Erinnerungen von einer Reise nach St. Petersburg im Jahr 1814. Band 1

Autor: Schlippenbach, Ulrich Freiherr von (1774-1826) deutsch-baltischer Dichter, Schriftsteller und Herausgeber in der Epoche der Romantik, Erscheinungsjahr: 1816

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, St. Petersburg, Slawen, Heimat, Landsleute, Napoleon, Befreiungskriege, Deutsche, Deutschland, Alexander I., Nationalitäten, Schicksal, Rettung, Franzosen, Opfer, Sieg, Monarchen, Reise,
Hätt' ich das hohe Talent des Pausias glücklich empfangen,
Nachzubilden den Kranz, wär' ein Geschäfte des Tags.
                                    Goethe.

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Der Druck dieser Schrift wird unter der Bedingung bewilliget, dass, gleich nach dem Abdrucke und vor der öffentlichen Herausgabe, sieben eingebundene Exemplare derselben, zur vorschriftmäßigen Verteilung, an dieses Zensurkomitee eingesandt werden.
Dorpat, den 10ten August 1815.
Kollegienrat, Professor F. W. Hezel,
Zensor.

Schlippenbach, Ulrich Freiherr von (1774-1826) deutsch-baltischer Dichter, Schriftsteller und Herausgeber in der Epoche der Romantik

                          Mitau, den 1sten Juli 1814.

Wenn du vielleicht in eben dem Augenblick, wo mein Brief dich erreicht, in deinem gastlichen Hause einen meiner Landsleute bewirtest, der, mit dem Lorbeer des Sieges geschmückt, aus Frankreich wiederkehrt, und er, im Gespräch mit dir, begeistert den Namen seines großen Kaisers nennt, von den Wundern seiner Hauptstadt spricht, und die Hoffnung, diese als Heimat wiederzusehen, in seinen freudigen Blicken schimmert: so wisse, dass auch dein entfernter Freund im Begriff ist, nach jener großen Residenz zu eilen, und dabei den Vorsatz nährt, diese seine Reise dir in Briefen mitzuteilen, die du deinem alten Rheine vorlesen kannst, damit er den Namen Alexanders und der Russen recht oft höre, und seiner Erretter nicht vergesse. Ich weiß zwar, dass ihr Deutschen, im Gefühl der erwachten Kraft neuer Nationalität, nur euch selbst den Dank der Rettung zuliedert und zusprecht; doch sagt redlich, wäre wohl ohne Russland, das im heiligsten höchsten Opfer seiner alten Zarenresidenz erst das Schicksal versöhnte, dann aber mit den gewaltigen Kräften seiner edlen Söhne drein schlug, sagt, wäre wohl eure Rettung möglich gewesen? und doch will bei euch der kleinste Staat ein Americus sein, der nach sich die neue Welt tauft, die er nicht entdeckte; und eure Politiker möchten das Schicksal der Welt so gern gleich dem Ei des Columbus drehen und wenden, und, was Russland wirklich tat, das Feststellen desselben, einem deutschen Heere zumessen, indes manche sogar geradezu schlecht genug sind, der Kälte den Sieg zuzuschreiben, welchen Mut und Vaterlandsliebe gewann, da wir hier es doch wohl am besten wissen, dass die Beresina nicht einmal zugefroren war, als Napoleon über sie floh; und so lange kein Strom starrt, wird doch wohl auch selbst ein französisches Heer nicht im Frost erstarren, da man sogar vermuten sollte, dass es, seiner Nationalität nach, dem Quecksilber gleichend, erst im stärksten Froste sich hämmern lasse.

Weil ich aber weder dich, noch so manchen andern deiner braven Landesbrüder, für so undankbar halte, so glaube ich, dass Alles, was Russlands großen Monarchen und sein Volk betrifft, dir und jedem redlichen Deutschen höchst interessant und willkommen sein müsse; daher hoffe ich auch, mein Jahrelanges Schweigen, als kein freies Wort euch nahen durfte, am besten durch wiederholtes Schreiben zu versöhnen, indem ich dir recht viel von Russlands Monarchen und seinem Volke sage.

Wie einst die Griechen aus dem verbrannten Ilion ihr Paladium nahmen, so erhielten auch die Deutschen das ihrer neuen Freiheit und Nationalität aus dem brennenden Moskwa, nur waren die Griechen dort Feinde, hier die Russen rettende Freunde, die das heilige Symbol zu den Deutschen hintrugen und weihten.

Doch du hörst mich noch wie ehemals auf meiner Stube in Leipzig zanken, und möchtest mich wohl gerne schon im Wagen sehen, um die Reise selbst, ohne Zugabe abweichender Räsonnements, zu vernehmen; doch warte noch ein wenig, zur Reise gehören Vorbereitungen eben so gut, als zu einer Beschreibung derselben, und die eingestreuten fremdartigen Bemerkungen und Gedanken wirst du dabei nicht los, da sie als Unterhaltung mit in den Wagen hinein gehören, und als solche ihre Beziehung auf die Reise selbst hinlänglich erhalten.

Der Zweck meiner Reise ist sehr ehrenvoll; ich soll nämlich, Namens der Kurländisch-Piltenschen Ritterschaft, Sr. Majestät, unserm Allergnädigsten Kaiser, die Huldigungen der Herzen meiner Adelsbrüder, ihren Glückwunsch zum errungenen großen Sieg, ihren Dank für Frieden und das Glück und die Ruhe der Heimat darbringen: so lautet meine Instruktion, der jedoch mein eigenes Herz einen vollen Hymnus des lautesten Preises unterlegt, den ich gern mit gerührter Seele weit in die Welt hinausrufen möchte, wo nur Alexander als rettender Engel erschien.

Glaube nicht, guter Bruder, dass, wie ehemals im augenblicklichen Entschluss, es nur des Sattelns unserer Reitpferde bedurfte, um zu einer wochenlangen Reise bereitet zu sein; ich habe, wie du, Gepäck fürs Leben mir besorgt, und zwei schwere Wagen fassten mich und Weib und Kind, mit denen ich am 1sten Juli Abends mein Haus verließ, und am Morgen, nachdem ich die Nacht durchfahren, in Mitau anlangte.

Du hast Kurland aus meiner Beschreibung kennen gelernt;*) was hier die Zeit und der Krieg verändert hat, ist so wenig erfreulich, dass, wünschtest du auch hierüber ausführliche Nachricht, ich diese mit einem infandum jubes renovare dolorem abschlagen würde, und dich daher bitte, hier mit Wenigem dich zu begnügen.

*) Malerische Wanderungen durch Kurland. Riga, bei Hartmann.

Kurland ist das wohlhabende Ländchen nicht mehr, das es war, als du meine Landsmannschaft in Leipzig die reiche nanntest. Der Adel hat so viel verloren, seiner Ausgaben waren so viele, seiner Einnahmen so wenige, dass gewiss die zehnte Güter besitzende Familie völlig verarmte, und die übrigen nur eines Drittels ihres ehemaligen Wohlstandes genießen.

An Handel war bisher gar nicht zu denken, und auch jetzt ist er wie aus dem langen Schlafe erwacht, als wüsste er nicht, ob er vorwärts oder rückwärts schreiten soll. Künste und Wissenschaften, die eigentlich wie die Lilien nur blühen sollten, ohne ans Kleiden zu denken, vermögen dies dennoch nirgends, am wenigsten hier, wo das Klima allen Blüten nicht günstig ist.

Doch lass mich nicht über schlechte Zeiten klagen; es wäre Torheit, jetzt keine besseren zu hoffen; ihre Morgenröte bricht hervor, der helle Tag muss folgen.

Obgleich ich die zwanzig Meilen, die ich von meinem Wohnorte bis Mitau habe, wohl hundertmal durchfahren bin; so merkte ich dieses Mal auf die bekanntesten Gegenstände weit mehr als sonst, weil ich zur weitern Ferne eilend sie verließ.

Man kann zuweilen einem bekannten Gegenstande erst dann ein recht warmes Interesse abgewinnen, wenn man von ihm scheidet. Mit dem Leben selbst geht es uns so, und der innigste von allen Blicken ist sicher der scheidende – vielleicht schon deshalb, weil man in ihm auch die Sehnsucht nach dem kommenden des Wiedersehens mit umfasst.

Alles Glück des Lebens hat nur die Gestalten zweier Zustände, des Erringens und des Scheidens, oder, was dasselbe sagt, des Genusses und des Entbehrens.

Ich dachte mir diese Straße vor anderthalb Jahren, als der aus meinem Vaterlande fliehende Feind sie bedeckte, und, unter der siegreichen Anführung des jetzigen Kriegsgouverneurs von Liv- und Kurland, Marquis Paulucci, mit einer so unglaublichen Eile verfolgt ward, dass ihm keine Zeit zu Plünderungen übrig blieb. Von allen Gütern sandten die Besitzer freiwillig eine solche Menge Fuhren, dass die Infanterie mit Vorspann reiste. Die besten Pferde des Adels, bisher mühsam in Wäldern versteckt, zogen die Kanonen im raschen Trabe dahin. Es war ein Triumphzug, an dem alle redliche Herzen Teil nahmen, mit Jubel empfangen, und begleitet: so aber ward der Feind erreicht und geschlagen, als er seine Verfolger noch weit hinter sich glaubte. Die feindlichen Kommissäre, Intendanten und Kommandanten bemühten sich vergeblich, ihrem Gepäck den Segen des Kontinentalsystems anzuschließen. Auf dem Wege von Libau nach Memel war der Weg mit Kaffeebohnen bestreut, und Zuckerfässer hatten ihre Süßigkeit in den Schnee ausgegossen. Die Bedeckung, aus Holländern bestehend, dachte wohl ihres Verlustes der Kolonien, und wollte hier die Früchte derselben nicht verteidigen, indes der französische Befehlshaber entflohen war, als er einige reitende Weiber für Kosaken genommen hatte.

Du siehst, wie sehr ich dich zu meinem Reisegefährten gemacht habe, da ich dir, um den Weg zu kürzen, Anekdoten erzähle. Doch für heute genug; in Riga setze ich meinen Brief fort, und sende ihn von dort an dich ab.

Schlippenbach, Ulrich Freiherr von (1774-1826) deutsch-baltischer Dichter, Schriftsteller und Herausgeber in der Epoche der Romantik

Schlippenbach, Ulrich Freiherr von (1774-1826) deutsch-baltischer Dichter, Schriftsteller und Herausgeber in der Epoche der Romantik

Alexander I. Zar von Russland

Alexander I. Zar von Russland

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

Das heutige Russland

Das heutige Russland

000 Blick auf St. Peter und die reformierte Kirche in Riga

000 Blick auf St. Peter und die reformierte Kirche in Riga

001 Riga um 1650

001 Riga um 1650

002 Riga um 1570

002 Riga um 1570

003 A. v. Kotzebue. Die Huldigung Rigas am 10. Juli 1710

003 A. v. Kotzebue. Die Huldigung Rigas am 10. Juli 1710

004 Riga, Ansicht des Sandturmes von der Turmstraße her. (Nach einer Aufnahme des Architekten E. Kupffer.)

004 Riga, Ansicht des Sandturmes von der Turmstraße her. (Nach einer Aufnahme des Architekten E. Kupffer.)

005 Riga, Der ehemalige Wachtturm

005 Riga, Der ehemalige Wachtturm

006 Riga, Der Dom von Nordost

006 Riga, Der Dom von Nordost

007 Riga, Der östliche Kreuzgang des Domklosters

007 Riga, Der östliche Kreuzgang des Domklosters

008 Riga, Von den Arkaden des Kreuzgangs

008 Riga, Von den Arkaden des Kreuzgangs

009 Riga, Das Tonsistorium am Kreuzgang des Domklosters

009 Riga, Das Tonsistorium am Kreuzgang des Domklosters

010 Riga, Die Bündelsäulen im Kapitelsaal des Domklosters

010 Riga, Die Bündelsäulen im Kapitelsaal des Domklosters

011 Riga, Der Dom von Südwest

011 Riga, Der Dom von Südwest

012 Riga, Mittelalterliche Wandmalereien in der Nordvorhalle des Doms.

012 Riga, Mittelalterliche Wandmalereien in der Nordvorhalle des Doms.

013 Riga, Mittelalterliche Wandmalereien in der Nordvorhalle des Doms.

013 Riga, Mittelalterliche Wandmalereien in der Nordvorhalle des Doms.