Erscheinungsjahr: 1888

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Religion, Juden, Judentum, Christentum, Christen, Glauben, Christi, Christus, Jesus, Verkündigung, Bekenntnis,
Lieber jüdischer Leser!

Wenn ich, der Dir vielleicht als Freund Israels bekannte christliche Gelehrte, Dich zu religiösem Nachdenken zu veranlassen suche, so geschieht es mit dem guten Willen, mich in Deine Lage und Denkweise zu versetzen, und von keinerlei Voraussetzungen auszugehen, als solchen, über die wir einig sind, und Dir nur mit solchen Beweisen entgegenzutreten, welche von zwingender Beweiskraft und, wenn Du ihnen Stand hältst, von unwiderstehlicher Überzeugungskraft sind.

Es gibt einen Gott. Das glaubst Du wie ich, wir müssen es glauben. Vergeblich sucht der Atheist, der Epikuräer diesen Glauben in sich zu ertöten. Unser Geist ist darauf angelegt, von der Erscheinung auf ihren Grund, von der Wirkung auf ihre Ursache zu schließen, und indem er auf dieser Leiter der Schlussfolgerung höher und höher klimmt, gelangt er schließlich bei einem Wesen an, welches die Ursache der Ursachen und der Urgrund der Welt ist, ein durch nichts als durch sich selber bedingtes und alles bedingendes Wesen, dem alles, was ist, sein Dasein und also sich selber verdankt — die Welt ohne Gott wäre ein blindes Ungeheuer und die Weltgeschichte ohne Gott ein zielloses Durcheinander ohne Sinn und Verstand.

Und es gibt nur Einen Gott. Zwei, drei höchste Wesen nebeneinander sind unmöglich, nur eines kann das höchste sein. Dieser Eine Gott aber, von dem der Mensch in jedem Atemzuge abhängig ist und dessen Ehre die Himmel erzählen, will auch allein als Gott anerkannt und gepriesen sein. Unter allen Wahrheiten, denen die Vernunft sich beugen muss, gibt es keine höhere, als die, dass Gott Einer ist, und unter allen Pflichten, die der vernunftbegabten Kreatur obliegen, gibt es keine Höhere als die, dass sie diesem Einzig-Einen die Ehre gebe.

Ich komme Dir, mein jüdischer Leser, mit dem offenen, ehrlichen Bekenntnis entgegen, dass das Christentum, wenn es den Glauben, dass Gott Einer, aufgäbe oder fälschte, eine falsche Religion wäre. Das Judentum hätte dann ein verhältnismäßig größeres Recht, sich die Bestimmung zur Weltreligion zuzusprechen, als das Christentum. Denn unsere Hauptwaffe gegen das Heidentum ist doch die Losung, dass die Götter der Heiden nur vergötterte Naturdinge sind und dass der wahre, lebendige Gott Einer ist, der Schöpfer des Himmels und der Erde.

Auch das Zugeständnis darf ich Dir nicht vorenthalten, dass der christliche Kultus hier und da mit seinen Kultushandlungen und seiner Kultussprache in Widerspruch mit dem Bekenntnis der Einheit Gottes zu stehen scheint. Mit manchen Missbrauchen und Irrlehren, welche heidnische Art an sich tragen, weil sie die Ehre des Einen Gottes schmälern, hat die Reformation gebrochen. Diese hat für alle Zukunft den Grundsatz ausgestellt, dass die Lehre und Praxis der Kirche fortwährender Prüfung an der heiligen Schrift unterliegt. Das reformatorische Bekenntnis bezeichnet die heiligen Bücher Alten und Neuen Testaments als die „lauteren Quellen Israels", auf welche die Kirche immer aufs neue zurückgehen muss, um ihre Lehre darnach zu normieren und ihr Leben darnach zu regeln. Auch das Israel des Alten Bundes ist für seine Beurteilung der Religion des Neuen Bundes an die Urkunden dieser Religion gewiesen, und die Kirche hat kein Recht, ihm das Christentum in der oder jener geschichtlichen Gestalt aufzudringen.

Andererseits aber hat der Israelit, welcher ein Wahrheit gemäßes Urteil über das Christentum fällen will, die vor Gott und Menschen unerlässliche Pflicht, sich nicht durch zufällige Eindrücke und unselbständiges Hörensagen bestimmen zu lassen, sondern das Neue Testament aufzuschlagen und zuzusehen, was Jesus sagt und was seine Apostel sagen. Und da wird er finden, dass der Fundamentalsatz von der Einheit Gottes, welcher allein schon die unvergleichliche Erhabenheit der Religion Israels über alle Religionen des Altertums beweist, auch im Neuen Testament als oberste Wahrheit anerkannt wird. Als einer der Schriftgelehrten — so wird Marc. 12, 28. 29 erzählt — Jesus fragt, welches Gebot das erste aller sei, da antwortet er. das erste aller sei „Höre. Israel, der HErr unser Gott ist ein einiger Gott". Und bei Lukas 18, 18. 19 lesen wir, dass ein Oberster sich an ihn mit der Frage wendet: Guter Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber beginnt seine Antwort: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott. Und in dem großen Gebet, welches er vor seinem Todesgang an seinen himmlischen Vater richtet, sagt er Joh. 17, 3: Das ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen. Wie ein Echo dieses Wortes des Herrn ist, was Paulus 1. Kor. 8, 6 sagt: Wir haben nur Einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir in ihm, und Einen Herrn, Jesum Christ, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn.

Solche Bekenntnisse zu Gott dem Einzig-Einen gehen durch alle Teile des Neuen Testamentes hindurch. Aber — so wird man mir entgegenrufen — ihr glaubt doch an Gott als dreieinigen. Allerdings, aber wenn die Dreieinigkeit die Einheit ausschlösse, würden wir die Dreieinigkeit aufgeben und die Einheit festhalten. Wir glauben an Gott und Gottes Sohn und Gottes heiligen Geist, wie ja auch ihr an Gott und seine Schechina und seinen heiligen Geist glaubt. Das Wesen Gottes ist eines, und dreifach seines Wesens Offenbarung. Schon in der heiligen Geschichte des Alten Testamentes bezeugt er sich dreifach. Aber wir wollen das vorerst auf sich beruhen lassen. Ich setze für unsere weitere Unterredung nichts voraus, als dass wir übereinstimmen in dem Glauben an das Dasein Gottes und an die Einheit Gottes.

Delitzsch, Franz (1813-1890) evangelisch-lutherischer Theologe, Aktivist der christlichen Judenmission

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