Fortsetzung - 1797 Neu-Laitzen

Im Herbst 1797 vermittelte Zangen, dass ich der Familie des Baron Wolff in Neu-Laitzen bekannt wurde, wo ein Lehrer, Dr. Hesse aus Erfurt, das Haus verließ, um in Jena Medizin zu studieren und dann wiederzukommen. Er war dieser Familie mit unbegrenzter Verehrung ergeben und besaß alle Gaben, sich ihr angenehm zu machen. Er verstand Feste anzuordnen, bei Familienfeierlichkeiten Zimmerverzierungen vorzurichten, war ein heiterer Erzähler, zuweilen bis zum Possenhaften, beschäftigte sieh viel mit physikalischen Experimenten und hatte Ausdauer genug, zwei vom Schlage gelähmte Menschen mit Elektrizität zu behandeln, was auch gelang; sie wurden hergestellt. Seine Selbstbeherrschung war außerordentlich; er vermochte es, auch wenn er Kummer und Unmut im Herzen und (was selten geschah) diese Gefühle vertraulich ausgesprochen hatte, unmittelbar darauf in der Gesellschaft heiter und lustig zu erscheinen und Andere froh zu stimmen. In einem Hause, wo so oft zahlreicher Besuch war, mussten solche Eigenschaften notwendig Anerkennung finden; ohne ihn fehlte es am rechten Leben. Drei Schwestern der Baronin (aus Brüssel gebürtig und in Dresden erzogen, Tochter eines Oberstleutnant v. Jallois) besaßen französische Leichtigkeit und Anmut, verbunden mit deutscher Offenheit und Herzlichkeit. Kein Wunder, dass dieses Haus in weitem Umkreise der Glanzpunkt feiner Geselligkeit war. — Es war nicht leicht, der Nachfolger eines im die Gesellscbhaft so vielseitigen Mannes, wie Dr. Hesse, zu werden; dass ich ihm nachstand und ihm nie gleich werden wurde, fühlte ich klar und deutlich. Ich wurde aber doch zu seinem Nachfolger erkoren, vornehmlich durch Zangens Einfluss und Empfehlung: es blieb nur das unangenehme Geschäft übrig, mich von der Familie v. Freytag zu lösen. Mir schien es damals, als sei mein Wirken in dieser Familie von gar keinem Nutzen gewesen, weil die beiden Knaben von 9 und 11 Jahren, als sie mir übergeben wurden, sehr zurück waren: der jüngere konnte nicht einmal lesen und wusste weder die Zahl noch die Namen der Wochentage, und die 13jährige Tochter war unfleißig, kindisch und ungezogen. Zwar nahmen sie zu an Kenntnissen, aber nach meinen Wünschen und Erwartungen war es doch zu wenig: ich wollte so sichtbare Fortschritte, wie man sie bei geübteren und reiferen Schülern findet, und tat insofern ihnen und mir selbst Unrecht. Die Tochter heiratete später, nicht mehr ganz jung, einen Arzt und wurde eine gute, verständige Frau, starb aber nach einigen Jahren. Dass ich auf den zweiten Sohn von 18 Jahren, der aber nicht mein Schüler war, einen guten Einfluss hatte, diente mir zur Beruhigung. Dieser junge Mensch, nur 5 Jahre jünger als ich, war zum Militär von Geburt an bestimmt gewesen, und hatte also, wie es gewöhnlich war, bei allen vorigen Lehrern gar wenig gelernt. Aus dem Militärdienst wurde nichts, weil die als Kinder zur Garde eingeschriebenen Junker, deren einige Tausende waren, vom Kaiser Paul von der Dienstliste ausgestrichen wurden, da er die Kinderjahre nicht als Dienstjahre gelten ließ. Was sollte er nun anfangen? Er hatte Verstand und Geist genug, um zu fühlen, wie sehr es ihm an Bildung fehlte, und da wir einander im Alter nahe waren, ich auch gern auf seine Fragen antwortete, so hatte ich sein ganzes Herz gewonnen. Es erwachte in ihm ein brennender Eifer, sich bilden zu wollen. Da war schwer zu raten; auf Gelehrsamkeit konnte man es nicht anlegen; es blieb genug zu tun übrig, um nur gewöhnliche, allgemeine Bildung zu gewinnen. Ich unterstützte also bei seinem Vater seinen Wunsch, auf die Universität Leipzig zu gehen, weil ich durch seinen Eifer überzeugt war, dass es von Nutzen für ihn sein würde. Der Vater willigte auf mein Gutachten ein, denn er hatte ein großes Vertrauen zu meiner Einsicht und Aufrichtigkeit. Heinrich Freytag ging also mit einem Hrn. v. Helmersen, der in Ähnlicher Lage war, im Sommer oder im Frühjahr 1797 nach Leipzig und war so fleißig und wissbegierig, dass er in 16 Monaten mehr gelernt hatte, als viele seiner Landsleute in 3 Jahren. Er musste auf Pauls Befehl, wie alle im Ausland sich aufhaltenden russischen Untertanen, 1798 zurückkehren, hatte zu Hause Langeweile und fuhr deswegen nach Reval, wo russische Truppen für englische Subsidien nach Holland gegen die Franzosen eingeschifft wurden. Dort trat er als Junker in ein Infanterieregiment, das sogleich nach der Ausschiffung noch taumelnd ins Gefecht kam. Er wurde am Fuß durch einen Bajonettstich verwundet, doch nicht gefangen, kam nach England, wo er geheilt wurde, in 6 oder 9 Monaten englisch lernte und als Offizier, der einzige deutsche unter bloß russischen, mit dem Regimente nach Kurland zurückkehrte. Hier war er für den General, die Behörden und Einwohner eine unentbehrliche Person, denn weder der General noch sonst ein Offizier verstand deutsch, und in einer Provinz, wo Niemand damals russisch verstand, bedurfte man eines Vermittlers. Er war Fähnrich; es sollten aber nur Leutnants und Capitäne als Adjutanten angestellt werden. Auf des Generals Bericht, dass er nur einzig diesen Fähnrich habe, welcher als Adjutant zu brauchen sei, befahl der Kaiser, dass dieser Fähnrich hiermit zum Leutnant ernannt sei. Das russische Armeekops in Holland unter dem General Germann (einem ehemaligen Wittenberger Studenten, der Zuerst als Privatlehrer zu einem General nach Russland gekommen war — ein damals nicht seltener Fall) war geschlagen worden. Heinrich Freytag nahm 1801 oder 1802 seinen Abschied, um das väterliche Gut, das der Vater nicht mehr zu verwalten vermochte, zu übernehmen. Er wurde ein umsichtiger, tätiger Landwirt; ich sah ihn zuletzt 1812 in Dorpat, als er die Nachricht erhielt, dass sein Bruder Peter — der bessere Kopf von meinen beiden Schülern — in der Schlacht bei Borodino als Artillerieleutnant geblieben war. Er selbst starb 1818 an einem herrschenden Nervenlieber und hinterließ eine Witwe mit drei Söhnen.

Zum Januar 1798 war bestimmt, dass ich in Neu-Laitzen in der Familie des Baron Wolff eintreffen sollte. Da ich aber schon im Dezember Owerlack verließ, gewann ich Zeit, meinen Landsmann und Freund Ranft, der mein Nachbar gewesen und jetzt in Lindenhof bei Wenden Privatlehrer für drei fast ganz erwachsene Barone Boye war, zu besuchen. Die Baronin Boye, Witwe seit ungefähr 15 Jahren, hatte den Ruf einer höchst verständigen, charakterfesten Frau, die den herrschenden Vorurteilen sich ohne Furcht standhaft widersetzte. In ihrer Hauseinrichtung wurde der Mode nicht gehuldigt: die Tische waren von weißem Tannenholz, die Stühle ebenfalls, ganz schlicht; man stand früh auf, aß um 11 Uhr zu Mittag und um 7 Uhr zu Abend, und Jeder hatte sein angewiesenes Geschäft. Besuche des Adels liebte sie nicht, sie war selbst aus bürgerlicher Familie und hatte vor ihrer Heirat sich eine unabhängige Stellung durch Halten einer Privatschule in Riga zu schaffen gewusst. Die gehaltlosen Gespräche der adligen Gutsbesitzer, ihr willkürliches, oft gewalttätiges Verfahren gegen ihre Bauern waren ihr sehr zuwider, und darum blieb sie bei ihrer althergebrachten Lebensweise, um solchen Besuch, den sie nicht gern sah, zu entfernen. So lange ihre Söhne einen Lehrer nötig hatten, strömten andere Lehrer, Ausländer, wie zu einem Wallfahrtsort, oft nach Lindenhof; da fühlten sie sich frei von jedem Zwang, da konnten sie frei ihre Gedanken mittheilen, da fanden auch ihre zuweilen falschen Ansichten über Verhältnisse des Landes und der Zustände Berichtigung; an Erfahrung, auch oft an unparteiischem Urteil übertraf sie uns Alle; sie förderte uns in unserer eigenen Bildung, ohne dass wir es selbst merkten. Es war nicht möglich, mit mehr Geduld und Ruhe anmaßende Aussprüche und abgeschmackte Meinungen anzuhören, als sie es konnte. Sie ließ Jeden ausreden und fertig werden, widersprach nicht geradezu, sondern wusste auf Umwegen dahin zu führen, dass einer selbst die Unhaltbarkeit seiner Behauptungen einsehen musste. Gegen Tyrannei der Gutsherren sprach sie aber ohne Rückhalt und mit Nachdruck, und diese fürchteten sie. Mein Landsmann Ranft lag schon seit mehreren Wochen krank darnieder, als ich abends, völlig unbekannt, ankam. Sie hatte bisher täglich einige Stunden am Krankenbett zugebracht, um den Leidenden, der mehr an hypochondrischen Grillen als an einem bestimmten Übel litt, aufzuheitern, denn er war sonst ein ganz vorzüglicher Mann, dessen wohltätigen Einfluss auf ihre Söhne sie hoch anschlug. Als sie nun hörte, dass er mich gern um sich haben wollte, wurde ich ihr darum lieb, denn stundenlang den hypochondrischen Kranken zu unterhalten, war ihr bei aller Hingebung doch zuweilen beschwerlich gefallen; nun konnte ich sie ablösen. Andere Personen mochte der Kranke nicht gern um sich sehen. Ich blieb vier Wochen in Lindenhof und wurde so vertraut, als wenn ich zur Familie gehörte. Die Söhne waren Feuerköpfe, am allermeisten der älteste, ich habe seines Gleichen nie wieder gesehen. Unter seine Sonderbarkeiten, deren er viele hatte, gehörte auch diese, dass er sich gern das Ansehen gab, als sei er ein Lobredner jeder Tyrannei und Eigenmächtigkeit der Mächtigen gegen die Bedrückten. Eigentlich wollte er nur seinen inneren Abscheu dagegen verbergen und hatte seine Freude daran, durch seine Reden den Unwillen und Abscheu besonders des weiblichen Geschlechts gegen sich zu erregen. In dieser Zeit gab es immer Veranlassung zu solchen Äußerungen. Als das Reisen ins Ausland unter Alexander wieder erlaubt wurde, ging er 1801 nach Jena und Göttingen, wo er in drei Jahren mehr zu studieren die Absicht hatte, als er in fünfzehn hätte ausführen können. Auch England besuchte er; es war fast zu verwundern, dass er sich nicht noch früher aufrieb, was erst in seinem 29. Jahre geschah. Um dieselbe Zeit starb auch der dritte der Brüder, der ruhigste von allen, aber blinder Nachahmer des ältesten auch in seinen Unregelmäßigkeiten. Seit dieser Zeit mochte die Mutter keine neuen Bekanntschaften mehr machen, ich war die letzte gewesen und behielt auch ihr Vertrauen und ihre Zuneigung bis zu ihrem Tode. Der zweite Sohn übernahm das Gut, das er, wie er selbst sagte, strenger bewirtschaftete, denn die nicht überall hindringende Aufsicht der Mutter hatte manchem Unterschleif Raum verstattet. Die Bauern dieses Gates waren weit und breit damals die glücklichsten und genossen alles, was freie Leute haben können. Von dem ältesten der drei Brüder hatte der Generalsuperintendent Sonntag, der viele Jahre hindurch einige Wochen im Sommer in Lindenhof zubrachte, die Meinung, dass er, wenn er länger gelebt hatte, wahrscheinlich wahnsinnig geworden sein würde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Erinnerungen 1804-1837