Fortsetzung - 1796 Gut Owerlack im Kirchspiel Helmet

Mit dem Herrn Assessor v. Freytag machte ich die Reise von Pernau nach Owerlack. Er besuchte nahe am Wege einen Pastor Seeberg, gebürtig aus Weimar, der ein behagliches Leben führte, wie es ihm in der Heimat wohl nicht zu Teil geworden wäre. Auch auf einem anderen kleinen Gut kehrten wir ein: Haus und Gerät, sowie Alles war einfach und ländlich, die Aufnahme entgegenkommend und gastfrei. Die Wohnungen der Bauern, einzeln im Walde zerstreut, ohne Fenster und Schornstein, von aufgeschichteten Balken gebaut und mit bemoosten Strohdächern gedeckt, hielt ich anfangs nur für Scheunen und Ställe, es waren aber wirklich die Wohnungen der Menschen, die ich später auch von innen mit ihren schwarzen, fast verkohlten Wänden genauer kennen lernte.

Ich lernte nun eine neue Lebensweise kennen, die dem Hauslehrer eine ihm meist unbekannte Behaglichkeit darbot: für alle Bedürfnisse des Leibes und der Nahrung brauchte er nicht zu sorgen; Veranlassung zu entbehrlichen Ausgaben gab es auf dem Lande nicht; als Fahrer, Lehrer und Vorbild ihr die Kinder genoss er eine achtungsvolle Begegnung, und so war in den wichtigsten Beziehungen seine Lage glücklich zu nennen. Anders stand er aber, wenn man auf die Befriedigung der geistigen Bedürfnisse sah; da war nicht selten Jeder auf sich selbst beschränkt, denn wo, wie meistenteils, die ganze Richtung auf Gewinn und Genuss hinging, da fanden literarische Anliegen nicht viel Anklang. Hin und wieder fanden sich jedoch Gutsbesitzer von umfassenderer Bildung und Bestrebung, vorzüglich aber suchten Lehrer in der Umgegend einander auf, auch Pastoren und Beamte traf man, die einen weiteren Gesichtskreis hatten. Ästhetische und sittliche Bildung fand sich unter dem Adel im Allgemeinen mehr bei den Frauen, als bei den Männern, worin jedoch diese späterhin jenen nicht mehr nachstanden, da es schon zur guten Erziehung gerechnet wurde, in der Literatur nicht ganz unbekannt zu sein.


Ein fast immer zur Sprache kommender Gegenstand der Unterhaltung waren die betrübten Zustande der leibeigenen Bauern; sie waren unheilbringend nicht bloß für die Bauern, sondern auch für die Herren: in jenen wurde der Trieb zu freier Tätigkeit gänzlich erstickt, sie taten nicht mehr, als sie mussten, und verloren selbst die Fähigkeit durch eigenes Nachdenken ihren Zustand zu verbessern; die Herren dagegen fanden durch die Trägheit und Übelwilligkeit der Bauern ihre Willkür und gesetzlose Eigenmächtigkeit gerechtfertigt, und dies verderbte den Charakter beider. Der Bürgerstand, insofern er unbeteiligt war, nährte einen stillen Grimm gegen die Gewalthaber und eine Parteinahme für die Bedrückten. Anders stand es aber mit den bürgerlichen Wirtschaftern, Buchhaltern, Pächtern (Arrendatoren) und allen, die irgend wie über Bauern zu gebieten hatten: sie waren gewöhnlich härter und willkürlicher als die Herren selbst.

Eine richtige Einsicht und das rechte Gefühl fehlte den Gewaltbesitzern in der Regel keineswegs; sie tadelten mit großer Freimütigkeit die Willkür, Härte und Unbilligkeit ihrer Nachbarn, und ich fand bald, dass Seume, den ich 1796 in Leipzig aber Livland befragte und der als Offizier in Riga gelebt und dort viele Bekannte besaß, gar sehr Recht hatte, als er sagte: Man ist auf dem Lande sehr gastfrei und zuvorkommend; Jeder medisiert gern über seine Nachbarn und jeder hat Recht. Dass viel weniger Schlimmes geschah, als ungestraft hatte geschehen können (denn Gesetze konnten leicht genug umgangen werden), kam nicht allein von dem wohlverstandenen Vorteil, der dem Gutsherrn aus einer billigen Behandlung der Bauern erwächst, sondern eben so sehr aus einer im Allgemeinen humaneren Gesinnung. Ein Tyrann der Bauern wurde nämlich von seinen Standesgenossen verachtet, wenn auch äußerlich Rücksichten der Höflichkeit beobachtet wurden. Dieses unglückliche Verhältnis der Bauern, dessen Anblick man nicht ausweichen konnte, trübte die Zufriedenheit derer, die nicht früh dagegen abgestumpft waren, oft schmerzlich und erfüllte das Gemüht mit Bitterkeit. Natürlich bekämpften die Lehrer ihren Schülern gegenüber die Meinung von der Rechtmäßigkeit der Leibeigenschaft, und ohne Zweifel trug' dieses viel dazu bei, andere Ansichten in dem jüngeren Geschlecht darüber zu verbreiten; sprechender und nachdrücklicher war aber die Lehre, die man gern oder ungern aus der französischen Revolution ziehen musste. Auch der Gedankenlose musste aufmerksam darauf werden, wohin endlich fortgesetztes Unrecht führt; alle fühlten, dass auch einmal die Reihe an sie kommen könnte.

Ein halbes Jahr nach meinem Eintritt in dieses Land und dieses Haus traf mich ein großer Unfall. Die ganze Familie und ich mit, reiste zu den Weihnachtsfeiertagen auf ein Gut etwa 15 Meilen nach Riga zu, zu einer Verwandten. Zu Hause hatte man angeordnet, dass die Zimmer einen Tag um den anderen geheizt werden sollten, damit die Wände nicht kalt und feucht würden. Dies war in solchem Übermaß geschehen, dass die Öfen auch an den Tagen, wo nicht geheizt war, eine Hitze ausströmten, die auf drei Schritt weit unleidlich war, wie ein Bekannter, der übernachtet hatte, es selbst gefunden. Es war also begreiflich, dass ein Balken, auf dem der Schornstein ruhte, sich entzünden konnte, wodurch das ganze Haus in Feuer aufging. Das Löschen, bei bedeutender Kälte, würde nicht geholfen haben; die Bauern machten in solchen Fällen aber auch nicht einmal einen Versuch dazu, weil sie es für eine Fügung Gottes hielten, der man nicht widerstreben könne. Die Dienstleute im Hofe hatten aber doch fast alle Sachen in den Zimmern der Herrschaft und selbst vom Boden gerettet, nur um mein entfernteres Zimmer hatten sie sich nicht bekümmert, und so hatte ich Alles verloren, was ich besessen hatte, Kleidungsstücke, für die ich dem Leipziger Schneider ungefähr 100 Thlr. schuldig war, Bücher, Noten, ein eben angeschafftes Klavier; kurz, ich behielt nichts übrig als die Kleider, die ich auf die Reise mitgenommen hatte und die französische Sprachlehre von Demengeon, die mir der Verfasser zum Andenken geschenkt hatte.

Als ich mit der Familie zurückkehrte, sahen wir zwei Meilen aus der Ferne das Feuer noch brennen; der Hausherr war einige Stunden früher angekommen und empfing uns laut jammernd an der Herberge, einem Nebengebäude, wo der Wirtschafter (Amtmann) und mehrere Dienstleute wohnten. Diese kindische Haltung gab der Hausfrau sogleich Fassung und festes, ruhiges Benehmen. Auch ich behielt Gleichmut, erst später stellte sich bitterer Verdruss ein, da es an allen Mitteln zum Unterricht fehlte, die zum Teil gar nicht zu erlangen waren, da bereits eine strenge Bücherzensur auf Pauls Befehl eingeführt war. Ich war in der Gegend fremd, doch hatte mein unverschuldetes Unglück Teilnahme erweckt: ich bekam verschiedene versiegelte Couverts ohne Namen mit eingelegten Banknoten, zusammen 200 Rhl; auch zwei Landsleute, Lehrer in demselben Kirchspiele, Hessen es sich nicht nehmen, der eine mit 50 Rbl., der andere mit 25 Rbl., meine Not zu mindern. Ich fand in der Folge Gelegenheit, beiden zwar nicht mit Geld, dessen sie nicht bedurften, aber durch Dienstleistungen zu vergelten, was sie dem jüngeren Freunde erwiesen hatten. Jene Geldbriefe kamen, wie ich erriet, aus dem Kirchspiele von drei verschiedenen Mitgliedern der Familie v. Anrep, die sämtlich Gutsbesitzer waren. In Sachsen wäre mit diesem Gelde mein Schaden ersetzt gewesen, aber dort freilich nicht. Ich schaffte mir also das Notwendigste an, mich damit tröstend, dass man wusste, ich war nicht so dürftig hingekommen.

Große Unbequemlichkeit in der Wohnung machte sich nach dem Brande des herrschaftlichen Hauses fühlbar. Die große Herberge musste zum Herrenhause erhoben werden, und ich musste mit zwei Schillern ein schlechtes Zimmer der kleinen Herberge beziehen und dort auch Schule halten. Der Eingang zu demselben führte durch das eben so schlechte Zimmer des Wirtschafters, meines ehemaligen Schuhmachers aus Bremen der von harmloser Gemütsart, aber dem Schnapstrinken zu sehr ergeben war. Die zwei Landsleute, deren Umgang für mich, den Unerfahrenen, so lehrreich gewesen war, verließen die Gegend, da ihr Erziehungsgeschäft in ihren Häusern beendigt war, und ich fühlte mich sehr verlassen. Ich wünschte lebhaft, meine Lage zu verändern. Dazu kam es auch am Schluss des Jahres 1797, also nach 10 Monaten meines Aufenthalts in diesem Hause. Ich hatte nämlich im Anfange dieses Jahres die Bekanntschaft eines Landsmannes aus Dresden, Zangen, gemacht. Er war Lehrer bei einem Major Palmstrauch in Kokenberg, drei Meilen von Owerlack. Dieser war weit herum bekannt und beliebt, und bei ihm kamen während des Sommers am Sonnabend und Sonntag oft drei, vier Lehrer aus der Umgegend zusammen. Er war ein lebendiger, kenntnisreicher und geistvoller kleiner Mann, der mit seiner Landes- und Personenkenntnis aus Neueren förderlich wurde. Wo er Einen nicht am rechten Platz sah, schaffte er Rat, ihn in eine angemessenere Stellung zu bringen. Mich führte zuerst bei der Familie Baron Wrangel in Turnusforst bei Walk ein. Da fühlte ich mich — das erste Mal in Livland — ganz einheimisch: ich bin, so lange ich dort gelebt habe, stets in freundlicher Beziehung mit allen Gliedern dieser Familie geblieben, habe sie aber fast alle überlebt Die Mutter war schon lange Witwe, sie war eine große Frau von männlichem, entschlossenem Charakter, stets zur Hilfe bereit und überall gesucht und willkommen. Sie wusste durch Geist und Verstand die Menschen leicht, wohin sie wollte, zu leiten. Besonders tätig und geschickt zeigte sie sich als Geburtshelferin; sie hatte diese Kunst fleißig studiert und wurde nicht bloß den Bauerfrauen, sondern auch anderen dadurch wohltätig. Sie und mit ihr eine der Töchter lernte später in wissenschaftlicher Weise von einem Professor der Geburtshilfe die Entbindungskunst. Von ihren Töchtern hatte den umfassendsten Geist die Älteste, Margarethe, damals, als ich sie kennen lernte, 25 Jahre alt, aber schon fest entschlossen, unverheiratet zu bleiben, wobei sie auch beharrte. Da sie mit sich über diesen Punkt völlig einig war, so fühlte und benahm sie sich gegen Männer vollkommen ungezwungen und frei, so dass sich leicht ein geschwisterliches Verhältnis anknüpfte, und wer dies zu schätzen wusste, der hütete sich wohl, es durch leidenschaftliche Annäherung zu stören. Mit seltenem Scharfblick durchschaute sie die Menschen, und keine der Schwachen blieb unbemerkt. Sie unterschied sich aber von anderen Scharfsehenden dadurch, dass sie trotz der Mängel und Schwächen, die sie bemerkte, die Menschen achtete und liebte; überhaupt war sie frei von Neid und Dünkel, sowie von krankhafter Empfindlichkeit. Diese schönen Eigenschaften waren, wenn man sie näher kennen lernte, nicht in solcher Vollkommenheit bloßes Geschenk der Natur, sondern ohne Zweifel durch Kampf und fortgesetztes Bewachen ihrer innersten Regungen erworben worden. Ihr ganz ähnlich war die nächste Schwester, Baronin Wrangel in Luhden bei Walk. Als Gattin und als Mutter einer Tochter war sie auf einen anderen Wirkungskreis angewiesen. Ihr Walten war überall mild, Uneiniges versöhnend und fremder Not abhelfend, ihr bloßer Anblick wirkte wunderbar auch auf ungeregelte und rohe Gemüter, ordnend und sänftigend. Diese Gemütsart vererbte sie auch auf ihre Tochter, die später wieder eine eben so musterhafte Frau wurde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Erinnerungen 1804-1837
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