Fortsetzung - 1798 Neu-Laitzen

Im Januar 1798 traf ich dann in Neu-Laitzen ein. Das große Haus war so mit Gästen überfüllt, dass ich mit Mühe eine Schlafstelle fand. Alles war mir fremd, und in diesem Gewirre fand ich nach keinen Anknüpfungspunkt. Dr. Hesse wollte noch vier Wochen bleiben, um mich einrichten zu helfen. Die zwei ältesten Söhne reisten dann mit ihm bis Königsberg, wo sie bleiben mussten, denn auf eine entferntere Universität zu gehen, war schon verboten, und bald genug mussten alle russischen Untertanen zurückkehren. Dr. Hesse ging nach Jena, konnte schon nach zwei Jahren Dr. med. werden, ging darauf nach Konstantinopel, wo er in zwei Jahren sich viel verdient hatte, aber alles wieder verlor, da das Donauschiff, auf das er seine Habe in Waren geladen hatte, zu Grunde ging. Er hatte gehofft, diese Güter in Russland mit Vorteil wieder umsetzen zu können. Dieser Unfall nötigte ihn, Leibarzt in Jassy bei dem Hospodar der Wallachei zu werden, bei dem er auch zwei Jahre blieb und nach längerer lebensgefährlicher Krankheit ohne große Schätze nach Riga zurückkehrte, reich an Erfahrungen, die aber keine angenehmen Erinnerungen zurückgelassen hatten. Er lebte in Riga als geschützter Arzt und beliebter Gesellschafter und starb im Kriegsjahre 1812, als man unnötig und in großer Unordnung die Vorstadt abgebrannt hatte, wodurch großes Elend über Tausende kam. In Folge dieses elenden Zustandes trat das Nervenfieber auf, dem auch er wie viele Andere unterlag.

Als ich mein Geschäft in Neu-Laizen anfing, fand ich manches anders, als ich erwartet hatte. Allerdings waren die Schwestern der Baronin und sie selbst von ungewöhnlicher Bildung und wohlwollender Gesinnung; der Hausherr selbst war ein Mann von großer Ordnungsliebe, Tätigkeit, Gerechtigkeit und Milde gegen die Bauern; er war in Sachsen-Meiningen als Page erzogen, hatte sechs Jahre in Dresden bei der Garde gedient gedient und war mithin nicht durch frühe Gewöhnung gegen den traurigen Zustand der Leibeigenen abgestumpft, sowie er auch keine der Landjunker-Gewohnheiten kannte: er spielte nicht, hielt und besuchte keine Jagd; dieses Geschäft besorgte allein ein dazu angestellter Jäger, um die Tafel mit Wild zu versorgen. Nur auf gute Pferde hielt er viel, deren 20 bis 30 auf dem Stalle waren, die aber auch bei den vielen Reisen nötig waren, die er im Sommer zuweilen mit seiner ganzen zahlreichen Familie auf seine anderen Guter unternahm. Zu dieser wohlgeordneten Einrichtung schien es mir nun nicht recht zu passen, dass die Knaben — zuerst zwei, weiterhin noch ein dritter — im Unterricht sehr vernachlässigt waren; sie hatten an Dr. Hesses Unterricht keinen Teil gehabt, den nur die drei ältesten Söhne und zwei Tochter — die jüngere auch nur wenig — genossen hatten. Der dritte Sohn aus Hesses Schule, 14— 15 Jahre alt, wurde mein ältester Schüler und bedurfte besondere Lehrstunden, denn die jüngeren waren im Alter und noch mehr in den Kenntnissen zu weit hinter ihm zurück. Einige Lektionen hatte er mit seiner Schwester, die um etwa zwei Jahre jünger war, gemeinschaftlich. Die Stunden für diese beiden älteren Geschwister waren mir eine Erholung nach dem mühsamen Geschäft des Lesenlassens mit den jüngeren Knaben, denn nach zwei ganz entgegengesetzten, verkehrten Methoden waren die armen Knaben noch nicht dahin gekommen, dass sie nur leidlich hatten lesen können. Erst hatte die Mutter in der guten Meinung, dem künftigen Lehrer vorzuarbeiten, die Knaben aus Campes Robinson lesen lassen, aber so, dass sie selbst die Worte, mit dem Griffel darauf zeigend, aussprach und von den Knaben mitsprechen ließ. Dies wurde so oft wiederholt, bis sie mehrere Seiten ziemlich richtig scheinbar lasen, eigentlich aber nur auswendig hersagten, indem sie mit dem Griffel auf den Zeilen fortrückten. Die Mutter freute sich der Fortschritte, bis der Musiklehrer, der nun den Unterricht fortsetzen sollte, die traurige Entdeckung gemacht hatte, dass sie durchaus gar nicht lesen konnten, was sie nicht auswendig wussten. Um ihnen abzugewöhnen, bloß zu erraten, was ihre Worte etwa dastehen könnten, ließ er das letzte Wort auf jeder Seite zuerst lesen, und so immerfort von unten auf, bis er endlich auf der ersten Zeile bei dem ersten Worte ankam. Das Erraten hatten sie sich durch diese Methode allerdings abgewöhnt, dagegen aber die traurige Fertigkeit angenommen, jede Spur des Denkens von sich fern zu halten; eine vollständigere Leere an Gedanken konnte es nicht geben. Es brauchte viele Monate Zeit, um sie dahin zu bringen, dass sie im Stande waren, zu sagen, wovon in einem kurzen Satz von 6-8 Zeilen die Rede gewesen. Dagegen lernten sie französisch lesen, weil man es noch gar nicht vorgenommen hatte, in ganz kurzer Zeit, und machten auch im Übrigen genügende Portschritte. Die Eltern, auch die sehr zärtliche Mutter, hielt streng darauf, dass die Kinder gehorsam waren; wenn einem Knaben, wegen Unfleißes, verboten war, von mehr als einer Speise sich Mittags vorzunehmen (wobei er also nicht zu bangem brauchte), so sah die Mutter darauf, dass nicht durch heimliches Zustecken der Dienerschaft das Gebot des Lehrers vereitelt wurde. Auch durften die Kinder von den Dienstleuten, obwohl diese Leibeigene waren, nichts befehlsweise fordern; letztere waren darauf angewiesen, es dann gar nicht zu beachten, vielmehr mussten die Kinder um die Dienstleistung bitten und sich überhaupt nicht viel bedienen lassen, so wie es in Deutschland Gebrauch ist.


Unter den vielen Besuchen, die so oft eintrafen, war auch ein Mann, der an Gehalt wohl alle übertraf. Es war der Minister Baron Krüdener, damals vom Kaiser Paul als dänischer Gesandter abgerufen und außer Tätigkeit. Er lebte ungefähr ein Jahr auf dem seiner Gemahlin gehörigen Gut Kosse, mit seinem etwa 15jährigen, harthörigen Sohne, der später bei Gesandtschaften in Amerika und Europa gebraucht wurde, und dessen Lehrer, einem emigrierten französischen Grafen. Des Ministers Gemahlin, die Tochter des Geheimrats Vietinghof von Marienburg, lebte getrennt von ihm stets auf Reisen, dieselbe, welche später als Prophetin und Seligmacherin durch bergeversetzenden Glauben so bekannt wurde. Damals war es bloß die irdische Liebe, der sie sich mit aller Kraft ihres erfinderischen Geistes widmete. Ihr Roman „Valerie“, eine Nachahmung von Werters Leiden, der nur die Tiefe des Gemühtes und noch manches Andere fehlt — schildert sprechend die geistreiche Eitelkeit dieser Frau. Zuweilen trafen die Gatten zusammen, wie einmal in Riga, wo sie die froh Überraschte spielte und der Gesellschaft eine Scene ehelicher Eintracht gab. Dem Minister waren wissenschaftliche Studien Lebensbedürfnis; er las mir, da ich einmal mit meinem ältesten Schüler nach Kosse gefahren war, einen Teil einer Übersetzung von Ciceros Buch „De officiis“ vor, indem er mich bat, sie mit dem lateinischen Original zu vergleichen. Sie übertraf in Kürze und Kratt des Ausdruckes, wie es mir schien, die Übersetzung von Garve, die mir im Gedächtnis war. Bekanntlich glaubte Kaiser Paul, wie viele andere Herrscher, die französische Revolution ließe sich durch Gewalt der Waffen niederdrücken. Der Minister hatte aber die Überzeugung, sie werde ihren Weg durch ganz Europa machen, bis an die Grenzen von China, wie es denn auch unter anderen Namen geschehen ist. Er wurde wieder zum Dienst berufen, hat aber zuletzt als Gesandter in Berlin, mehrere Jahre später, sein Leben freiwillig geendigt.

Zu den wichtigeren Erfahrungen rechne ich, dass ich bei dem Geheimrat v. Vietinghof, Bruder der Frau v. Krüdener, in Marienburg bekannt wurde, eingeführt durch den Lehrer Cand. Petersen. Es war, wie man glaubte, das reichste und prächtigste Haus im Lande. Der Geheimrat besaß viele große Güter, hatte Deutschland, Italien, Frankreich durchreist, war ein Kenner und Verehrer von Kunstsachen, deren er zu hohem Preise eine Menge angeschafft hatte, besaß Sammlungen von Mineralien und Conchylien, von physikalischen Apparaten und verschiedenen Merkwürdigkeiten, und freute sich sehr, wenn er jemand fand, der sich dieses Alles von ihm erklären ließ und wirklichen Anteil daran nahm. Er ermüdete nicht, mir einmal einige Stunden lang mit dem elektrischen Apparat viele sinnreiche Experimente vorzumachen; es war ein drückend heißer Sommertag, und der Schweiß floss ihm über das Gesicht, aber ihn beschwerte es nicht. Es sei ihm ein seltener Genuss, sagte er, jemand zu treffen, der Sinn für Wissen und Kunst zeige, alle seine Nachbarn wollten davon gar nichts wissen. Ich war seit dieser Zeit immer gern bei ihm gesehen und mit Zuvorkommenheit behandelt. Seine Eitelkeit, seinem ganzen Hauswesen den Anstrich eines regierenden Fürsten zu geben, führte ihn leider zu mancher unnützen Verschwendung, seine Kunstkenntnis und sein Geschmack wurden ihm wirklich verderblich. Er fing an, mancherlei Prachtgebäude aufzurichten, die zuweilen gar nicht beendigt wurden, weil er die Lust dazu verlor und wieder etwas Anderes anfing. Wesentliches, was wirklichen Nutzen gebracht hätte, wurde vernachlässigt; geschickte ausländische Handwerker und Künstler wusste er durch das Versprechen großen Lohnes herbeizuziehen, doch konnte er sie nicht lange beschäftigen und zahlte den Lohn nicht pünktlich oder verkürzt aus, worauf sie bald davonzogen. Manche ließen sich in Dorpat oder als Landwirte nieder, wo sie der Stadt und dem Lande Nutzen und sich selbst ein gutes Auskommen verschafften. Dieser feingebildete Welt- und Hofmann, gewohnt und beflissen, sich Jedem angenehm zu zeigen, von großer Gabe der Unterhaltung und Fertigkeit im Erzählen (wobei man auf historische Treue aber nicht im Geringsten rechnen durfte), — dieser war in Beziehung zu seinen Bauern ein ganz anderes Wesen, da war er hart, durchaus despotisch und willkürlich, er verwandte größere Sorgfalt auf seine Haustiere als auf sie; daher lebten sie auch in großem Elend. In dieser Denkungsart waren ihm aber viele gleich, nur fiel sie bei ihm, einem so kunstgebildeten Manne, mehr auf. Viel später, 1827, sah ich ihn in Dorpat wieder, wo ihn seinen zwei Töchtern Unterricht in der deutschen Literatur und Sprache gab, was deren Großmutter, die Fürstin Lieven (Erzieherin der Großfürstinnen und Freundin der Kaiserin Maria), ausdrücklich verlangt hatte, damit ihre Enkelinnen deutsch bleiben und nicht französisch werden sollten. Was für eine Verwüstung hatte die Zeit an diesem Manne ausgeübt! Dieser unermüdliche Erzähler und fertige Sprecher in mehreren Sprachen war durch den Schlaf auf einer Seite und auch an der Zunge gelähmt, er konnte mit aller Mühe nichts aussprechen, als die drei Silben: eins, zwei, drei. — Aber seine Mienen waren so ausdrucksvoll und das Gesicht so beweglich, dass man ihn doch in der Hauptsache verstehen konnte. Er erkannte mich nach so vielen Jahren gleich wieder, lud mich ein, mich neben ihn zu setzen, und er nahm Teil an dem, was ich ihm erzählte. Ein späterer Schlaganfall hatte ihn der Vernunft völlig beraubt und ihm nur das tierische Leben, das nach Nahrung strebt, übrig gelassen. So ist er auch gestorben.

Nie, glaube ich, durch meinen Unterricht so viel bewirkt zu haben, als bei der älteren dieser beiden Fräulein Vietinghof. Sie kannte von der ganzen deutschen Literatur nichts als etwas von der Bibel und verschiedene Lieder aus dem Gesangbuch, schrieb aber das Deutsche viel besser und richtiger als man hätte erwarten sollen, aber sie hatte viel französisch gelesen, war geübt im Denken und sonst gut und gründlich unterrichtet. Die deutsche Sprache hatten beide bloß durch den Umgang geübt, und zum Glück, durch den Umgang mit gebildeten Personen. Einige Sammlungen aus deutschen Schriften waren ihr für ihre Wissbegierde nicht genug, sie wollte ganze Werke. Ohne noch recht zu wissen, welche Richtung ihr Geschmack hätte und wie weit ihr Verständnis der deutschen Sprache reichte, gab ich ihr den historischen Roman von Benedicte Naubert, geb. Erbenstreit, der von Mädchen immer sehr begierig gelesen wurde: Thekla von Thum. Sie hatte sich von dem Buche nicht trennen können, und tief in die Nacht hinein gelesen, wusste auch einen vollständigen Bericht darüber zu erstatten.

Schillers Gedichte erschlossen ihr eine neue Welt, sie hatte nie eine Ahnung von solchem geistigen Leben gehabt. Ich musste auf Vorstellung der Mutter dem Eifer Einhalt tun, weil sie sich fast ganz den Schlaf entzog. Zuletzt las ich mit ihr Hermann und Dorothea, und auch auf dieses anmutige Gedicht, voll des innigsten Seelenlebens, wusste sie einzugehen. Sie war etwa 16 oder 17 Jahre alt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Erinnerungen 1804-1837