Vierte Fortsetzung

Es ist also ein geistlicher Tempel aus lebendigen Steinen, den, wie die Weissagung Sacharjas in Aussicht stellt, jener Zemach bauen wird, welcher priesterliche und königliche Würde in sich vereinigt. Die Gemeinde des neuen Bundes, dessen Mittler der von Maleachi vorher verkündigte gottgesandte Bote ist. sie ist dieser geistliche Tempel. Denn sie ist eine zunächst zwar aus Israel gesammelte, aber weiterhin mit Durchbrechung der nationalen Schranke sich über alle Völker erstreckende Gemeinde, keine durch Bande des Blutes zusammengehaltene Volksgemeinde, sondern eine durch gleiche Gemeinschaft mit dem Gotte der Offenbarung verbundene Geistesgemeinde. Der alte Bund ist aufgehoben, nachdem sich ausgewiesen, dass er unzureichend sei. den Ratschluss Gottes, welcher der Menschheit gilt, zu verwirklichen. Die nationale Bevorrechtung hat aufgehört, nachdem sie ihren vorbereitenden Dienst getan. Das Gesetz Israels ist ein Volksgesetz und als solches ungeeignet, Lebensordnung einer Gemeinde aus allen Völkern zu werden. Es war eine Vorstufe und ist nun, seitdem Christus erschienen, ein überwundener Standpunkt. Schon die Propheten und die Psalmensänger und die Verfasser der sogenannten Weisheitsbücher ( . . . ) betonen das Wesentliche in der Religion des Gesetzes, entwerten den äußerlichen Vollzug des Zeremonialgesetzes, fordern statt der blutigen und pflanzlichen Opfer Selbstopferung des inneren Menschen und reduzieren den eigentlichen Gotteswillen, dessen Strahlenbrechung die zeremoniellen Vorschriften sind, auf das wahrhaft und unmittelbar Religiöse. Sie bahnen dasjenige an, was im Christentum zum Ziele gekommen: die Entschränkung, Vertiefung und Verallgemeinerung der Religion des Gesetzes.

Freilich würde das Judentum sich mit Recht abwehrend gegen das Christentum verhalten, wenn das mosaische Gesetz eine schlechthin unabänderliche Gottesoffenbarung wäre. Maimonides behauptet das, aber nicht ohne dass ihm von anderen jüdischen Dogmatikern wie Isaak Alba widersprochen wird: Gott selbst kann unter veränderten Zeitverhältnissen Abänderungen des ursprünglich Gebotenen eintreten lassen. Ein Beweis dafür ist ja schon das Verhältnis der deuteronomischen Gesetzgebung, die sich aus dem 40. Jahre nach dem Auszug datiert, zu der Tinai-Gesetzgebung des ersten Jahres. Dass der ebräische Knecht im 7. Jahre frei ausgehen soll 2. Mos. 21, 2 wird 5. Mos. 15, 12 auch auf die ebräische Magd ausgedehnt. Dass Menschendiebstahl mit dem Tode bestraft werden soll 2. Mos. 21. 16 wird 5. Mos. 24. ? auf den Fall beschränkt, dass der Gestohlene und als Sklave Verkaufte ein Volksgenosse ist. Nährend nach 3. Mos. 17, 3 kein opferbares Tier anderwärts als beim Stiftszelt geschlachtet werden darf, wird in 5. Mos. Hup. 12 Schlachten für den Hausbedarf überall ohne Unterschied des Ortes freigegeben. Und wie ist die alte Vorschrift, dass, wo immer Gott sich gegenwärtig bezeugt, ein schlichter Altar aus Erde oder unbehauenen Steinen und ohne Stufenaufgang errichtet werden soll 2. Mos. 20. 24ff., durch die Errichtung der Stiftshütte und des Kupferaltars ( . . . ) des Vorhofes überholt und durch die deuteronomische Forderung eines Zentralheiligtums als ausschließliche Opferstätte beschränkt! Es sind das nur einige Beispiele, welche sich leicht durch andere aus der im Pentateuch vorliegenden Festgesetzgebung vermehren ließen. Die Namen der Feste, die Zahl der Hochfeiertage, die Opfervorschriften — alles hat sich im Laufe der Zeit modifiziert. Wenn nun innerhalb der pentateuchischen Zeit die Gesetzgebung Wandelungen erleidet, warum sollen Wandelungen, welche göttliche Autorität für sich beanspruchen können, in nachpentateuchischer Zeit ausgeschlossen sein!


Die Propheten beweisen das Gegenteil. Das Gesetz 5. Mos. 23, 2 schließt jederlei Entmannten von der Gemeinde des Herrn aus; der Prophet aber Jes. 56. 3—5 durchbricht diese Schranke des Gesetzes und tröstet die aus Babylonien heimkehrenden Verschnittenen mit der Verheißung vollberechtigter Mitgliedschaft. Man wird einwenden, dass, wenn auch dergleichen Modifikationen in Einzelheiten zulässig sein mögen, doch gänzliche Aufhebung des Zeremonialgesetzes undenkbar sei. Aber für die Propheten besteht diese Undenkbarkeit nicht. „Womit soll ich vor den HErrn hintreten — sagt Micha 6. 6—8 —. mich beugen vor dem Gotte der Höhe? Soll ich vor ihn hintreten mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern? Hat der HErr Gefallen an Tausenden von Widdern, an Myriaden von Bächen Öles? Soll ich geben meinen Erstgeborenen für meine Frevel, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele? — Er hat dir kund getan, o Mensch, was gut ist, und was der HErr von dir fordert: nichts als das Rechte tun und Leutseligkeit lieben und demütig einher zu gehen mit deinem Gott." Und Jeremia sagt angesichts des wertheiligen Opferdienstes seines Volts 7, 22. 23: „Ich habe zu euren Vätern nicht geredet und ihnen nicht Befehl getan am Tage ihrer Ausführung aus Ägyptenland in Sachen darzubringender Brand- und Schlachtopfer. sondern dies, nur dies habe ich ihnen geboten: Höret auf meine Stimme, so will ich euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein." Das sind Aussprüche, welche wie Antizipationen der künftigen Aufhebung des Zeremonialgesetzes lauten.

Anders freilich Ezechiel. welcher in Kap, 40—48 ein neues Zeremonialgesetz aufstellt, nämlich für das aus den Ländern des Exils heimgekehrte Gesamtisrael. Das neue kirchliche und politische Gemeinwesen, das er uns schildert, hat sich nicht verwirklicht, die Bedingungen der Verwirklichung sind unerfüllt geblieben. Aber schon dadurch ist dieser Abschnitt im Kanon von hoher Bedeutung, das; er ein tatsächlicher Beweis gegen die starre Unabänderlichkeit der mosaischen Thora ist.

Der Midrasch sagt öfter, dass der Heilige, gebenedeit sei Er, durch den Messias eine neue Thora geben wird. Das Neue dieser Thora besteht in dem erschlossenen Sinn und Geist der alten. Entspricht nicht der Bergprediger diesem Zukunftbilde? Und ein anderes Midraschwort lautet: In den Tagen des Messias werden alle Opfer aufhören, außer dem Opfer des Dankes ( . . . . ). Ist nicht doch vielleicht Jesus jener Knecht Gottes, welcher, wie Jes. 53, 10 geweissagt ist, sich selbst als Schuldopfer ( . . . ) für sein Volk opfern wird? —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ernste Fragen an die Gebildeten jüdischer Religion