Riga, den 2ten Juli 1814

Es war ein schöner heiterer Sommermorgen, an dem ich Mitau verließ. In den ruhigen Fluten der Aa spiegelte sich das alte herzogliche Schloss, und nur in diesem Spiegel gewann es das alte Ansehen ehemaliger Pracht und Größe, da die verwitterten Stellen hier im Bilde nicht so bemerkbar waren, als in der Wirklichkeit. Es geht mit vielen Gegenständen des Lebens so, die ihren Glanz, ihren Werth sogar, für uns verloren haben, dass sie reflektiert werden müssen, um wieder heller zu strahlen. Das ganze Menschenleben reflektiert sich so im Ideal der Kunst, und so nur sieht man die Lücken, die eingesunkenen und verwitterten Stellen nicht. Längst der Brücke waren die Lastboote schon mit arbeitenden Menschen bedeckt, und von den Wiesen her schallte der Gesang der kurländischen Hirtinnen in langgedehnten Tönen, die die beste Komposition des Chors im Werner’schen Kreuze an der Ostsee sein würden, und des Pikollos hu, hahahu hu sehr natürlich ausdrücken. Die Schanzen des Brückenkopfs an der Aa, die hier die Feinde so mühsam durch die Landleute Kurlands aufführen ließen, dienten jetzt nur, um den Wiederhall der frohen Gesänge jener Hirtinnen zu verstärken; indes waren sie zum Teil bereits eingesunken, und hin und wieder hatte schon ein Gräschen sich anzusiedeln versucht, sah aber so dünn und einsam in die frisch umher blühenden Wiesen nieder, als hätte es sich gefürchtet, hier, in dem von wilden Menschen so durchwühlten Boden, tiefe Wurzel zu schlagen. Ist die Blüte der Kunst, die lieblichste des Menschenlebens, nicht eben so geneigt, sich da nur herrlich au entfalten, wo sie ruhigen, nicht von innen oder außen durchwühlten, Boden hat? auch sie fing in meinem Vaterlande herrlich zu keimen an; auch sie haben die Stürme des Krieges und seines Gefolges im Wachsen zerstört. Werden die Zeiten wieder kommen, wo der Kranz wieder duftet, den die Musen zu winden begannen?

Mich beschäftigten allenthalben Erinnerungen der letzten verflossenen Jahre. In Zennhoff, 8 Werst von Mitau, einem schön gelegenen Gute des Grafen Raczynski, waren alle Gebäude vom Feinde abgebrannt worden; manche hatte man schon wieder gebaut, aber mitten zwischen grünenden Bäumen und Hecken standen noch die nackten Schornsteine, wie Denkmale des wilden Krieges, und warfen in den grünen Rasenplatz lange finstere Schatten als Stundenzeiger einer vorübergezogenen schrecklichen Zeit.


An der Eckau, einem Wasser, das zwischen Bach und Fluss die Mitte hält, hatten sich die Schanzen noch sehr gut erhalten, die auch hier der Feind aufgeworfen hatte. Der Krug, in dem jetzt eine Menge froher Bauern schwärmten, war damals das Kommandanten-, Wacht- und Blockhaus gewesen, wo viele Landleute, die man aus den fernsten Gegenden Kurlands zum Schanzenbau, hergetrieben, ihr Grab gefunden.

Der Feind zwang sie, länger hier zu arbeiten, als er selbst früher bestimmt hatte, die mitgebrachten Nahrungsmittel reichten nicht zu, manche entflohen, manche aber wurden erschossen, da man gerade ihre Flucht bemerkte, und noch mehrere starben durch Hunger und Ermattung bei einer so angestrengten schweren Arbeit. Selbst diejenigen, welche endlich zur Heimat wiederkehrten, wurden größtenteils Opfer des Todes. Die lange Angst, die schwere Arbeit, der Hunger, und die Härte, mit der man sie Tag und Nacht viele Wochen lang der herbstlichen Witterung Preis gab, hatte ihre Kräfte erschöpft. Nervenfieber waren die unausbleiblichen Folgen, und verbreiteten sich immer weiter. Man kann diese Schanzen als große Altäre betrachten, auf welchen viele Hunderte armer Bauern geschlachtet worden. Wenn gleich selbst mancher deutsche Offizier von der heiligen Pflicht der Menschheit sprach, die keine Leibeigenschaft dulde, so misshandelte er nichts desto weniger auf eine hier unerhörte Weise die Schanzarbeiter, oder solche Bauern, die entweder ihn selbst, oder Belagerungsgeschütz, Munition und allerhand als Requisition eroberte Gegenstände, mit schwachen schon von langen Reisen ermüdeten Pferden fahren mussten. Es ist eine Wahrheit, die ich zur Ehre des kurländischen Adels laut aussprechen darf, dass trotz der großen Anstrengung, welche der Feind von den kurländischen Bauern verlangte, doch die der Privatbesitzer am wenigsten gelitten haben, weil die Herren für sie die Requisitionen trugen, ihren Verlust an Vieh und Pferden ersetzten, und ihnen Saat und Brot wiedergaben, wo es der Feind geraubt hatte. In solchen Gegenden freilich war kein Ersatz möglich, wo, wie bei Zennhoff, die Gebäude des Gutsbesitzers und der Bauern zugleich abgebrannt, und sogar die Äcker und Wiesen, durch Gruben in den Lagern, und bei dem Rasenstechen zu den Schanzen, für viele Jahre zerstört worden. Nur in dem glücklichen England gilt die Großmut eines ganzen edlen Volkes als Hypothek für den Einzelnen, besonders vom Schicksal Gemisshandelten.

Bis hinter dem Dorfe Olai, ungefähr zwei Meilen von Riga, sieht man noch einige Spuren des Krieges, und hört die Geschichte seiner Drangsale von den Einwohnern dieser sehr gut kultivierten Gegenden. Der Festung näher festen Stand zu fassen, hatte der Feind nicht gewagt, nachdem er, bei einer am 3ten November versuchten Attacke, bis zu einer versteckten Batterie gelockt, großen Verlust erlitten und sich darauf eiligst zurückgezogen hatte, als man schon in Riga, wo der Kanonendonner deutlich gehört, und sogar der aufsteigende Rauch gesehen ward, kräftig entschlossen war, mit Bürgern die Wälle zu besetzen.

Wie es dem Marquis Paulucci, als Kriegsgouverneur von Riga, der doch, was man gewiss weiß, nicht mehr als 13.000 Mann dienstfähiger Soldaten zwischen Riga und Dünamünde unter seinem Kommando hatte, möglich wurde, 35.000 Mann Feinde bis auf zwei Meilen von der Festung zurückzuhalten, muss Jedem unbegreiflich scheinen, der es nicht weiß, wie geschickt der Feind über die eigentliche Zahl der Riga’schen Garnison getäuscht ward, so dass er mit fester Zuversicht die Ankunft neuer Truppen in Riga glaubte. Freilich marschierten oft genug Soldaten zur Stadt, bald zu diesem bald zu jenem Tore, herein, aber es waren immer dieselben, und die ernsten Überfälle, wenn der Feind solche am wenigsten erwartete, ließen auf eine große Anzahl Militär schließen, welches außer der Garnison vor der Stadt kampierte. Es ist gewiss, dass der Marschall Macdonald die Garnison in Riga selbst auf 30.000 Mann geschätzt hat. Die Festungswerke der Riga’schen Vorstadt, oder vielmehr der Brückenkopf des Dünastroms, war noch nicht ganz vollendet, als schon der Feind bis Mitau vorgedrungen war. Damals sah ich Riga, als der Feind wenig Tage darauf die Stadt Mitau überschwemmte. Welch ein Damals, und Jetzt! – Von dem Turm der Domkirche hingen große schwarze an Schnüren befestigte Bälle herab, welche bewegt werden konnten, und einen Telegraphen bildeten, um mit den englischen Kriegsschiffen, die auf der Reede lagen, zu korrespondieren. Die Bälle hatten aus der Ferne das Ansehen großer Kanonenkugeln, und so erschienen sie mir auf der Spitze des Kirchenturms, wie Symbole der eisernen Kraft, durch welche der Russe Glauben und Vaterland verteidigen wollte.

Die Garnison sah ich damals beschäftigt, auf vielen Booten schon gefüllte Bomben nach der Mitau’schen Vorstadt zu fuhren. Die schöne Dünabrücke war von Schiffen entblößt, man sah kein fröhliches Gesicht unter den Einwohnern, und jeder Anruf der Schildwachen tönte lauter und ernster durch die einsamen Straßen, die kein Handel belebte. Damals stand freilich die schöne Petersburger und Moskauer Vorstadt noch, welche später fast ganz ein Raub der Flammen wurden; aber schon damals sah man sie als rettungslos verloren an. Der Vernichtung geweiht, standen die Häuser beinahe schrecklicher noch da, als man sie später in ihren Ruinen erblickte, denn sie deuteten auf den kommenden Tag, der sie den Flammen weihen würde; ach! er kam, mit furchtbarer grausamer Gewalt, und unbeschreibliches Elend vieler Tausend stiller friedlicher Menschen mit ihm. Wenn ein vorausgesehenes, unabwendbares Unglück geschehen ist, erst dann, auf den öden Trümmern, erblickt man die bleiche aber doch freundliche Gestalt der Hoffnung; vor dem Schrecken des noch kommenden gewissen Jammers entweicht sie mit scheuem Fluge. Die Kriegsmaßregel, welche hier 800 Häuser, die Nebengebäude, Kornmagazine und Buden nicht mitgerechnet, vernichtete, kann man freilich wohl übereilt nennen, da der Feind niemals so nahe kam, um die Vorstädte besetzen zu können; doch glaube ich gewiss, dass wenn der Brand der Vorstädte nicht frühzeitig erfolgte, und schon hieraus allein der entschiedene Vorsatz der hartnäckigsten Verteidigung der Festung selbst erwiesen worden wäre, der Feind es, mit so überwiegenden Kräften, kühner versucht haben würde, sich der Festung zu nahen, die doch so schwach besetzt war. Wäre aber Riga genommen worden, vielleicht hätte der ganze Feldzug des Jahres 1812 nicht so herrlich vollendet werden können. In einem Kriege, den die Gottheit selbst so sichtbarlich als den der unterdrückten Menschheit gegen die Gewalt des bösen Prinzips in ihr weihte, kann man es wohl glauben, dass Rigas Vorstadt, wie das heilige Moskwa und alle die Städte und Dörfer auf dem Schreckenswege, den Napoleon zog, nur als heilige Sühnopfer brannten – aus deren Asche der frische Lorbeer des Sieges und endlich die herrliche Palme des Friedens so prächtig entkeimte.

Der damalige Kriegs- und Generalgouverneur von Essen, welcher das Abbrennen der Riga’schen Vorstädte befahl, ist dieserhalb von sehr Vielen bitter getadelt worden; doch mancher edle und einsichtsvolle Rigaer, der die guten Eigenschaften dieses jetzt verstorbenen Mannes nicht übersah, entschuldigte ihn in Betreff des Brandes der Vorstädte selbst; wiewohl freilich den Umstand, dass die Einwohner, welche früher mit der Hoffnung, die Gefahr würde vorüber gehen, getröstet worden, plötzlich ihre Häuser auflodern sahen, nur eine völlig entschiedene Annäherung des Feindes hätte rechtfertigen können. Es ist indes gewiss, dass Essen selbst hier, vielleicht gar absichtlich, getäuscht ward, und seinen Irrtum durch die bittersten Gewissensbisse bis an seinen Tod büßte, der ein Jahr später an demselben Tage erfolgte, als die Vorstadt Rigas in Feuer aufging. Ich habe Essen gut gekannt, habe ihn geachtet, und möchte gern von seinem Andenken die Schmach einer bösen Tat löschen, welche nur der absichtlich böse Wille bestimmt. Er glaubte streng seine Pflicht zu erfüllen; er irrte hierbei, irrte schrecklich; doch dort, wohin er sich vor das Gericht ewiger Gerechtigkeit stellte, gelten alle Entschuldigungen, die sogar hier ein menschliches Herz nicht verwirft.

Als der harte Winter des Jahres 1812 die Düna mit einer Eisdecke belegt hatte, welche stark genug war, um die größten Lasten zu tragen, schien Rigas Lage noch bedenklicher, da der Strom, der die Stadt von der einen Seite mehr als der einfache Wall deckt, nun eine offene zugängliche Fläche geworden war; doch das Genie und der beharrliche Muth findet immer Rettungsmittel, auch in der dringendsten Gefahr. Der Marquis Paulucci, welcher, als Essen außer Tätigkeit gesetzt ward, zum Kriegsgouverneur von Riga vom Kaiser ernannt worden, ließ Batterien von großen Eisblöcken auf dem Strome selbst errichten, und 30 Kanonenboote bildeten starke Außenwerke, während im Flussbette täglich eine breite Strecke aufgeeist ward.

Ob nicht irgend wo ein Politiker, wenn er diese Mittel zur Verteidigung Rigas erfährt, abermals ausruft: wie doch der Frost allenthalben die Russen begünstigt hat und zu den Siegen derselben benutzt worden ist! Sage du aber solch einem weisen Herrn, wenn du ihn unter deinen Bekannten findest, dass eben das ein Kennzeichen des Genies ist, das sich Darbietende auf das Zweckmäßigste und Angemessenste zu benutzen. Die Russen, welche in Finnland, nur den Kompas zum Wegweiser habend, über ein gefrorenes Meer setzten, so wie die, welche die Wälle Rigas mit einem Eisspiegel bekleideten, andere Wälle von Eis auftürmten und eine Festung im starrenden Fluss bildeten, oder Napoleons Heer über Schneefelder verfolgten, taten allenthalben nichts mehr, als dass sie mit Kraft, Mut und Geist die Natur selbst zu Erreichung ihrer durch Ehre und Vaterlandsliebe vorgezeichneten Zwecke benutzten. Das aber ist eben das große Verdienst des Feldherrn, der ohne Kenntnis und zweckmäßigste Anwendung der Lokalität nimmer siegreich sein kann und wird.

Während der Nähe des Feindes, haben sich Rigas Einwohner, obgleich sie in ihren Vorstädten so wichtige Verluste zu bedauern hatten, dennoch mit sehr vielem Eifer für die große Sache des Vaterlandes, mit Mut und Würde benommen. Die Opfer, die sie zum Unterhalte ihrer abgebrannten Mitbürger darbrachten; die Verpflegung der vielen Kranken und Blessierten, selbst durch persönlichen Besuch der Hospitäler von Seiten der angesehensten Bürger, deren mehrere durch Ansteckung den Tod fanden; die Willigkeit, alle Leiden des Krieges standhaft zu ertragen; die freiwilligen Gaben jeder Art auf dem Altare des Vaterlandes dargebracht; die Ordnung ihrer Bürgerpatrouillen, von denen sich die angesehensten Männer nicht ausschlossen: alle diese einzelnen wahrhaft edlen Züge sind nicht nur würdig, die Blätter einer Geschichte des großen Weltkrieges zu schmücken, sondern sie sind selbst die einer Bürgerkrone, welche die Achtung aller redlichen Russen dieser Stadt zuerkannt hat, die so den Namen einer Kaiserlichen, den sie in allen Urkunden zu führen pflegt, mit Recht verdient.

Zur Geschichte Rigas, während der Nähe des Feindes, ist ein recht gut geschriebenes Buch, bei Hartknoch in Leipzig, so eben, unter dem Titel, „Skizzen zu einer Geschichte des russisch-französischen Krieges im Jahr 1812“, erschienen, das einige recht interessante Notizen hat, nur bedaure ich, dass der Verfasser, während der feindlichen Okkupation von Kurland getrennt, manche diese Provinz betreffende Nachricht aus ganz falschen Quellen geschöpft haben muss. So nennt er z. B., pag. 89, unter den Mitgliedern der französischen Regierungskommission, welche, wie er schreibt, Essen mit harten, aber verdienten Worten abgesetzt haben soll, auch einen von Fölkersahm, da sich doch Niemand dieses Namens, unter den vom Feinde ernannten Beamten befand, und der bei der Russisch-Kaiserlichen Gouvernements-Regierung angestellte Rat von Fölkersahm, bei Annäherung des Feindes, dem erhaltenen Befehle gemäß, Mitau mit seiner zahlreichen Familie verlassen, sich nach Petersburg hinbegeben hatte, und erst im Oktober 1812 mit dem Generalgouverneur Marquis Paulucci zurückkehrte.

Die Festungswerke der Mitau’schen Vorstadt haben keinen siegenden Feind in den Armeen Napoleons gefunden, aber die Düna selbst versuchte, die eigene Schutzwehr im Frühjahr 1814 zu vernichten, und wirklich gelang es ihr, einige Außenwerke, wenigstens zum Teil, zu durchwühlen, die Palisaden wegzuspühlen, und überhaupt durch die Zerstörung vieler Speicher, Hanfmagazine und dem Ufer nahe gelegener Häuser einen Schaden von zwei Millionen Rubeln zu verursachen.

Es war, als wollte das Wasser von der einen Seite der Stadt dieselbe Kraft der Zerstörung beweisen, welche den Flammen auf der andern früher gelungen war. Wie reich muss Riga gewesen sein, da ein solcher durch zwei mächtige Elemente hervorgebrachter Verlust, die übrigen Leiden der Zeit und des Krieges nicht einmal gerechnet, dennoch den Wohlstand derselben wenigstens nicht ganz vernichten konnte; obgleich auch der kürzeste Aufenthalt demjenigen, der diese blühende Stadt vor etwa fünf oder sechs Jahren sah, die Bemerkung aufdringt, dass daselbst lange nicht mehr jener allgemeine Wohlstand herrschet, der sich früher in allen gesellschaftlichen Kreisen eben so glänzend als geschmackvoll aussprach.

Da der Fuhrmann, den ich von Mitau bis Riga angenommen, seine Pferde in dem tiefen Sande schonte, der fast die ganze Straße bedeckt, so war ich erst am Nachmittage in Riga angelangt. Ich sandte meinen Wagen nach dem Hotel, denn den herrlichen Spaziergang über die Dünabrücke wollte ich sogleich benutzen. Wie freundlich hatte der erste, nicht einmal volle Aufblick des Friedens, hier schon Alles verändert! die Brücke, die ich vor zwei Jahren leer und finster, wie einen schwarzen über dem Strom gezogenen Strich, sah, hatte jetzt größtenteils ihr prächtiges Geländer von großen und kleinen Schiffen schon wieder erhalten; allenthalben sah man den Strom hinunter Schiffe vor Anker liegen, und in der Ferne, der Bolderaa zu, ragten ebenfalls viele Masten hervor. Kleine Fischer- und Lastboote durchkreuzten den Strom nach allen Richtungen, es war die Regsamkeit des alten Handels aufgelebt, wenn gleich noch lange nicht zur vollen Kraft genesen; denn ich weiß es wohl, dass das, was ich jetzt sah, nur ein Miniaturbild der ehemaligen freien und großen Schifffahrt war, aber der lange entbehrte Anblick hatte durch Neuheit frischen Reiz gewonnen. Meine Erinnerung hatte das Bild bewahrt, als der Strom, öde und leer, nur die Boote der Soldaten trug, welche Bomben und Kanonenkugeln zum Brückenkopfe überführten; und in jenem Kontraste sah ich ihn jetzt wieder. Man freut sich des Genesenden nach langer schwerer Krankheit mehr, als des Gesunden – und ein lebhafter blühender Handel ist ein recht sprechendes Bild des Lebens eines kräftigen regen Mannes, und nimmt die innigsten Gefühle seiner Seele zur bildlichen Beziehung: – den Mut im Trotzen der Elemente, den Glauben an die Vorsehung, die auch den Meeresfluten gebietet, die Liebe im eilenden Fluge schwellender Segel bei der Rückkehr zur Heimat, das stille häusliche Glück im Ringen nach Eigentum, um Wohlstand im geliebten Familienkreise herbeizuführen. Die Freude, sie erschien nicht bildlich, sondern tönte leibhaftig mir eben von einem großen Lübecker Schiff im lauten Chore entgegen, und aus den offenen Fenstern der Kajüte sahen so volle und rot glühende Gesichter nieder, dass man leicht sah, welch ein starker Geist der Lust in sie gefahren sei, und hier über den Wassern schwebte.

Die Wälle der Stadt, die ihr grünes Haupt auf die Mauer fester Granitquadern stützen, und über welche die höher liegende Zitadelle und das alte herrmeisterliche Schloss mit seinen Türmen hervorragt, gaben ebenfalls, von der Brücke aus, einen recht malerisch schönen Anblick; diesen hatte ich vor meine Seele gestellt, als ich in der von mir gedichteten Kantate, zur Feier des Jubelfestes in Riga den 4ten Juli 1810, die Verse schrieb:

      Seht hin, wie dort mit Windesflügel
      Der Düna Strom zum Meere flieht,
      Doch fest in seiner Fluten Spiegel,
      Das Bild von unsern Mauern sieht.

      So spiegelt sich mit Kraft und Weihe
      Tief in des Zeitenstromes Grab
      Des Mannes fortgeerbte Treue,
      Selbst in der flücht'gen Woge ab.

      Wenn auch Jahrhunderte verfließen,
      Grünt an des Stromes nahen Rand,
      Wo Früchte reifen, Blüten sprießen,
      Ein schönes segenreiches Land.

Den freien Platz vor den Toren, zwischen den Wällen und dem Dünastrome, welcher zugleich als Marktplatz für die mit Böten, und von der Mitau’schen Seite landwärts, zur Stadt gebrachten Lebensmittel aller Art benutzt wird, fand ich eben so, wie die Dünabrücke, wieder mit einem sehr großen Menschengewühl angefüllt; besonders waren gerade sehr viele Polen und Litauer anwesend, welche mit Erstaunen, die Menge der französischen Kriegsgefangenen zu betrachten schienen, die hier ihren kleinen Einkauf an Lebensmitteln machten, und dagegen Ketten und Ringe, von Pferdehaaren gedreht, Strohhüte und dergleichen zum Verkauf anboten. Gestern ist hier wieder ein Transport von 800 Mann aus dem Innern des Reichs angekommen; auch der berüchtigte Vendamme befindet sich in diesem Augenblick hier. Sonderbar ist es, dass unter den Kriegsgefangenen sich viele Weiber befinden, die mit dem Feinde nach Russland gekommen waren, alle traurigen Schicksale desselben geteilt und überlebt haben, und nun mit den Männern nach Frankreich zurückziehen. Bei einem Transport von 100 Mann, konnte man sicher 3 bis 4 Weiber zählen; letztere (so artig ist der Russe selbst gegen ein gefangenes schönes Geschlecht) wurden gefahren, und erhielten allenthalben Nahrungsmittel und Geschenke, so dass vielleicht, mancher arme Franzose, auf Spekulation, sich gern eine weibliche Begleiterin besorgt hätte. Einige haben auch wirklich in Riga, Mitau und andern Städten größtenteils aus der Klasse der deutschen und polnischen Dienstmägde geheiratet. Die meißten Weiber, die ich sah, und die geborene Französinnen waren, fand ich alt und hässlich, und nur ein Paar konnte man hübsch nennen. Einige hatten zum Teil noch ganz kleine Kinder bei sich, und es rührte mich innig, einen Gefangenen zu sehn, der mit der einen Hand auf dem langsam fortrollenden Wagen gestützt, auf dem seine Gefährtin saß, mit der andern ein kleines Kind an seine Brust drückte, welches, das Köpfchen an die Schulter des Vaters gelehnt, sanft eingeschlafen war. Der Gefangene, ein Mann von mehr als 40 Jahren, mit einem starken schwarzen Backenbarte, und einem Gesichte, dem man es ansah, welchen Stürmen er schon mutig entgegen gegangen war, hatte bei der Artillerie gedient, und war an der Grenze von Spanien gebürtig. Ich fragte nach seinen Schicksalen; er erzählte sie mit einem finsteren Ernste, und als er die Leiden besonders im Anfange seiner Gefangenschaft schilderte, blickte er mit festem Blick auf seine Gattin, als wollte er sagen, diese ist mein Zeuge; sie aber saß wie in trüben Erinnerungen verloren, und nickte zur zuweilen mit dem Kopfe, indem sie ausrief: ah mon Dieu oui! Die Menschlichkeit der russischen Bauern im Archangelschen Gouvernement, wo dieser Soldat, und die andern, die ihn begleiteten, sich als Gefangene hatten aufhalten müssen, rühmten alle sehr, und versicherten, an Speise keinen Mangel gefühlt zu haben. Das Kind, ein halbjähriger Knabe, war in einem russischen Dorfe geboren, und hatte die Reise bis hierher mitgemacht. Wie früh warf ihn schon das Schicksal in die Fluten eines leidensvollen Lebens, und spülte ihn fort von den Ufern der Düna bis an die der Bidassoa; doch Vaterarme hielten ihn, und in diesen darf das Kind ruhig schlummern, so lange noch Atemzüge der liebenden Brust es wiegen. Wo ist eine Phantasie, und wäre es die eines Dante, welche eine Hölle zu schaffen vermöchte, die alle Leiden, all' den Jammer umfassen könnte, den ein Mensch über Millionen ausgoss? und dieser eine lebt, lebt noch! Die ewige Gerechtigkeit freilich nur kann ihn richten, aber die menschliche fordert Schutz ihres Geschlechts gegen ihn, und auch der Einzelne, der seiner Gewalt noch untergeben ist, hat Ansprüche auf die Rettung aus solcher Macht, die wahrlich keine andere, als die des bösesten aller bösen Geister ist.

Da ich noch einen Tag hier bleibe, so setze ich meinen Brief morgen Abend fort. Ich muss meine Familie auf den Jahrmarkt begleiten, und du sollst etwas von der Rigaschen Messe gleich in dem Lacke erhalten, den ich, um mein Schreiben an dich zu versiegeln, besonders kaufen will.
014 Riga, Die Kanzel im Dom

014 Riga, Die Kanzel im Dom

015 Riga, Innenansicht des Domes

015 Riga, Innenansicht des Domes

016 Riga, Der Turm der St. Petrikirche

016 Riga, Der Turm der St. Petrikirche

017 Riga, Hauptportal der St. Petrikirche

017 Riga, Hauptportal der St. Petrikirche

018 Riga, Die St. Petrie-, St. Johannis- und Domkirche.

018 Riga, Die St. Petrie-, St. Johannis- und Domkirche.

019 Riga, Die St. Jakobikirche

019 Riga, Die St. Jakobikirche

020 Riga, Siegel des Meisters des Schwertbrüderordens

020 Riga, Siegel des Meisters des Schwertbrüderordens

021 Riga, Das ehemalige Schloss des Deutschen Ordens. (Rekonstruktion)

021 Riga, Das ehemalige Schloss des Deutschen Ordens. (Rekonstruktion)

022 Riga, Madonnenstatue und Standbild des Ordensmeisters Wolter v. Plettenberg

022 Riga, Madonnenstatue und Standbild des Ordensmeisters Wolter v. Plettenberg

023 Riga, Erker am ehemaligen Ordensschloss

023 Riga, Erker am ehemaligen Ordensschloss

024 Riga, Die Häuser der großen und der kleinen Gilde

024 Riga, Die Häuser der großen und der kleinen Gilde

025 Riga, Der alte Gildensaal im Hause der großen Gilde

025 Riga, Der alte Gildensaal im Hause der großen Gilde

026 Rigo, Die Docke der großen Gilde

026 Rigo, Die Docke der großen Gilde

027 Riga, Rest eines Schnitzaltars im Saale der großen Gilde

027 Riga, Rest eines Schnitzaltars im Saale der großen Gilde

alle Kapitel sehen