Riga, den 3ten Juli 1814

Ich betrachtete die verflossenen Stunden des heutigen und des gestrigen Tages, als hätte ich sie für dich zu verleben, so sehr suchte ich die mir gewordenen Anschauungen und Empfindungen zu bewahren, um sie dir in Wort und Schrift festgehalten wiederzugeben. Um aber von Riga etwas mehr, als bloß die erste flüchtige Ansicht, geben zu können, bedarf es eines längeren Aufenthalts; vielleicht ist mir solcher auf der Rückreise von Petersburg möglich; jetzt also nur einzelne Blicke in dies Panorama der alten Hansestadt.

Der Jahrmarkt, den ich noch gestern mit meiner Familie besuchte, ist in einer weiten, sich um die Domkirche herumziehenden Halle aufgestellt; nur wenige Buden finden sich am Eingange, und man geht durch die offene, jetzt noch zu einem Kornmagazine benutzte, Kirche selbst, wenn man die mit Waren aller Art gefüllten Hallen besuchen will. Mir gefällt diese Einrichtung nicht; das Heilige der Religion steht hier mit dem Gewerbe des bürgerlichen Lebens, so wie es der gewöhnliche Sinn auffasst, in einer widerstrebenden Verbindung. Derselbe Mund, der eben beim Gange durch die offene Kirche ein leises Gebet sprach, öffnete sich wohl im ersten Schritte zur anstoßenden Halle, um kein anderes Gebet als das des Handels zu verkünden. Wenn der eine Blick sich zum Altar erhob, fällt der zweite vielleicht auf ein leichtfertiges Gemälde, da gerade am Eingange zwei italienische Bilderhändler stehen.


Wie die Grade der Wärme der leichtbewegliche und aufwallende Weingeist in dem der äußeren Luft verschlossenen reinen Glase bezeichnet, so gibt es in der unschuldigen reinen, vom äußeren Leben noch nicht gedrückten, Kinderbrust eine wichtige Bezeichnung für alles moralisch Gute, und diese wirkt, sinkend und steigend, man könnte sagen, der Geist des Gefühls – ohne die Logik des Verstandes erst brauchen zu müssen. Auch hier machte ich die Bemerkung, als meine Kinder, mit tadelnder Verwunderung, es nicht begreifen konnten, wie den Markt und die Kirche eine Mauer vereinen könnte.

Mir schien diese Messe, welche vier Wochen dauert, weniger von fremden als einheimischen Krämern besucht; nur einige Buden, in denen Petersburger Kaufleute, und andere, in denen Juden aus Kurland und Litauen handelten, bemerkte ich, auch schienen mir die Waren nicht anders, und weder besser noch wohlfeiler zu sein, als man sie in den gewöhnlichen Laden in den Straßen findet.

Die Straßen in Riga sind, bis auf ein Paar, die indes nur sehr kurz sind, alle ungemein eng, und von vier bis fünf Stockwerk hohen Häusern umgeben. Manches kleine Gässchen ist so schmal, dass ein Wagen nicht durchfahren kann, und ein Mann mit ausgebreiteten Armen sie allenfalls sperren könnte; und doch sollen hier ausbrechende Feuersbrünste sehr bald gelöscht werden, weil die Löschanstalten so trefflich von der Polizei unterhalten werden. Diese ist, nach dem Muster der Residenz, durch Anstellung reitender Polizeisoldaten noch sehr vervollkommnet worden; eine Einrichtung, die besonders hier, der engen Straßen wegen, bei allen öffentlichen Festlichkeiten dringend nötig ist, um das Überfahren der Fußgänger zu verhüten. Auch diese, wie so manche andere sehr zweckmäßige Einrichtung, verdankt die Stadt Riga ihrem jetzigen Kriegs- und Generalgouverneur, dessen Eifer für alles Gute, wie seine Gerechtigkeit und Freimütigkeit, ihm die allgemeinste Liebe und ein unbegrenztes Vertrauen erworben haben. Dass wenigstens die Hauptstraßen Rigas mit geringerer Gefahr als ehemals durchfahren werden können, auch das ist ein Verdienst des Kriegs- und Generalgouverneurs. Es waren nämlich an manchen Häusern kleine Vorstübchen angebaut, die ungefähr die Form hölzerner Marktbuden hatten, und wohl aus solchen sich allmählich zu steinernen Zimmerchen entwickelt haben mochten; diese verengten die an sich schmalen Straßen noch mehr, haben aber jetzt allmählich verschwinden müssen, und so ist z. B. die Kaufstraße, nachdem auch die Häuser sich mit frischen Farben geschmückt, eine recht hübsche breite Gasse geworden.

Ich habe bei dem Kriegs- und Generalgouverneur mit dem weit und breit berüchtigten General Vendamme heute zu Mittage gespeist; er mag nicht viel über 40 Jahre alt sein, und ist von ansehnlicher Gestalt mit einem schwarzen feurigen Auge, krausen schwarzen Haaren und Backenbart. Man sieht dem Manne die Grausamkeit und Wildheit nicht an, die sein ganzes Leben so empörend bezeichnet haben, nur wenn er heftig spricht, was bei ihm oft geschieht, so öffnet sich sein Mund auf eine Weise, die man nicht anders als ein Zähnefletschen nennen kann. Da seht den Tiger, hätte ich beinahe laut gerufen, als ich zuerst diese Bemerkung machte. Während der Anwesenheit des Generalgouverneurs äußerte sich Vendamme sehr bescheiden, verbindlich sogar, und sprach kein Wort, das er nicht strenge, selbst vor der königlich französischen Polizei in Paris, hätte verantworten können; als aber der Generalgouverneur durch Geschäfte abgerufen ward, da war der prahlende und hochmütige Franzose gleich da. Er tadelte Napoleons Feldzug nach Russland, indem er äußerte: Ich sagte es ihm, dass der Feldzug übel enden würde; deshalb entfernte er mich; doch ließ er mich, als es ihm schlecht ging, wieder kommen, denn er weiß wohl, dass ich einer der kriegerischsten unter seinen Generalen bin; ich sage nicht, dass ich tadele, fuhr er fort, um jetzt in seinem Unglücke Böses von ihm zu sprechen; ich bin selbst ein zu großer Mann, um es nicht für eine Ehre zu halten, sein Diener zu sein. – Ich richtete an ihn die Frage, ob auch er auf seinen Gütern alliierte Truppen gehabt? Nein! antwortete er, darüber habe ich Nachricht, bei mir ist Niemand gewesen; indes, wären sie auch hingekommen, sie hätten dort meinen Wein getrunken, während ich in Russland Quas trank. – Jemand in der Gesellschaft machte hierauf laut die Bemerkung, wie gesund der Quas wäre, obgleich der Wein das Blut leichter fließen lässt, als jenes Getränk. Vendamme sprach fort, und schien diese deutsame Notiz gar nicht gehört zu haben. Auf die Frage, ob der Weinbau nicht durch den Krieg gelitten haben möchte, erwiderte er: der kann in Frankreich eben so wenig zerstört werden, als in Russland das Eis. – Als der Generalgouverneur von seinen Geschäften zurückkam, änderte Vendamme (um den Ausdruck seines würdigen Meisters zu wählen) seine ganze Haltung. Er hatte Tackt genug, um zu wissen, dass jetzt sein Übermut übel angewandt sein würde, und aus dem kriegerischsten der großen Generale Napoleons war wieder ein schmeichelnder Hoffmann geworden, gegen den man so viel Artigkeit beobachtete, als der General eines neu befreundeten Staates fordern konnte, der aber doch wohl merken musste, wie wenig der Wertseiner Person hieran Teil hatte.– Als Vendamme in Riga anlangte, hatte ihn irgend Jemand, der ihn in Bremen gesehen, erkannt; gleich hatte sich um seinen Wagen eine Menge Volks versammelt, die eben nicht die freundlichsten Erinnerungen in ihm zurückrief; Bremen und Breslau, waren der Prolog, dann folgte ein Chorus, wie ihn vielleicht die Eumeniden täglich in seiner Seele sprechen; nun aber wäre sicher der Epilog eines Steinregens gefolgt, wenn sich die Polizei nicht als Regenschirm eingefunden hätte. Ein glaubhafter Mann versicherte mir, dass er Vendamme bei dieser Scene heftig zittern gesehen hätte, und wie er, ein Schnupftuch vors Gesicht haltend, in das Hotel, wo der Wagen hielt, geeilt wäre. Kaum wusste sich Vendamme unter dem Schutz der Polizei, so kam ihm die gallische Keckheit gleich wieder, und den Polizeioffizier, der ihn zu seinem Schutz begleitete, wenn er ausfuhr, schien er wie seinen Adjutanten zu betrachten, und außerdem recht gern sich sehen zu lassen, wo es nichts zu befürchten gab. So erschien er öfter im Korridor des Hotel de Petersbourg, wo ich neben seinen Zimmern logierte, und wo auch meine Familie ihn sah, und er mich sehr verbindlich anredete. Ich hätte ihn besucht, wie man einen Tiger an der Kette sieht, aber ein Gefühl von Scham hielt mich ab, – und als ich forschen wollte, woher diese käme, da man doch ohne Bedenken in jede Menagerie geht; so schien mir solche aus dem Widerspruch herzurühren, in welchem hier die Achtung für den Stand eines Heerführers einer gebildeten Nation, für den Mann von einer so günstigen äußeren Bildung, und für den Geist, den sein Umgang bezeichnet, mit der Verachtung seines moralischen Wertes und seiner wilden rohen blutgierigen Tierheit stünde. Das Selbstgefühl entfernt uns mit Ekel von einem bloß verächtlichen Gegenstande, aber mit einer Art Scheu und Scham von demjenigen, dem wir in irgend einer Beziehung den Wert nicht absprechen können, und wo das, was wir anzuerkennen gezwungen sind, uns in Verlegenheit setzt, wie wir uns in Beziehung auf den Gegenstand stellen sollen, über dessen Sein keine Einigkeit in unserer Seele ist. Vendamme, der sehr reich sein soll, hat mehrere hier anwesende deutsche Schiffer anreden lassen, um zu Wasser nach einem französischen Hafen gebracht zu werden. Mehrere haben erwidert, ihr Schiff solle kein solches Ungeheuer besudeln, das ihrem Vaterlande so viel Böses getan; endlich hat sich doch einer für eine sehr große Summe bereit gefunden, und in einigen Tagen segelt er, von mehreren französischen Offizieren, und ein Paar Französinnen, die sich ihm zugesellten, begleitet, nach Dieppe ab. Der Schiffer hatte sicher den Glauben der alten Seefahrer nicht, dass ein Verbrecher auf einem Schiffe Sturm und Gewitter errege, sonst würde er diese schwere Last wohl kaum geladen haben, die nicht weniger als der Fluch von ganz Europa wiegt. Ich habe irgend wo in einer Geschichte Vendammes gelesen, dass er zur Zeit der Revolution sich mit unter denjenigen befunden habe, die das blutige Herz der Prinzessin Lamballe verzehrten; ich kann nicht sagen, wie unbeschreiblich mich diese Vorstellung in seiner Gegenwart peinigte; mir war, als sähe ich das blutende noch zuckende Herz an seinen Lippen, und schauderte, und hätte ihm mit dem Chore aus Schillers Braut von Messina zurufen mögen:

      Wehe, wehe dem Mörder, wehe,
      Der sich gesä’t die tödliche Saat.
      Ein anderes Antlitz eh' sie geschehen,
      Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat.

Vendamme weiß es, dass man allenthalben die Gräuel seines Daseins kennt. Der Marquis Paulucci wollte sich an ihn mit der Frage wenden, ob es gegründet sei, dass er schon das Marschallspatent in der Tasche gehabt als er gefangen worden, hatte aber kaum die Frage mit den Worten begonnen: Man sagt, dass Sie – als ihn Vendamme unterbrach – ja man sagt, dass ich Menschenfleisch esse, und Blut trinke, aber das ist nicht gegründet. Der Marquis lächelte und erwiderte: man ist hier in Russland zu höflich, um über solche Dinge seine Gäste zu befragen, selbst wenn man auch etwas Ähnliches denken sollte; und nun erfuhr Vendamme, wie das man sagt gemeint gewesen, leugnete seine Würde als Marschall de poche, und entschuldigte sein voreiliges Unterbrechen, zu dem bei Abgang Alles, folglich selbst des bösen Gewissens, ihn wohl nur die Furcht verführt hatte, dass, wenn in Riga seine Taten zu bekannt würden, seine Abreise einen noch misslicheren Abschied erhalten könnte, als es der Gruß bei seiner Ankunft gewesen.

Dass Vendamme aber ohne militärische Kenntnisse, nur ein bloßer wilder tollkühner Soldat sei, der planlos in den Feind dringt, ist völlig grundlos, und durch das Zeugnis eines eben so talentvollen als kenntnisreichen Feldherrn widerlegt.

Als Vendamme sich eines Tages während seines Aufenthalts in Riga bei dem Marquis Paulucci melden ließ, fand er mehrere schöne und seltene Karten in dessen Arbeitszimmer aufgeschlagen, wandte das Gespräch auf diese, und besah sie alle sorgfältig und genau. Der Marquis, welcher von Vendammes militärischen Kenntnis eben nicht viel Ausgezeichnetes gehört hatte, wollte ihn prüfen, und äußerte die Meinung, die Hauptsache wäre doch immer, geradezu ohne weitere Umsicht auf den Feind einzudringen und ihn so zu vernichten. Vendamme war fein genug, um zu merken, dass diese Behauptung hier nicht Ernst sein könnte, und wandte sich mit einigem Eifer an den Marquis, indem er sagte: Sie haben, Herr General, einen zu guten militärischen Ruf und in Ihren Feldzügen zu viel geleistet, als dass ich daran zweifeln sollte, dass Sie jetzt nur meiner spotten wollen. – Nun aber räsonierte er über Kriegswissenschaft und alle Hilfsquellen derselben, über einzelne Operationen und deren Details, mit einer Kenntnis und Klarheit, die ihn als denkenden und geschickten Heerführer bezeichneten; so dass der Marquis Paulucci, selbst zu reich an Verdienst, um nicht das fremde zu achten, gegen mehrere seiner Bekannten äußerte, eine recht angenehme und interessante Unterhaltung gehabt zu haben, und wie er jetzt sich selbst überzeugt habe, dass Vendamme eben so viel militärisches Talent als Kenntnisse besitze.

Ich wollte anfangs diesen Brief von hier absenden, aber ich setze mein Reisejournal bis Dorpat fort, da die Post heute nicht abgeht. Bei meiner Rückreise schreibe ich dir von Riga, das ich schon morgen früh verlasse, gewiss mehr. Ich muss eilen, denn allgemein sagt man, die Rückkunft des Kaisers sei nahe, und ich möchte doch den schönen Tag nicht versäumen, wo seine Residenz ihn jubelnd nach so langer Trennung und nach einem so glücklichen Feldzuge begrüßt.