Zweite Fortsetzung

Die Zeit ist vorüber oder sollte doch vorüber sein, wo Judenhass jeden Einzelnen des Volkes wie einen Mitbeteiligten an der Hinmordung Jesu ansah und Gotte einen Dienst zu tun meinte, wenn er den Juden diese Bluttat blutig heimzahlte — es gab ja damals jüdische Gemeinden in allen drei Erdteilen, welche von dem Auftreten Jesu im Heimatlande und seiner Hinrichtung, ganz und gar nichts wussten. Andererseits sind es auch vergebliche Anstrengungen, welche die Schuld der Juden an der Kreuzigung Jesu entweder zu verneinen oder doch zu verkleinern suchen. So suchte Philippson in seiner Schrift: Haben die Juden Jesum gekreuzigt? die Juden ganz in derselben Weise zu entlasten, wie die Inquisitions-Tribunale die Hinrichtung der von ihnen verurteilten Ketzer dem Arme der weltlichen Obrigkeit zuschoben. Und Grätz, nachdem er Person und Wirksamkeit Jesu mit der Unparteilichkeit eines Geschichtsschreibers geschildert zu haben glaubt, sagt, als er bei der Kreuzigung angelangt ist: „Das war das Ende des Mannes, der an der sittlichen Besserung seines Volkes gearbeitet und vielleicht das Opfer eines Missverständnisses geworden war." Vielleicht! nämlich, indem man dies, dass er sich Gottes Sohn nannte, vielleicht in einem andern Sinne verstand, als es gemeint war.

Wir aber sind der Ansicht, dass es allerdings bei der Verurteilung Jesu tumultuarisch herging, dass die Formen des Rechtes nicht nach Gebühr gewahrt wurden und dass obenan der Ruf an Pilatus: „Wenn du diesen freigibst, bist du des Kaisers Freund nicht; wer sich selbst zum König macht, ist wider den Kaiser" (Joh. 19,12), eine auf die, Feigheit des Prokurators berechnete Niederträchtigkeit war. Aber übrigens räumen, wir ein. dass jener Jesus, welcher in der Bergpredigt sogar den Dekalog, der Kritik unterzieht und mit: „Ich aber sage euch" ihm seine Worte entgegenstellt, welcher sich nicht allein als Gottes Sohn, sondern auch als Herrn des Sabbats bezeichnete und solche rabbinische Satzungen wie das Händewaschen vor der Mahlzeit für wertlos erklärte, vom Standpunkte pharisäischer Gesetzlichkeit als des Todes schuldig erscheinen musste; denn Übertretung rechtskräftig gewordener Satzungen, welche die Thora gegen Übertretung schirmen sollen, ist nach traditionellem Recht eine Todsünde (Erubin 21b), einen solchen Lehrer soll man in Festzeit hinrichten (Sanhedrin XI, 4). Und doch war die Hinrichtung Jesu, von höherem Gesichtspunkt aus betrachtet, ein Justizmord. Die den Gesetzesbuchstaben vollstreckende Gerechtigkeit war himmelschreiende Ungerechtigkeit. Denn die schlechthin makellose Reinheit der Person Jesu, die überwältigende Geistesmacht seiner Verkündigung und die Wundertaten barmherziger Liebe, in denen sich Gott zu ihm bekannte, mussten hinausheben über den Standpunkt rigoroser Gesetzlichkeit. Diese hat, indem sie den Heiligen Gottes ans Kreuz brachte, an sich selbst das Todesurteil vollzogen. Wie Paulus, welcher vor seiner Bekehrung zustimmend bei der Steinigung des Stephanus assistierte und mit Drohen und Morden wider die Jünger des Herrn schnaubte, eben daran erkannte, welcher verbrecherischen Grausamkeit pharisäischer Fanatismus fähig sei, und wie er Gal. 2,19 sagt, dass er durchs Gesetz dem Gesetze gestorben ist: so hat die Religion des Gesetzes, in dem sie den Stifter des von den Propheten geweissagten neuen Bundes dem Kreuzestode überlieferte, sich selber das Zeugnis kläglicher Beschränktheit ausgestellt und ihren eigenen Untergang besiegelt.


Wir sind weit entfernt, jeden einzelnen der später und außerhalb Palästinas lebenden Israeliten als Mittäter bei jener religionsgeschichtlich entscheidungsvollen Gerichtsprozedur anzusehen. Aber da, wenn irgend ein Volk, gerade das jüdische eine durch Gemeinsamkeit der Abstammung, der Religion, des Zeremonialgesetzes und der Geschichte verbundene solidarische Einheit ist, wie das Sprichwort sagt: (alle stehen wie Ein Mann einer für den andern): so werden wir uns der Schlussfolgerung nicht entziehen können, dass die Überantwortung Jesu als eines todeswürdigen Verbrechers an die Römer eine auf dem jüdischen Volke lastende Nationalschuld ist, und wenn wir nun bei den Propheten lesen, dass das Israel der Endzeit reumütig an seine Brust schlagen und die Tötung eines schmählich verkannten Knechtes Gottes als blutiges Unrecht bekennen und beklagen wird: so lässt sich der Gewissensfrage nicht entgehen, ob doch nicht vielleicht Jesus dieser in unseliger Verblendung Hingemordete ist.

„Ich werde ausgießen — lesen wir im Buche Sacharja 12.10—13.1 — über das Haus Davids und über die Bewohner Jerusalems den Geist der Gnade und des Flehens um Gnade, und sie werden aufblicken zu mir, den sie durchstochen haben, und werden klagen um ihn gleich der Klage um den Einzigen und bitterlich weinen um ihn, wie man bitterlich weint um den Erstgeborenen. An jenem Tage wird groß weiden das Klagen in Jerusalem gleich dem Klagen in Hadadrimmon im Blachfelde Megiddo. Und wehklagen wird das Land, alle Geschlechter besonders, das Geschlecht David besonders und ihre Frauen besonders, das Geschlecht des Hauses Nathans besonders und ihre Frauen besonders, das Geschlecht des Hauses Levi besonders und ihre Frauen besonders, das Geschlecht des Simei besonders und ihre Frauen besonders — alle übrig gebliebenen Geschlechter, jedes Geschlecht besonders und ihre Frauen besonders. An jenem Tage wird ein Quell geöffnet sein dem Hause Davids und den Bewohnern Jerusalems für Sünde und Unreinigkeit." Es ist eine Nationaltrauer wie, einst um den geliebten König Josia, den auf dem Schlachtfelde von Megiddo tödlich Getroffenen. Das Königshaus in seiner Hauptlinie und seinen Seitenlinien (David, Nathan), das Priesterhaus in seiner Hauptlinie und seinen Seitenlinien (Levi, Simei) werden trauern und nicht allein diese, sondern alle in jener künftigen Zeit der großen Buße Israels noch übrigen Geschlechter. Die besondere Hervorhebung der Frauen will sagen, dass es sich nicht bloß um eine national-politische, sondern um eine das Verhältnis zu Gott betreffende Sache handelt, in welcher für Weib und Mann Pflichten und Rechte gleich sind. Wer ist jener Durchbohrte, dessen Durchbohrung Gott der HErr als einen ihm selbst angetanen Frevel
ansieht?

„Den sie durchstochen haben" — man könnte meinen, dass nicht seine Volksgenossen^ sondern die Heiden als ihn Durchbohrende gemeint seien. Aber im Buche Jesaia hören wir, dass der unschuldige Knecht Gottes von seinem eigenen Volke, für das er sich opferte, verfolgt ward. „Meinen Rücken — sagt er 50. 6 — hielt ich Schlagenden dar und meine Backen Raufenden, mein Angesicht verhüllt' ich nicht vor Beschimpfungen und Speichel." Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf.
Aber noch wird es dahin kommen, dass sie den Verkannten, ja tödlich Gehassten und Verfolgten, als ihren Heiland erkennen 53, 4. 5: „Fürwahr, unsere Krankheiten hat er getragen, und unsere Schmerzen hat er sich aufgeladen, wir aber achteten ihn für einen von Strafgeschick Betroffenen, einen Geschlagenen Gottes und mit Leiden Belegten, während er doch durchbohrt war von wegen unserer Frevel, zermalmt von wegen unserer Missetaten; die Strafe uns zum Frieden lag auf ihm und durch seine Striemen ward uns Heilung."

Wer ist dieser Durchbohrte? Doch nicht Israel?! Denn Israel als Volk beichtet ja hier, dass es ihn, der ihnen zu gut Leiden bis zum Tode auf sich nahm, für einen Gottgestraften hielt, wie Hiob von seinen Freunden wegen seiner absonderlich großen Leiden für einen ausnehmend großen Sünder gehalten ward. Wenn der Knecht Gottes, der von seinem Volk verkannte, die Personifikation einer Mehrheit ist, so kann er doch nur Personifikation derer sein, welche an dem Heil ihres Volkes arbeiteten und diesem Berufe ihr Leben zum Opfer brachten. Ein solcher Knecht Gottes war Jeremia, der, wie glaubwürdig belichtet wird, in Ägypten den Märtyrertod von seinen eigenen Volksgenossen erlitten hat. Aber dieser Jeremia, und wenn es andere seinesgleichen gab, war doch nur ein Vorbild des unvergleichlich großen Dulders, den der Eifer um das Haus Gottes verzehrte und der fürbittend für sein verblendetes Volk am Kreuze seinen Geist aufgab. Als Pilatus ihn freigeben wollte, aber daran gewaltsam verhindert ward, da nahm die fanatisierte Volksmenge die ganze Verantwortung auf sich, indem sie ihm zuschrie: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! (Match. 27, 25). Ist es doch vielleicht diese Blutschuld, die dereinst vom jüdischen Volke als eine seinem Herzen und Gewissen allzu schwere Last empfunden weiden wird, die Nationalsünde, für die es, zum Glauben gelangt, Vergebung erflehen und finden wird? —

Eins der letzten Worte Jesu an sein Volk, als er aus der Öffentlichkeit zurücktrat, lautete: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigest die zu dir gesandt sind, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr — habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen werden, denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprechet: Gelobet sei, der da kommt im Namen des HErrn!" (Matth. 23. 37 ff,). Brüder aus Israel, ihr kennt ja doch die Ansicht eurer Altvordern: „Der Fluch eines Weisen, selbst wenn mit Unrecht ausgesprochen, trifft ein" (Berachoth. 56a). Diese Ansicht ist überspannt, denn ein unberechtigter Fluch, wenn auch von dem größten Schriftgelehrten ausgesprochen, ist in den Wind geredet. Aber dass das Drohwort aus dem Munde eines in Gott lebenden und aus der Gemeinschaft mit Gott heraus redenden Menschen nicht wirkungslos ist, das bestätigt die Erfahrung. Und da jener Drohung Jesu wirtlich zwei Jahrzehnte später die Einäscherung des Tempels und die Auflösung des jüdischen Staates gefolgt ist, sollte da nicht zwischen der Drohung und dem Eintreffen des Gedrohten ein innerer Zusammenhang bestehen? —

In den Sprüchen der Väter (Aboth V. 9) wird unter den Hauptsünden, welche Galuth — die Vertreibung aus dem Vaterlande — nach sich ziehen, auch Blutvergießen genannt.

Das unschuldige Blut, womit König Manasse Jerusalem von einem Ende bis zum andern anfüllte, machte das Maß der Sünden voll, deren Strafe das babylonische Exil war. Aber dieses Exil währte doch nur nach runder Jahrziffer 70 Jahre, während jetzt das jüdische Volk nun schon seit 1.800 Jahren des Landes seiner Väter verlustig gegangen ist. Und doch ist dieses seit Vespasian und Titus unter fremder Herrschaft stehende Land ihm zu ewigem Besitz verheißen, ja zugeschworen. Wie ist das zu erklären? Es ist nur zweierlei möglich. Entweder gehört jene Verheißung, welche sich durch alle Teile des Alten Testaments hindurchzieht, dem Bereiche des Mythus an, oder das Verhalten Israels seit nun 1.800 Jahren macht es Gotte unmöglich, sie wieder in den verheißungsgemäßen Besitz des Verlorenen zu setzen. Die Prophetie hat diese lange Vaterlandslosigkeit vorausgeschaut. Wenn die in alle Welt Verschlagenen die Ursache erkennen und in sich gehen werden, dann wird ihnen, wie 5. Mos. 30, 1—8 verheißen ist, das Land der Väter zurückgegeben werden. Sind denn aber die synagogalen Gebete, besonders die in den (von Neujahr bis zum Versöhnungstag) erschallenden, nicht voll tief aufseufzender Sündenbekenntnisse und flehentlicher Anrufung der göttlichen Gnade? Es ist wahr, aber die jahrtausendlange Dauer des Exils ist unerklärlich ohne die Annahme, dass auf dem armen Volke trotz der Mark und Bein erschütternden Rufe zu seinem Gott der Bann einer unerkannten Sünde lastet, welche ihn verhindert, ihrem Elende abzuhelfen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ernste Fragen an die Gebildeten jüdischer Religion
01 Flüchtlinge aus Palästina

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02 Pogromflüchtlinge

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03 Palästinensisches Flüchtlingskind

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04 Flüchtlinge aus Palästina

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05 Im Flüchtlingsheim

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06 Flüchtlingselend in der Brigittenau

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07 Flüchtlinge im Keller

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