Erinnerungen 1804-1837

Aus: Baltische Monatsschrift. XXXVIII. Band. Herausgegeben von Robert Weiss
Autor: Hermann, Carl Theodor, (?-?) Oberlehrer am Dorpater Gymnasium 1804—1837., Erscheinungsjahr: 1891

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Deutsche, Riga, Dorpat, Bauern, Hauslehrer, Lebensweise, Livland, Seereise, Pernau, Aberglauben der Seeleute, Leibeigener,
*) Trotz formeller Bedenken, wie sie bei Memoiren etc. nicht selten obwalten, erschien es wünschenswert, nachstehende Aufzeichnungen dem Druck zu übergeben, da sie für die Kenntnis der Verhältnisse in unserer Heimat um das Jahr 1800 nicht ohne Interesse sind, auch zur Geschichte der Universität und des Gymnasiums (vgl. Teil II der „Erinnerungen“) einen Beitrag liefern. Auch dürfen manchem unserer Leser eine oder die andere Mitteilung über Persönlichkeiten aus den Kreisen des Adels und der Literaten, mit denen der Verfasser bekannt geworden, willkommen sein. D. Red.

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Es war am 2. Juli 1796. an einem Sonntagmorgen, als ich in Leipzig von der Grimmaischen Gasse über den Markt nach dem Posthause ging, um mit der „gelben Kutsche“ nach Braunschweig zu reisen, denn bis dahin bewegte sich dieses schwere Fahrzeug mit Reisenden und schwerem Gepäck im Schritt der Frachtfuhren, ohne Aufenthalt, und kam etwa nach vier Tagen an; es wurden 24 Meilen zurückgelegt. Die Wege würde man jetzt für unfahrbar halten, damals ertrug man mit Ergebung die Langsamkeit und das Rütteln und Schütteln wie ein unabwendbares Naturereignis.

Keiner meiner Freunde und Bekannten konnte mich begleiten, sie hatten alle längst Leipzig verlassen, und unter den 8 oder 10 Mitreisenden waren mir alle fremd. Einem jungen Kaufmann, der Leipzig verließ und nach einer thüringischen Stadt ging, riefen seine Freunde ein lautes Lebewohl von der Stadt nach, das er gerührt erwiderte und meine stille Teilnahme sogleich gewann.

Mein Entschluss, nach Livland als Hauslehrer zu gehen, war weniger aus Neigung entstanden, als durch die Notwendigkeit veranlasst. Im Mai 1794 war ich im 21. Jahre bei der Juristenfakultät in Leipzig examiniert worden, hatte im Herbst bei dem Kreisamt in Leipzig die Advokatenspezimina gemacht, die in Dresden bei der Regierung als gut und tüchtig approbiert wurden, und war nun fertig, ins praktische Leben einzutreten. Aber wohin? Das Letzte meines väterlichen Erbes (300 Rthlr.), das mir durch den Tod des Vaters (Dez. 1792) zufiel, hatte ich in 2 Jahren für Unterhalt, Studien- und Examinationskosten aufwenden müssen und war also ohne Mittel, um in einer Stadt bei einem Kreisamt als Auscultant auf eigene Kosten leben zu können, welches der gewöhnliche Weg war, um als Beamter einzurücken. Ich musste also ergreifen, was mir dargeboten wurde, nämlich bei dem Patrimonialgericht im Schloss Purschenstein, zu dessen Gerichtsbezirk mein Geburtsort Kämmerswalde gehört, als Vice-Actuarius ohne Gehalt Zutritt zu erhalten; man konnte nicht zur Advocatur gelangen, wenn man nicht bei einer Behörde praktische Übungen gehabt hatte.

Mein Ältester Bruder war im Sept. 1793 der Amtsnachfolger unseres Vaters, Pfarrer in Kämmerswalde geworden; Mutter, Schwestern und jüngere Brüder lebten noch alle beisammen wie zu des Vaters Zeit, und dachten kaum daran, dass es nun anders sein könnte. Ich kam also im Nov. 1794 auch dahin und trat im Januar 1795 meine Stelle auf der Gerichtsstube in Purschenstein an; meine Wohnung nahm ich unten am Schlossberge im Hause eines Feilenhauers, wo ich eine Stube nebst Kammer oben bezog. Ein Webestuhl musste darin seinen Platz behalten, weil der Besitzer ihn nicht anderswo hinstellen konnte. Ein Klavier, Bett, Tisch und einige Stühle waren der ganze Hausrat. Mein Mittagsessen bekam ich aus dem Hause des nebenan wohnenden Gerichtsschöppen für sehr wenig Geld, es war höchst einfache Kost. Mein Getränk war nie etwas Anderes als Wasser, dazu am Abend und früh Butterbrot. Im Genuss der kräftigsten Gesundheit und an die einfachste Lebensweise von jeher gewohnt, fand ich eine besondere Befriedigung des Stolzes darin, so bedürfnislos und von äußeren Dingen so unabhängig wie möglich zu sein. Auf der Gerichtsstube fand ich genug zu lernen, in meiner Wohnung trieb ich Studien, die mir bisher ziemlich fern geblieben waren, ästhetische, literarische, etwas von Naturkunde und Anderes mehr. Öfters besuchte ich auch Kämmerswalde, eine Stunde Weges, zuweilen Pfaffrode, zwei Stunden Weges, wo mein Schwager Chalybaeus Pfarrer war, in dessen Hause sich gern eine Gesellschaft frohsinniger, munterer Menschen versammelte. Auch nach Freiberg wanderte ich einige Male, mein älterer Bruder nahm manchmal Teil.

Hätte ich damals nur 200 Thlr. besessen, so hatte ich in einer Staatsbehörde einen Platz suchen und aus eigenen Mitteln leben können, und mein Leben und Wirken wäre ein ganz anderes geworden, ich wäre nie nach Livland gegangen. Ich wurde dazu veranlasst durch meinen Freund Camenz, der 1793 nach Livland gegangen und 1795 zurückgekehrt war. Er lud mich ein, nach Leipzig zu ihm zu kommen, wo wir zusammen von seinem Ersparten leben könnten und, wie er nicht zweifelte, bald ein Unterkommen finden würden.

Camenz war kaum drei Jahre älter als ich, aber ich fühlte und erkannte seine Überlegenheit, und darum war er mir Muster und Strebeziel.

Mit ihm also lebte ich vom Nov. 1795 bis Juni 1796 wieder in Leipzig auf einer Stube. Wir lernten zusammen Englisch, ich las viel Französisch und bereitete mich auf Manches vor, was ich als Lehrer zu bedürfen glaubte, wobei Camenz mir Ratgeber und Führer war. Er hatte nicht Lust wieder nach Livland zu gehen, weil ihm die dortigen Verhältnisse zu wenig zusagten, obgleich die Predigerstellen im Ganzen dort viel einträglicher waren als in Sachsen; also nahm er lieber eine Privatlehrerstelle in der Niederlausitz an im Hause eines Präsidenten, der sich als Aristokrat fühlte; nach zwei Jahren ging er nach Dresden, bis er etwa wiederum nach zwei Jahren Prediger in Oberau, später Superintendent in Segda bei Wittenberg wurde. Mir musste es darum zu tun sein, mehr Geld zu verdienen, als ich es in Sachsen konnte, und darum wählte ich eine von den drei Stellen, die ich in Livland bekommen konnte, mit einem Gehalt von 200 Rbl. Silber, wie es Camenz auch gehabt hatte, welches damals das Gewöhnliche war, später aber, unter Pauls Regierung, bis zu 300 und 400 Silberrubel gesteigert wurde.

In Lübeck musste ich volle acht Tage bleiben, weil nicht eher ein Schiff abging; ich wollte eigentlich nach Riga, wohin ich Empfehlungen hatte, musste aber nach Pernau, wenn ich nicht vier Wochen auf ein Schiff nach Riga warten wollte. Von Leipzig an einen Kaufmann Wehrmann, einen geborenen Leipziger, in Lübeck empfohlen, befand ich mich in dessen Hause, wohin ich täglich eingeladenen war, ganz angenehm; seine Frau und Stieftöchter, die bis auf eine plattdeutsch sprachen, konnte ich nur schwer verstehen aber die hochdeutsch redende vermittelte die Unterhaltung und zeigte gern ihre Fertigkeit im Hochdeutschen. In Travemünde ging ich am 09. Juli 1796 mit dem kleinen Schiff des Schiffers Harder in See, gefasst auf die Seekrankheit, die ich aber nicht bekam. Von den Reisenden, die der Schiffer dieses Jahr geführt hatte, war ich der dritte, der weder ein Schiff, noch die See vorher gesehen und doch nicht seekrank wurde. Acht Tage dauerte die Reise, auf welcher ich Windstille, Gewitter, widrigen Wind und selbst Sturm — den die Schiffer aber nicht für bedeutend hielten — erfahren hatte, so dass ich einen ziemlich vollständigen Begriff von einer Seereise bekommen konnte. Bei gutem Weller ließ ich mir vom Steuermann, der, 24 Jahre alt, schon zwölf Jahre auf dem Schiff lebte und die Küsten von Ost- und Westindien gesehen hatte, vom Seeleben erzählen. Er hatte mehr Verstand und Kenntnisse als der Schiffspatron, bei dem ich mich dadurch empfahl, dass ich an der Morgenandacht teilnahm, die täglich in der Schiffsküche mit Gebet und Gesang gehalten wurde. Übrigens besaß er allen Aberglauben der gewöhnlichen Seeleute. Man durfte nicht fragen, wie lange die Reise dauern werde, nicht darum, weil man das nie mit Gewissheit voraussagen kann, sondern weil er eine solche Frage für unglückbringend hielt.

Nach einer stürmischen Nacht, in welcher laviert werden musste, um dem Strande nicht zu nahe zu kommen, kamen wir Vormittags (den 16. oder 17. Juli) vor Pernau an. An die schwankende Bewegung des Schiffes gewöhnt, fiel ich, als ich den festen Boden betrat, das Übergewicht verlierend, der Länge nach auf die Erde, zur Belustigung der Matrosen. Es dauerte 5 Tage, ehe sich bei mir das Gefühl verlor, als würde ich vom Schiff geschaukelt.

In Pernau, einer Festung, deren Häuser damals meist von Holz und nur ein Erdgeschoss hoch waren, war gerade Jahrmarkt. Hier sah ich in der Wirklichkeit etwas, wovon ich bisher nur durch Chodowieckis Kupferstiche zu Archenholz Geschichte des siebenjährigen Krieges (in Taschenformat) eine Anschauung gehabt hatte, wo gefangene Russen auf der Gasse sitzend und liegend, Speisen kochend und bratend dargestellt werden; geradeso, bärtig, schmutzig, unappetitlich kochend, mit hölzernen Löffeln abschreckende Kost zu sich nehmend, in grobe, weite, von Leibbinden zusammengehaltene Kleider gehüllt, viel sprechend und schreiend lagen und standen die Leute durch die ganze Gasse. Ein anderer Haufe ließ unzählige Male die Worte „Kurrat, sinna kurrat, kus kurrat“ hören, die ich, ehe ich ins Wirtshaus kam, schon recht gut behalten hatte und für eine Begrüßung hielt, die ich anzuwenden gedachte, am mich den Leuten freundlich gesinnt zu zeigen. Doch fragte ich gleich in der ersten Stunde den deutschen Gastwirt nach der Bedeutung, von dem ich erfuhr, dass es der gewöhnliche Ausruf der Esten bei Freud' und Leid und fast bei jeder Redensart sei, und „Teufel, du Teufel, wo Teufel“ bedeute; zur Begrüßung dagegen, sage man „Terre, Terre!“

Ich musste 10—12 Tage langweilig in Pernau zubringen, weil gerade der Herr von Freytag von Loringhoven, Besitzer des Gutes Owerlack im Kirchspiel Helmet, zum Jahrmarkt in Pernau war, in dessen Haus und Familie ich als Lehrer eintreten sollte. Die Zeit- und Ortsverhältnisse brachten es mit sich, dass von beiden Seiten, ohne sonderliche Furcht vor dem Gewagten, sich ohne gegenseitige Bekanntschaft auf ein, zwei und mehrere Jahre an einander zu binden, häufig solche Verbindlichkeiten eingegangen wurden, die auch meist zu gegenseitiger Zufriedenheit bestanden. Gutsbesitzer und Pastoren bedurften der Hauslehrer, denn es fehlte an öffentlichen Schulen, sowie an Lehrern; also verschrieb man diese aus Deutschland, größtenteils aus Leipzig und Jena, auch aus dem näheren Königsberg, und durch dieselben wurden gewöhnlich deren jüngere Bekannte nachgezogen, da man sich an sie wandte, wenn man eines Lehrers bedurfte. Die meisten von ihnen waren tüchtige und redliche Männer, an Fleiß und Ordnung gewöhnt, die daher auch wollten, dass viel gelernt werden sollte. Das wollte aber selten in dem Grade gelingen, als die Lehrer es erwarteten, weil besonders die Knaben zu viel Anteil an Jagd, Pferden, Fahren und Reiten nahmen, und die Eltern selbst gelehrtes Wissen für sehr entbehrlich hielten, da die Söhne meist zum Militär bestimmt waren, wo sie in damaliger Zeit schon für sehr gebildet galten, wenn sie nur die Elementarkenntnisse mitbrachten. Da die Lehrer unter diesen Umständen ihre Leistungen meistenteils selbst unbedeutend fanden, wenn auch die Eltern vollkommen zufrieden waren, so befand sich fast keiner in seiner Lage vollkommen wohl, und dabei entstand, ehe sie sich in die Verhältnisse schicken konnten, oft ein Wechsel der Stellen, bis sie sich daran gewöhnten, dass ihre Schüler nicht gerade Gelehrte werden sollten. Unstreitig trafen die jungen Männer nicht immer das rechte Maß; manche wurden auch selbst nachlässig und bequem, und schon damals wunderte ich mich, dass die Familienväter sich so viel gefallen ließen und der Sache nicht ein kurzes Ende machten. Wusste der Lehrer sich nur einigermaßen der Familie im Umgange angenehm zu machen, so war man leicht befriedigt, denn da er aus einem fremden Lande war und von fremden Sitten und Gebräuchen erzählen konnte, so hatte allerdings sein Leben in den Familien auf dem Lande etwas Anregendes; eine Vorliebe für Deutschland und deutsche Art und Sitte, die man in den russischen Ostseeländern tief eingewurzelt findet, wurde durch die ausländischen Lehrer genährt und gestärkt. Fast alle diese Lehrer wurden als Prediger, Lehrer, Advokaten, Gerichtspersonen (es waren viele Juristen unter den Hauslehrern) im Lande einheimisch, ja man zog sie wohl den Eingeborenen vor, weil man sie für arbeitsamer und für gründlicher in ihren Kenntnissen hielt. Nachdem später 15—20 Jahre lang die Universität Dorpat eine hinreichende Zahl Kandidaten aus den Eingeborenen geliefert hatte, standen diese den Ausländern nicht mehr nach, so wie auch früher tüchtige Männer unter den Eingeborenen gefunden wurden; sie waren aber gewöhnlich in Deutschland schon auf Gymnasien gründlich unterrichtet worden, ehe sie zur Universität abgingen.

                              (Fortsetzung)

000 Blick auf St. Peter und die reformierte Kirche in Riga

000 Blick auf St. Peter und die reformierte Kirche in Riga

001 Riga um 1650

001 Riga um 1650

002 Riga um 1570

002 Riga um 1570

003 A. v. Kotzebue. Die Huldigung Rigas am 10. Juli 1710

003 A. v. Kotzebue. Die Huldigung Rigas am 10. Juli 1710

004 Riga, Ansicht des Sandturmes von der Turmstraße her. (Nach einer Aufnahme des Architekten E. Kupffer.)

004 Riga, Ansicht des Sandturmes von der Turmstraße her. (Nach einer Aufnahme des Architekten E. Kupffer.)

005 Riga, Der ehemalige Wachtturm

005 Riga, Der ehemalige Wachtturm

006 Riga, Der Dom von Nordost

006 Riga, Der Dom von Nordost

011 Riga, Der Dom von Südwest

011 Riga, Der Dom von Südwest

038 Riga, Die Börse

038 Riga, Die Börse

037 Riga, Das Rathaus nach dem Umbau von 1850

037 Riga, Das Rathaus nach dem Umbau von 1850

039 Riga, Das erste Stadttheater

039 Riga, Das erste Stadttheater

041 Riga, Das städtische Kunstmuseum

041 Riga, Das städtische Kunstmuseum