Fortsetzung - 1800 -1803 Kokenhof bei Wolmar

Das Jahr 1800 brachte eine Veränderung in mein ganz vergnügliches wie auch einförmiges Leben. Ein zufälliges Missverständnis brachte mich auf den Entschluss, das Haus verlassen zu wollen, was man nicht erwartet und mit Empfindlichkeit aufgenommen hatte; nach näherer Erklärung fand es sich freilich, dass man sich von beiden Seiten nicht verstanden hatte, doch waren bereits Schritte geschehen, die nicht gut zurückgetan werden konnten; gleichwohl vergingen noch drei Vierteljahre, ehe ich das Haus wirklich verließ, und daraus ergab sich, dass dieser Trennung nichts Verletzendes vorausgegangen war, was Manche sich als notwendig gedacht hatten. Ich gewann dabei ein größeres Gehalt: es wurde mir nämlich, bei dem Mangel an Lehrern, das jetzt gesteigerte Gehalt von 300 Thlr. Alb = 400 Thlr. sächs. angeboten, während ich bisher in Neu-Laitzen erst 200, später 240 Thr. Alb. gehabt hatte.

So kam ich dann im August 1800 nach Kokenhof bei Wolmar, 15 Meilen von Riga, in die Familie Anborn von Hartwigs, wo ich bis zum Mai 1803 blieb.


Hier hatte ich bloß einen Knaben von 7 — 8 Jahren und seine Schwester von etwa 13 Jahren zu unterrichten. Der Knabe war bisher bloß im Zimmer seiner Mutter, die dasselbe nie verließ, aufgewachsen, hatte von den älteren Schwestern und der Mutter den ersten Unterricht gehabt und, da er regen Geistes war, durch eigenes Lesen unglaublich viel gelernt. Er kannte Schrökhs Weltgeschichte für die Jugend, 6— 7 Bände, die er drei Mal gelesen hatte, aufs Genaueste und schrieb fast ganz fehlerfrei. Sein Gedächtnis war so vortrefflich, dass er des Auswendiglernens fast gar nicht bedurfte. Französische Wörter behielt er, wenn er beim mündlichen Übersetzen die Bedeutung gehört und beim schriftlichen Übersetzen sich eingeprägt hatte, vollkommen.

Ein solcher Schüler machte natürlich keine Mühe, der Unterricht war eine angenehme Unterhaltung. Die seit ihrem 5. Jahre gelähmte kränkliche Schwester des Knaben war nicht unfähig, doch durfte man ihres leidenden Zustandes wegen keine großen Anforderungen an sie machen; es schien, als wenn sie überhaupt nicht lange leben würde, was Jedoch anders kam, denn sie hat ein hohes Alter erreicht, obwohl fortwährend kränklich. Da außer den Schulstunden der Knabe im Zimmer der Mutter, seine Schwester bei den ihrigen war, so behielt ich viel Zeit ungestört für mich, die ich auf das Lesen bedeutender Schriftwerke verwandte. Der älteste Sohn, 10 Jahre älter als sein Bruder und 10 Jahre jünger als ich (18 Jahre alt), sollte zwar einige Vorbereitung zur Universität bei mir empfangen, hielt aber nicht lange aus. Das Naturrecht war ihm zu trocken, auch die Institutiones juris sagten ihm nicht zu, also richtete er es bald so ein, dass er zu der festgesetzten Stunde ausritt oder irgend etwas Anderes vornahm. Er war literarisch gebildeter, als junge Leute in diesem Alter gewöhnlich zu sein pflegen; seine metrischen Übersetzungen aus dem Ovid waren vortrefflich, mit unermüdlicher Geduld konnte er an einigen Versen stundenlang feilen, ehe er sich selbst genügte; seine Belesenheit in der schönen Literatur, der deutschen und französischen, war überraschend. Er hatte früh zwei vortreffliche Lehrer nach einander gehabt, darauf in Riga seine Studien fortgesetzt und glaubte, dass er sich nun selbständig zeigen müsse, als ein Mann, der sich selbst fortzuhelfen weiß. Daher setzte er sich mit mir auf den Fuß der Gleichheit, wir wurden und blieben stets gute Freunde. Im Jahr 1801, nach des Kaiser Pauls Tode, wurde das Reisen ins Ausland wieder erlaubt, und nun ging er mit dem älteren Baron Boye, sowie viele Andere, nach Jena auf die Universität, später nach Göttingen, machte Reisen und kehrte 1806 zurück. Vier ältere Schwestern als er und zwei jüngere außer dem Bruder waren im Hause; diese älteren waren alle von viel höherer Bildung als gewöhnlich, und daher von manchen Ihresgleichen teils gefürchtet, teils beneidet. Sie folgten der damals herrschenden sentimentalen Richtung gegen welche ihre Tanten Katharina und Lisette v. Hartwiss und deren Schwester, verwitwete Generalin du Bosquêt, die den Sommer von Riga wegzog; und ihn auf dem Lande zubrachte, nicht gleiche Neigung hegten; ihnen galt Wieland am meisten und fast allein, und Voltaire mehr als Rousseau. Diese Verschiedenheiten ließen es zu keiner rechten Harmonie in Herz und Sinn kommen. Die Tanten tadelten zu viel, und die Nichten waren nicht fügsam.

Es war ein neuer Abschnitt in meinem Leben. In des Baron Wolffs Familie blieb mir für mein eigenes Fortschreiten wenig Zeit übrig, da ich die Knaben Tag und Nacht um mich hatte; in Kokenhof schien es mir dagegen, dass ich zu wenig zu tun hätte für das Geld, das ich erhielt, und ich ging schon mit dem Gedanken am, statt 300 Thlr. Alb. nur 250 annehmen zu wollen. Glücklicherweise redete mir die Baronin Boye dies aus dem Sinn. Das wird Niemandem von der Familie etwas helfen, sagte sie. Es ist besser, Sie nehmen es und wenden es den Ihrigen zu, als dass der Herr von Hartwiss in Riga nur 50 oder 100 Thlr. mehr verspielt.

In der Nähe von Wolmar lebte auf seinem Gute Kaugershof der Graf Mengden, dessen Mutter eine Gräfin Solms aus Sachsen war, wo er auch erzogen worden. Dieser Mann war, wie seine bis ins hohe Alter rasche, heitere und geistvolle Mutter, von vielseitiger Bildung und herzlichem Humor und ganz frei von den gewöhnlichen Standesvorurteilen. Es bildete sich nach und nach ein wirklich freundschaftliches Verhältnis zwischen uns. Er starb 1812 in Riga am Nervenfieber zu der Zeit, als das französische Heer die Grenzen betrat. Schon lange hatte ihm Napoleons Streben nach der Herrschaft über Europa den tiefsten Kummer gemacht, seine ganze Seele war von Abscheu gegen dessen unersättliche Herrschsucht erfüllt.

In der kleinen Stadt Wolmar, 1 Stande von Kokenhof, lebte ein geschätzter Arzt Dr. Walter mit einer zahlreichen Familie. Er lebte ganz seinem Berufe und achtete es wenig, wenn seine meist glücklichen Bemühungen nicht nach Gebühr vergolten wurden, dabei waren und blieben seine Vermögensumstände knapp. Er starb 1807, nur 51 oder 52 Jahre alt, und hinterließ 6 Söhne und 4 Töchter. Sie waren sämtlich von höherem Wuchs und größerer Stärke als gewöhnlich, aber auch mit der von beiden Eltern vererbten Anlage zu Gicht und Leberkrankheit geboren, doch von ausgezeichneten Geistesgaben und merkwürdiger Charakterstärke, ebenso die 4 Sehwestern, von denen 3 als Hausfrauen und Mütter, und die vierte als stets bereite Helferin in der Familie viel Gutes wirkten. Noch (1847) leben zwei der Brüder, der ältere als Professor der Entbindungskunst in Dorpat, der andere als Pastor in Wolmar und Assessor des Generalkonsistoriums in Petersburg, jeder von ausgezeichneter Wirksamkeit.

Auf dem großen Gute Wolmarshof — nahe bei Wolmar — lebte die reiche Familie Löwenstern; um sie sammelte sich im Sommer ein Schwärm von Gästen, 3 — 4 Monate lang ohne Unterbrechung; viele behielten selbst wochenlang ihre Pferde und Equipagen in Wolmarshof; täglich war das Haus ein offener unentgeltlicher Gasthof, die Kosten also nicht gering und die Sorge, so viele Menschen gesellig zu unterhalten, sehr mühevoll. Daher war ein Musikus, Maler oder wer sonst eine Gabe der Unterhaltung besaß, ein stets erwünschter, willkommener Gast. Die Last solcher Gastfreiheit war es wohl vorzüglich, die, als nach Pauls Regierung die Reisen ins Ausland wieder freigegeben wurden, zu dem Entschluss trieb, dass die ganze Familie 1802 oder 1803 nach Berlin und Dresden zog, wo sie, obwohl glänzend, doch wohlfeiler lebte, als zu Hause und wo sie viele Jahre verweilte.

(Schluss folgt.)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Erinnerungen 1804-1837