Dritte Fortsetzung

Demjenigen, der das Christentum als die göttliche Fortsetzung und Vollendung der Religion Israels erkannt hat, werden sich Bestätigungen in Hülle und Fülle aus Thora, Propheten und Kethubim aufdrängen: aber diese Bestätigungen sind keine Beweise für den noch fern Stehenden, und ich verzichte bei den Gewissensfragen, die ich an den jüdischen Leser richte, auf solche Beweise, welche für ihn, den noch nicht gläubigen, ohne Beweiskraft sind. Dagegen gehe ich von Voraussetzungen aus, welche dem gläubigen Israeliten mit dem gläubigen Christen gemeinsam sind, vor allem von den zwei Voraussetzungen, dass es eine Geschichte der Offenbarung Gottes d. h. freier Taten und Mitteilungen Gottes gibt, durch die er in den natürlichen Entwicklungsverlauf eingreift, und zweitens, dass die Prophetie eine Wirkung göttlicher Offenbarung ist, indem die Weissagungen nicht ans natürlicher Kombination, sondern aus göttlicher Erleuchtung hervorgehen. Wenn es keine Geschichte göttlicher Offenbarung gibt, so hat der Antisemitismus recht, dass das Bewusstsein Israels, das auserwählte, d. h. zum Träger göttlicher Offenbarung für die Welt bestimmte Volk zu sein, nichts als Größenwahn eingebildeten Nationalstolzes sei. Und wenn es keine auf Inspiration des Geistes Gottes beruhende Prophetik gibt, so sind alle die Tatsachen, in welchen das Christentum alttestamentliche Weissagungen erfüllt sieht, z. B. dass der gute Hirte bei Sacharja von dem undankbaren Volke mit 30 Silberlingen abgelohnt wird (11, 12), und dass in 30 Silberlingen der Verräterlohn des Judas Ischariot bestand, ein bloßes Spiel des Zufalls. Der Israelit, der von solchen negativen Voraussetzungen ausgeht, wird sich des Christentums erwehren, indem er seiner eigenen Religion die göttlichen Grundlagen entzieht — er ist . . . ., indem er die göttliche Wurzel des Judentums und eben damit zugleich des Christentums untergräbt und durchschneidet.

Gesetzt nun aber, dass wir beide, mein jüdischer Leser und ich, darin einig sind, dass wir Gottes Hand in Geschichte und Prophetik anerkennen, werde ich mich hüten, ihm, wie dies so häufig bisher geschehen ist. Stellen aus den Propheten entgegenzuhalten, deren Auslegung streitig ist. Ich werde mich nicht auf 1 Mos. 49,10. dafür berufen, dass der Schilo (Messias) in einer Zeit kommen sollte, wo Juda die Königsherrschaft verloren hat: ich halte diese Auffassung der Stelle für unrichtig und die Erfüllung wäre nicht einmal zutreffend, denn Jesus ist unter der Herrschaft der herodeischen Dynastie erschienen, welche zwar eine von Haus aus edomitische, aber doch der Religion nach jüdische war: das Volk rief nach Sota 41a dem Könige Agrippa, als er weinend 5. Mos. 17, 15 vorlas, begütigend zu: . . . . (du bist ja doch unser Bruder), und er war auch wirtlich ihr Bruder, da die Edomiter schon vor beinahe 200 Jahren, als der hasmunäische König Johannes Hyrkan sie unterworfen hatte, durch die Beschneidung dem jüdischen Volle einverleibt worden waren. Noch weniger lässt sich aus den 70 Wochen Daniels in Kap. 9 überzeugend beweisen, dass Jesus der Messias (Christus) sei, weil, als er aus dem Wege geräumt und dann Jerusalem zerstört wurde, 7 + 62 Wochen, d. i. Jahrsiebente, verflossen waren; denn erstens ist es sehr fraglich, ob Luthers Übersetzung von Dan. 9, 26 „Und nach den zweiundsechzig Wochen wird Christus ausgerottet werden und nichts mehr sein" richtig ist: . . . . auch Amtsname des Hohenpriesters sein, der gewaltsam beseitigt wird, und zweitens gelangt man, wenn man die 69 x 7 = 483 Jahre zurückrechnet, zu keinem epochemachenden Anfangstermin. Die 70 Wochen Daniels sind ein Rätsel, welches noch der Lösung wartet, weil sich herausgestellt hat, dass Antiochus Epiphanes noch nicht der schließliche Erzfeind der Gemeinde Gottes gewesen ist und nach seiner Beseitigung noch nicht die schließliche Erlösung, sondern nur ein Vorspiel derselben eingetreten ist.


Die prophetische Fernsicht unterliegt dem Gesetz der Perspektive, das Ende rückt für sie mit der nächsten Zukunft zusammen, und wenn das Nächstkünftige erreicht ist, zeigt sich eine zwischen diesem und dem Ende liegende Zeitkluft, indem, was für den Fernblick zusammenschrumpfte, nun langhin sich ausdehnt. Die Propheten der Exilszeit verbanden mit dem Ende des Exils und die Gläubigen der Seleucidenzeit verbanden mit dem Ende der von Antiochus Epiphanes ausgegangenen Drangsal überschwängliche Hoffnungen, die sich, als dieses Ende eintrat, nur ungenügend erfüllten. Zur Unehre der Prophetie gereicht das nicht, es ist so Gottes Ordnung, dass Fernsicht und Kurzsicht, Göttliches und Menschliches in ihr gemischt sind.

In Einem Punkte aber stimmen die Propheten der Exilszeit zusammen: sie kennen nur zwei Tempel, den salomonischen ( . . . ), welchen die Chaldäer zerstört haben, und einen zweiten ( . . . ), den nachexilischen. Auch der Tempel Ezechiels ist nicht ein dritter steinerner Tempel, welcher in der Endzeit errichtet werden soll, wenn (was nirgends gesagt wird) der zweite gleichem Geschick verfallen sein wird wie der erste, sondern er ist ein Ideal, dessen Verwirklichung der Prophet von der nachexilischen Zeit erhofft, wenn Israel sich bekehrt (43, 10. 11) und in der Gesamtheit seiner Stämme mit wiederverjüngter erster Liebe in das Land seiner Väter zurückgekehrt sein wird — eine Vorbedingung, die sich nicht erfüllt hat. Der Abschnitt Ez. Kap. 40—48 ist eine unerfüllte Weissagung und wegen seiner Widersprüche mit der vor- und nachexilischen Gottesdienstordnung für die Synagoge ein so ungelöstes Rätsel, dass der Talmud sagt, dass die Auslegung dieses Abschnittes dem Elia vorbehalten bleibt und dass man das Buch Ezechiel wegen dieses Abschnittes apokryphieren wollte, dass aber ein gewisser Chananja sich mit einem Lager von 300 Fässern Öl auf sein Studierzimmer zurückzog und die Widersprüche des Abschnittes mit der Thora glücklich hinweginterpretierte ( . . . ). Das wird behauptet, aber nirgends werden Proben der erwiesenen Harmonie gegeben, und nirgends erscheint dieser Tempel als Ziel israelitischer Hoffnung. Es ist eben kein dritter Tempel, sondern der zweite, wie er nach Ezechiel werden sollte, aber nicht geworden ist.

Als ein Teil der Exulanten mit Erlaubnis des Cyrus unter Serubabel, dem Fürsten, und Josua, dem Hohenpriester, in das Vaterland zurückgekehrt war, wurde im 2. Jahre der Rückkehr 534 der Grundstein eines neuen Tempels gelegt; der Bau kam ins Stocken, wurde aber im 2. Jahre des Darius Hystaspis 520 wieder aufgenommen. In diesem 2. Jahre des Darius traten Haggai und Sacharja auf. Beide weissagen, dass der Anbruch der messianischen Zeit angesichts dieses Tempels geschehen werde. Größer, sagt Haggai 2, 9, wird die schließliche Herrlichkeit dieses Hauses werden als die anfängliche, spricht der HErr der Heerscharen, und an dieser Stätte werde ich Frieden geben, spricht der HErr der Heerscharen. Und bei Sacharja 3, 8 heißen Josua und die ihm untergebenen Priester „Männer des Vorbilds, denn siehe, ich bringe herbei meinen Knecht Zemach." Das ist seit Jes. 4. 2: Jer. 23, 5: 33, 15 Name des Messias als des Sprosses Davids, der von Niedrigkeit zu Herrlichkeit erwächst und Heil und Herrlichkeit um sich her verbreitet. In Kap. 6 soll der Prophet dem Hohenpriester Josua „Kronen" aufs Haupt setzen, damit dieser das Künftige im Bilde darstelle: „Ziehe ein Mann, Jemach mit Namen, und aus seinem Boden (dem heimischen) wird er sprossen und bauen des HErrn Tempel. Und Er wird bauen des HErrn Tempel, und Er wird Hoheit überkommen und herrschen auf seinem Thron und wird Priester sein auf seinem Thron, und wird ein Vertrag des Friedens sein zwischen ihnen beiden (nämlich dem Priester und König, d. i. den beiden jetzt auseinanderfallenden Ämtern)." Jetzt, wo diese Weissagung ergeht, war der Bau des zweiten Tempels mit Genehmigung des Darius wieder in Angriff genommen. Man sah es ihm an, dass er an Pracht weit zurückstehen werde hinter dem salomonischen. Aber er wird mit um so herrlicheren Verheißungen geschmückt. Er wird eine Stätte des Friedens werden, der Friede-Fürst, König und Priester in Einer Person nach der Weise Melchisedeks, wird zur Zeit dieses zweiten Tempels erscheinen. Im 6. Jahre des Darius 506 war der Bau vollendet. Unter diesen Umständen kann der Tempel, den der Zemach baut, der Davidssohn, welcher das Endziel der Verheißung 2. Sam. Kap.? ist, kein dritter steinerner Tempel sein. Die Geschichte bewegt sich vorwärts, nicht rückwärts. Was aber für ein Tempel? — Wenn Jesus der Christus ist, so liegt eine Hindeutung darauf in der Antwort, die er gibt, als er die Wechsler und Opfertierhändler aus dem Tempel hinausgetrieben und aufgefordert wird, einen Beweis für seine Berechtigung zu geben. Die Antwort, die er gab, war seinen Jüngern selber rätselhaft. Brechet diesen Tempel ab, sagte er, und am dritten Tage will ich ihn wieder aufrichten (Joh. 2, 19). Auch hier ist der Tempel, der an die Stelle des nachexilischen, von Herodes restaurierten Tempels treten soll, keinesfalls ein steinerner.

Gesetzt, dass der Tempel, den der Zemach bauen wird, ein dritter steinerner Tempel wäre, müsste man annehmen, dass das Erscheinen des Zemach in eine Zeit fallen soll, in welcher der zweite Tempel der Zerstörung verfallen ist. Aber das stünde im Widerspruch mit Maleachi, dem letzten der drei nachexilischen Propheten, welcher 3. 1 weissagt: „Siehe, ich sende meinen Voten und er bahnt den Weg vor mir her, und plötzlich wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr suchet, und der Bote des Bundes, siehe er kommt, spricht der HErr der Heerscharen." Hier werden drei Personen unterschieden: der bahnbrechende Bote, nämlich Elia, wie er weiterhin genannt wird; der Herr. d. i. Gott, und der Bote des Bundes, d. i. der Mittler des von den Propheten (Jer. 31. 31: Jes. 42. 6: 49, 8, verheißenen neuen Bundes: die Vorstellung ist doch wohl die, dass das Kommen dieses Bundesmittlers mittelbar das Kommen des Herrn selbst ist. Das aber, worauf es uns hier ankommt, ist nur dies, das; der Tag des HErr. welcher Gericht und Heil zum Vollzuge bringt und mit welchem die Zeit eines neuen Bundes anhebt, in die Zeit des zweiten Tempels fallen soll. Ter zweite Tempel ist nun aber seit über anderthalb Jahrtausenden dermaßen von dem heiligen Berge verschwunden, dass kein Stein auf dem andern geblieben. Sollte sich also doch vielleicht dasjenige bereits längst erfüllt haben, was Du, lieber jüdischer Leser, noch als künftig erwartest? Ist nicht doch vielleicht jener Jesus, welcher mit den Worten: Euer Haus wird euch wüste gelassen werden, sich in seinen Jüngerkreis zurückzog, der von Sacharja geweissagte . . . der von Maleachi geweissagte . . . ? Ist nicht wirklich mit ihm eine neue Weltzeit angebrochen, in welcher, so wie Maleachi 1, 11 es gegenwärtig schaut, das Reich Gottes von den Nächstberechtigten auf die Heiden übergegangen ist? Das sind Gewissensfragen, die jeder Israelit, dem Wahrheit mehr als Gewohnheit gilt, sich vor Gottes Angesicht vorlegen sollte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ernste Fragen an die Gebildeten jüdischer Religion